Myanmar und der Kampf um die Demokratie

Das Militär in Myanmar hat Aung San Suu Kyi festgenommen. Die britische Zeitschrift Socialist Worker (Schwesternorganisation von Linkswende jetzt), wo der Bericht zuerst erschienen ist, betrachtet wie frühere Aufstände im Land verlaufen sind und fragt nach, wie Arbeiter den aktuellen Kampf gewinnen können. Übersetzung ins Deutsche von Matthias Bauer.
2. März 2021 |

Die Straßen sind zum Bersten gefüllt mit Demonstrant_innen. Parolen rufende Studentengruppen schlängeln sich mit improvisierten Bannern gegen die Militärregierung durch die Menge. Krankenhausmitarbeiter in weißen Kitteln stehen zwischen Mechanikern mit Helmen und vielen, vielen tausend anderen. Diese Szene könnte aus dem heutigen Myanmar sein – oder von Protesten, die das südostasiatische Land 2007, 1988 und zu vielen früheren Zeitpunkten im Griff hatten. Und jedes Mal war ihr Verhängnis die Illusion, dass Menschen aller Klassen dem Regime aus den gleichen Interessen entgegentreten würden.

Die großen Demonstrationswellen, die aktuell stattfinden, sind wieder voll von Arbeitern und Arbeiterinnen. Sie verkörpern die Chance mit einer Vergangenheit zu brechen, die erfüllt war von brutaler Unterdrückung, und neue revolutionäre Geschichte zu schreiben.
Aber um so eine Gelegenheit zu ergreifen, müssen gewöhnliche Leute ihre eigene Kraft entdecken, anstatt sich auf redegewandte Liberale zu verlassen. Die Proteste im August 1988 wurden von den Student_innen, die sie anführten, „8888“ genannt. Sie wurden durch einen scheinbar kleinen Vorfall ein paar Monate zuvor ausgelöst – ein Streit über Musik in einem Teegeschäft in Yangon.

Mord

Der Sohn eines niederrangigen Regierungvertreters erstach einen Studenten und das Militär versuchte es zu vertuschen. Aber Studenten – bereits aufgebracht über eine jahrelang bestehende Diktatur und wirtschaftliche Stagnation – gingen auf die Straße.
General Ne Wun, der das Regime seit 1962 führte, ließ die Studenten von der Polizei niederprügeln. Hunderte starben und tausende wurden verhaftet. Der Augenzeuge Bertil Lintner beschreibt eines dieser vielen Massaker: „Als wir einen Durchgang passierten, den wir die ‚Weiße Brücke‘ nannten, hielten wir schlagartig an. Stacheldrahtzaun war über die Straße vor uns gelegt worden. Dahinter konnten wir zu unserem Entsetzen bewaffnete Soldaten mit Sturmgewehren erkennen, welche sie auf uns gerichtet hatten“, erinnert er sich.

„Dann sahen wir hinter uns und erstarrten. Da waren hunderte von Lon Htein (polizeiliche Schlagtruppen) in Stahlhelmen und bewaffnet mit Knüppeln, Gewehren und Sicherheitsschilden… Ein Befehl erklang und die Lon Htein ging auf die Studenten los. Knüppel schwangen und Knochen brachen. Es gab Schreie und Stöhnen von Studenten, die blutend zu Boden gingen… Nach etwa einer Stunde war die Gewaltorgie vorbei. Leichen lagen in Blutlachen über die ganze Straße verteilt. Sogar die ‚Weiße Brücke‘ war jetzt rot gefärbt.“

Anstatt die Revolte zu ersticken, führte das jedoch dazu, dass sich ihr Arbeiter_innen und Fachkräfte anschlossen. Das Regime reagierte mit einem Konfrontationskurs. Im August ernannten sie General Sein Lwin, der den Angriff auf die Studenten angeführt hatte, als neuen Kopf des Regimes. Er rief umgehend das Kriegsrecht aus. Die folgenden Wochen waren geprägt von rasend schnellen Entwicklungen. Es gab riesige Proteste und einen Generalstreik, an dem sich mehrere Millionen Menschen beteiligten. Arbeiter gründeten Nachbarschaftskomitees und auf dem Land traten Bauern den Protesten bei. Es wurde zunehmend offensichtlich, dass Arbeiter_innen und Verarmte den Kampf für Demokratie mit wirtschaftlichen Forderungen nach besseren Löhnen und Lebensbedingungen verbanden. Für sie waren beide Anliegen untrennbar miteinander verbunden. Gruppen von Arbeiter_innen und Student_innen erstürmten Regierungsgebäude und waren dadurch kurz davor, das Regime endgültig zu beseitigen.

Aber am Höhepunkt der Proteste begannen sich Risse innerhalb der Bewegung zu bilden. Ein kleiner aber wichtiger Teil, bestehend aus Fachkräften der Mittelschicht, der die Führung der Bewegung darstellte, begann sich vor dem Potential in der eigenen Basis zu fürchten.
Sie wollten um jeden Preis die Fesseln des Regimes loswerden. Aber sie wollten, dass das neue Myanmar von ihresgleichen verwaltet werden würde, nicht von streikenden Straßenkämpfern aus den Slums.

Scheindemokratie

Diese Bessergestellten sahen keinen Widerspruch in einem scheinbar demokratischen System, das die Mehrheit der Bevölkerung in Armut hält. Aus solchen Berechnungen heraus trat Lwin schlussendlich zurück und ernannte einen zivilen Unterstützer als neuen Landesführer. Die Armee hoffte, dass durch die „respektable“ Führung der Demokratiebewegung die „wilderen“ Elemente in Schach gehalten werden könnten.

