Italien: Comebackdes politischen Massenstreiks
Seit dem Ende der 68er Bewegung sowie des roten Jahrzehnts in Italien (67-77) leben unsere Herrscher in der Illusion, dass sie die radikale Arbeiter:innenbewegung in der westlichen Welt dauerhaft beschädigt hätten. Die letzten Jahrzehnte waren von Erfolgen des neoliberalen Wirtschaftsmodells geprägt. Auch breite Teile der Linken verabschiedeten sich von der Arbeiter:innenklasse. Sie sei organisatorisch geschwächt, politisch konservativ und weder gewillt noch dazu in der Lage, echten Widerstand gegen den Kapitalismus aufzubauen. Akademiker:innen füllten Bibliotheken mit Behauptungen wie: „Es ist unmöglich, Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen zu organisieren.“ Die Phasen des politischen Streiks seien vorbei, bestenfalls würden Arbeiter:innen noch für höhere Löhne kämpfen. Die Vorstellung, dass Arbeiter:innen eines Landes für die Unterdrückten eines anderen Landes massenhaft streiken würden, erschien diesen Leuten so fremd, dass sie nicht mal versuchten, sie zu entkräften.
Doch die pseudomarxistischen Miesmacher hatten ihre Rechnung ohne das italienische Proletariat gemacht. Radikal linke Gewerkschaften wie si cobas oder das autonome Hafenarbeiter Kollektiv (CALP/USB) arbeiten seit Jahrzehnten daran, die migrantisch geprägten ökonomisch schlechter gestellten Teile der Arbeiter:innenklasse zu organisieren.
Erste Solidaritätsstreiks
Breite Teile der radikalen, wie reformistischen Linken argumentieren, man müsse sich entweder auf den ökonomischen oder den politischen Kampf konzentrieren. Also entweder wir kämpfen nur für „Brot und Butter“-Themen und ignorieren die kulturellen „woken“ Themen oder genau umgekehrt. Beide Strategien sind verkehrt und führen die Linke in eine Niederlage.
Si Cobas setzte in seiner Organierungskampagne auf eine Doppel-Strategie. Einerseits kämpften sie für höhere Löhne und ökonomische Forderungen, andererseits für politische Positionen: Gegen Militarismus und Rassismus, für Solidarität mit allen Minderheiten und Bewegungsfreiheit. Auch in den aktuellen Streiks zeigt sich diese Doppel-Strategie. Die Forderung nach der Beendigung der italienischen Unterstützung für Israel wird gepaart mit der ökonomischen Forderung nach höheren Löhnen.
Bereits am 17. November 2023 reagierte si-cobas auf den Aufruf palästinensischer Gewerkschaften nach Solidaritätsstreiks und der Blockade von Waffenlieferungen. Es kam zu ersten kleinen Solidaritätsaktionen. Am 23. Februar 2024 folgte dann der erste Sektoren-übergreifenden Solidaritätsstreik. Neben si-cobas beteiligten sich weitere unabhängige Basisgewerkschaften. Über 20.000 Arbeiter:innen streikten, 50.000 organisierten sich zu einer Massendemonstration in Mailand. Über den Frühling eskalierte die Solidaritätsbewegung mit spontanen Streiks und direkten Blockadeaktionen. Immer wieder gelang es, das Verschiffen von Waffen nach Israel zu verhindern. Teilweise mussten italienische Unternehmen, bspw. Iren-Mekorot (das italienische Pendant zu den Wiener Netzen) mit israelischen Unternehmen beenden, weil der Druck der Belegschaft so groß wurde.
Staatliche Repression
Der Staat reagierte mit Repression auf die Massenbewegung. Die Regierung plante ein neues Sicherheitsgesetz, welches bspw. bei der Blockade von Häfen mit Haftstrafen von bis zu 20 Jahren drohte. Dieser Schritt sowie die Tatsache, dass die gemäßigteren Arbeiter:innen auch ihre radikaleren Kolleg:innen enger kannten als „irgendwelche“ Aktivist:innen, führten dazu, dass sich Mitglieder der reformistischen Gewerkschaften in immer größerer Zahl gegen das Gesetz und für Palästina positionierten.