An diesem Punkt kam die bis dahin wenig beachtete Aung San Suu Kyi in den Mittelpunkt der Geschehnisse. Suu Kyi war die Tochter des ermordeten Aung San, welcher gegen die Briten gekämpft hatte und von den meisten als ‚Vater der Nation‘ angesehen wurde. Sie hatte in Oxford studiert, war mit einem Europäer verheiratet und hatte für die Vereinten Nationen gearbeitet. Nun gründete sie eine Oppositionspartei, die National League of Democracy (NLD), gemeinsam mit Armeeoffizieren im Ruhestand, die das Militärregime hassten. Die NLD sah Proteste als notwendig an, aber wollte sie nutzen um Parlamentswahlen durchzusetzen, jedoch keine radikalen Veränderungen. In ihrem schnellen Aufstieg zum Gesicht der Bewegung versuchte Suu Kyi die Partei auf Versöhnung statt Konfrontation auszurichten.

Bei einer riesigen Veranstaltung im späten August appellierte sie an die Menge „ihre Sympathie für die Armee nicht zu verlieren“ und bestand darauf, dass die Demokratie nur friedlich herbeigeführt werden könne. Aber die Ankunft von Suu Kyi brachte das Regime nur dazu, erneut die Opposition niederzuschlagen, inklusive ihr selbst. Die Versöhnungsversuche wurden als Schwäche gedeutet und mit unbeschreiblicher Gewalt vergolten. Truppen kehrten nach Yangon zurück und töteten jeden, dem sie begegneten. Sie metzelten unbewaffnete Zivilisten zu tausenden nieder und begangen Abscheulichkeiten, wie das lebendige Verbrennen von Protestführern. Viele derjenigen die flüchten konnten, darunter Suu Kyi, wurden später ins Gefängnis geworfen oder unter Hausarrest gestellt.

Die Arbeiterbewegung hatte einen kurzen Moment,  in dem sie die Initiative auf ihrer Seite halten konnte, aber dieser Moment war jetzt verloren. In den folgenden Jahren versuchte das Regime sich als demokratisch zu inszenieren. Begrenzte Wahlen wurden abgehalten und Reformen bewilligt, um die mehrheitlich negative internationale Meinung von sich zu verbessern.

Bewegung 2007

Steigende Treibstoffpreise führten 2007 zu kleineren Straßenprotesten, welche von den Studenten begierig aufgegriffen wurden.
Nachdem das Regime auf Demonstrant_innen feuern ließ, traten buddhistische Mönche der Bewegung bei. Bald breiteten sich die Proteste aus – um erneut den Sturz des Regimes zu fordern.

Die Mönche übernahmen die Führung der wiedererstarkten Bewegung und riefen in einem Statement zu Massenprotesten auf. Es lautete: „Wir erklären den bösen militärischen Despotismus, der Menschen jeglicher Herkunft, inklusive des Klerus, verarmt und verelendet, zum gemeinsamen Feind aller unserer Bürger.“ Zu diesem Zeitpunkt war der Rückhalt für Suu Kyi und ihre NLD deutlich stärker und die Möglichkeiten der Arbeiter_innen sehr beschränkt.

Die meisten dachten, dass das Militär sich bald der Demokratie werde beugen müssen. Aber die neuerwachte Protestkampagne wurde erneut von Armee und Polizei unterdrückt und erstarb wieder. Der Eingriff der USA in die Politik Myanmars half, die Bewegung zu ersticken. Die Administration von Barack Obama sah gewaltige strategische Vorzüge in einem Verbündeten gegen China, ihren größten ökonomischen Rivalen. Im Verlauf mehrerer Jahre gelang es dem Regime mit der NLD eine Einigung zu erzielen. Dies beinhaltete das Freilassen von Suu Kyi aus ihrem Hausarrest und Wahlen, in welchen dem Militär ein großer Anteil der Sitze zugesichert war. Auch für das liberale Bürgertum war das vorteilhaft.

In den späteren Wahlen 2015 gelang der NLD ein Erdrutschsieg und Suu Kyi wurde zur Premierministerin des Landes ernannt. Ihr gelang es schnell, sich mit der Armee zu arrangieren.

Klasse

Die neue Regierung und ihr Militär versuchten dem immer noch sehr lebendigen Ärger der Arbeiterklasse über ihre ökonomische Situation durch ethnischen Nationalismus beizukommen. Sie brachten Rassenkategorien aus der britischen Herrschaft zurück, welche schon das Armeeregime genutzt hatte, um gewissen Gruppen nur noch den Status eines „Nahestehenden Bürgers“ von Myanmar zu gewähren. Andere wurden noch stärker dämonisiert. Auf die Rohingya Muslime aus dem Rakhaingstaat hatten sie es besonders abgesehen. Die Armee attackierte ihre Dörfer und Städte – und schlug später diejenigen, die versuchten sich zu bewaffnen und zu wehren, nieder. Was folgte war eine ethnische Säuberungskampagne geprägt von Vergewaltigungen, Mord und dem Niederbrennen von Wohnstätten. Hunderttausende Rohingya wurden aus Myanmar ins benachbarte Bangladesh vertrieben und konnten bisher nicht heimkehren.

Heute sind wieder viele tausende Menschen auf den Straßen, nachdem die Suu Kyi Regierung von der Armee abgesetzt wurde. Es scheint, dass sogar die schwache Bedrohung, die sie darstellte, zu viel war. Die Generäle fürchten, die NLD könnte die Türen für eine radikalere Demokratiebewegung öffnen, die sie endgültig von den Hebeln der Macht entfernen könnte.

Die Lektion der vergangenen drei Jahrzehnte muss sein, dass Arbeiter_innen die Macht haben, Generäle zu stürzen. Sie können eine demokratische Gesellschaft aufbauen, die weit radikaler ist als alles, was Suu Kyi und ihre Anhänger anbieten oder sich vorstellen könnten.