Die Mobilisierung am 5. Oktober wurde vom Staat verboten. Obwohl sich Führungsfiguren der palästinensischen Community – die der palästinensischen Autonomiebehörde nahestanden – gegen ein Brechen des Demoverbotes aussprachen, versuchte der radikale Teil der Bewegung trotzdem zu demonstrieren, und wurde dafür gnadenlos zusammengeschlagen. Auch wenn der Tag scheinbar in einer Niederlage endete, führte die Entschlossenheit dazu, dass sich auch Teile der parlamentarischen Linken entschlossener auf Seiten Palästinas und gegen das Gesetz positionierten. Am 20. Juni erreichte die Arbeiter:innenbewegung ihren nächsten Meilenstein. Diesmal waren es nicht mehr Basisgewerkschaften oder prekäre Schichten, sondern die Metallarbeiter:innen. Auf ihrem Protest für höhere Löhne wehten Palästinaflaggen und die 10.000 Menschen starke Demonstration verließ mit voller Absicht die angemeldete Route, um ein Zeichen gegen das Gesetz zu setzen.
Richtiger Moment
Trotz der Größe und Stärke der Bewegung steht Italien vor ähnlichen Problemen wie die Bewegung in Österreich. Auch dort spaltet sich die Linke an Fragen wie dem Ukrainekrieg, Trans-Rechten oder Faschismus. Doch genau im richtigen Moment legten sie ihre Streitpunkte beiseite und rafften sich zu einem vereinten Massenstreik zusammen. Riccardo Rudino und José Nivoi von der unabhängigen Basisgewerkschaft USB erklärten, falls die Gaza-Freiheit Flotte von Israel blockiert würde, dann würden sie „das gesamte Land lahmlegen“. Mit dem Gedanken: Wenn der Genozid weitergeht, „werden wir das ganze Land lahmlegen“, konnten sich alle linke Arbeiter:innen identifizieren. Der Massenstreik vom 22. September brachte diese Entwicklung auf den Punkt. Medien, Staat und Elite haben ihre Herrschaft über die öffentliche Meinung endgültig verloren. Nicht nur, dass die Arbeiter:innen den Lügen nicht mehr glauben, sie ziehen auch praktische Konsequenzen: Ohne uns funktioniert dieser Staat nicht und wenn der Staat gegen uns regiert, dann werden wir nicht mehr mitmachen.
Die Arbeiter:innen ziehen die praktische Konsequenz aus den Lügen der Herrschaft: Ohne uns funktioniert dieser Staat nicht und wenn der Staat gegen uns regiert, dann werden wir nichtmehr mitmachen.
Si cobas versucht diese Stimmung noch weiter zu politisieren: „Die Einheit muss unter den Arbeitern aufgebaut werden, nicht mit den Bossen, den zionistischen Bürgermeistern und jenen, die den Völkermord unterstützten und einstimmig für die von Italien geführte Marinemission ASPIDES im Roten Meer gegen den jemenitischen Widerstand stimmten.“ Mittlerweile ist die Stimmung innerhalb der italienischen Arbeiter:innenklasse so klar auf Seiten Palästinas, dass auch die größte gemäßigte Gewerkschaft CGIL ankündigt: Wenn Israel die Freiheitsflotte aufhält, dann beteiligen wir uns an einem unangekündigten Generalstreik.
Konsequenzen
Die österreichische Arbeiter:innenklasse steht vor dem Problem, dass ihre radikale Tradition durch Austrofaschismus und das Naziregime physisch stärker ausgerottet wurde als die italienische. Eine vergleichbare Gewerkschaftstradition gibt es aktuell nicht. Deshalb das Handtuch zu werfen, wäre lächerlich. Die erste Lehre muss sein, dass linke Politik kein Sprint, sondern ein Marathon ist. Si Cobas wurde 2010 gegründet und hatte nicht nur mit linken Miesmachern zu kämpfen, sondern auch mit tödlicher Repression. Immer wieder wurden streikende Arbeiter:innen durch Streikbrecher getötet – zuletzt 2021.
Die zweite muss sein, offensiv politisch Position zu beziehen, selbst wenn sich ein Großteil der Leute, die wir gewinnen wollen, anfangs von uns distanziert. Si cobas solidarisierte sich auch am 7. Oktober mit dem palästinensischen Widerstand, weil anti-koloniale Revolten legitim sind.
Die dritte muss sein, dass wenn sich die Stimmung ändert, wir offen sein sollten für Menschen, die anfangs nicht bei uns waren. Die italienischen Parteien genauso wie gemäßigten Gewerkschaften reagierten ähnlich schlecht wie die österreichischen auf den israelischen Angriff. Damit die Bewegung einen Unterschied ausmachen kann, braucht es die offiziellen Gewerkschaften. nicht nur die Unabhängigen.
Last but not least zeigt Italien, dass es möglich ist, ökonomische mit politischen Kämpfen zu verbinden – und vor allem, wie man das bewerkstelligt. Darum muss es auf lange Sicht auch in Österreich gehen.