Hitler und Stalin – Ein (un)möglicher Vergleich?

Wir hören die Argumente oft in unterschiedlichen Formen: Alles was ins Extreme geht, ist nicht gut! Wir sind weder links noch rechts! Die Islamisten und die FPÖ, beide sind schlimm, und die Linksextremen sind genauso arg! Die Totalitarismustheorien, die alles „Extreme“ ablehnen, fanden ihre Verbreitung als Keule gegen Linke und Antifaschist_innen.
12. September 2017 |

Die Ideen der Totalitarismus- und Extremismustheorien sind so weit verbreitet, weil sie zu einem Gedankengebäude gehören, das fast ein ganzes Jahrhundert alt ist. Im Prinzip stellen alle diese ­Theorien zwei Seiten gegenüber (mit verschiedenen Zwischenstufen) – die bürgerliche Demokratie und das totalitäre Regime, das sich auf extreme Parteien und die Anwendung extremer Gewalt und Ideologie stützt. Insbesondere werden in diesen Theorien das nationalsozialistische Regime und die stalinistische Diktatur mehr oder weniger gleichgesetzt. Ihren Durchbruch schafften die Theorien unmittelbar nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs.

Hitler und die Nazis ermordeten über sechs Millionen Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti, Homosexuelle, „Asoziale“ und politische Gegner_innen. Stalin ließ in der russischen Konterrevolution während der Säuberungen mindestens 10 Millionen Menschen durch Exekutionen, Deportationen und in Gulags ermorden (seriöse Schätzungen gehen mittlerweile von über 20 Millionen Menschen aus), wobei noch sechs bis acht Millionen Opfer durch die Hungerkatastrophe infolge der Zwangsindustrialisierung hinzugefügt werden müssen.

Angesichts dieser Schrecken lag der Schluss nahe, beide Regimes gleichzusetzen. Die Intention von rechten Totalitarismus-Theoretikern wie Zbigniew Brzezinski und Carl Joachim Friedrich war jedoch keine ehrliche geschichtliche Aufarbeitung – sie wollten den Horror beider Regimes nutzen, um jede Kritik am Kapitalismus zunichte zu machen. Die Versuchung für die Behauptung war groß, dass der Marxismus, die „bolschewistische Idee“ oder der Kampf für eine gerechtere Gesellschaft, automatisch im Gulag enden würde, immerhin präsentierte sich das staatskapitalistische Russland selbst als das „kommunistische Ideal“.

Verlorene Revolution

Die Russische Revolution von 1917 erkämpfte bis dahin nie dagewesene demokratische Errungenschaften in einem der rückständigsten Länder. Frauen erstritten das allgemeine Wahlrecht und wurden den Männern vor dem Gesetz gleichgestellt, Arbeiter_innen schufen demokratische Räte und kontrollierten die Produktion und die Staatsgeschäfte von unten, diskriminierende Gesetze gegen Schwule und Lesben wurden abgeschafft, Millionen Menschen beteiligten sich an den direkten demokratischen Prozessen. Revolutionäre Situationen gab es gleichzeitig in ganz Europa – in Deutschland, Österreich und Ungarn. Anders als in Russland verloren die Arbeiter_innen den Kampf hierzulande.

Bereits im russischen Bürgerkrieg und noch zu Lenins Lebzeiten wurden im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) erste Zwangsmaßnahmen gegen die Bauern, die Getreide horteten, durchgeführt, um Zeit zu gewinnen – immer in der Hoffnung, die Arbeiter_innen in Europa würden der Revolution zu Hilfe kommen. Das Ersticken der Revolution und von jeglicher Demokratie von unten als Folgen des Bürgerkriegs gegen vierzehn Invasionsarmeen des Westens waren die Voraussetzung dafür, dass Stalin seine Schreckensherrschaft etablieren konnte.

Das Scheitern der Revolution in Deutschland ermöglichte Stalins Konterrevolution und führte zur Idee vom „Sozialismus in einem Land“. Die brutale Industrialisierung des Landes hatte nichts mehr mit den ursprünglichen Ideen von Karl Marx, Rosa Luxemburg und Lenin zu tun. Bereits in den 1950er-Jahren, als die Totalitarismustheorien den Durchbruch schafften, erarbeiteten marxistische Theoretiker_innen eine eigene Theorie, die Russland als „bürokratischern Staatskapitalismus“ bezeichnete (siehe z.B. Tony Cliff, Staatskapitalismus in Russland, 1955).

Ursprünge

Italienische Antifaschist_innen prägten in den 1920er-Jahren erstmals den Begriff „Totalitarismus“, um die Merkmale des faschistischen Regimes von Benito Mussolini zu beschreiben. Die Faschisten beseitigten Schritt für Schritt die Demokratie zugunsten eines „totalitären Systems“, das alle Menschen erfassen und kontrollieren wollte. Der Sozialist Lelio Basso schrieb treffend, das Ziel des Faschismus sei, „alle unabhängigen und gegnerischen Bewegungen … unerbittlich zu zerstören“.

Schon damals wurde Mussolinis Faschismus von Liberalen wie Giovanni Amendola oder Konservativen wie Luigi Sturzo mit dem immer autoritärer agierenden Regime unter Josef Stalin in Russland verglichen, um die sozialistische Idee der Revolution zu diskreditieren. Auch in sozialdemokratischen Kreisen hielten derartige Vergleiche in den 1920er- und 1930er-Jahren Einzug, was zuerst als ehrliche Auseinandersetzung mit der Wandlung der Russischen Revolution unter Stalin (siehe z.B. Otto Bauers Aufsatz Das Gleichgewicht der Klassenkräfte, 1924), später zum Teil als Reaktion auf die Angriffe von Kommunist_innen, die Sozialdemokrat_innen als „Sozialfaschisten“ bezeichneten, verstanden werden kann.

Noch war die Totalitarismustheorie keine einheitlich zusammenhängende Theorie, diese sollte erst in den 1950er-Jahren formuliert werden. Doch bereits in diesen frühen Debatten wurde klar, dass die Argumente sich gut dazu eigneten, um gegen Linke und revolutionäre Sozialist_innen vorzugehen. Der Begriff „Totalitarismus“ war immer zugleich ein theoretischer wie politischer Kampfbegriff.

Friedrich und Brzezinski

Die einflussreichste „klassische“ Totalitarismustheorie im deutschen Sprachraum war die der Politikwissenschafter Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski. In ihrem Werk Totalitäre Diktatur (1956) kommen sie zu dem Schluss, „dass die faschistischen und kommunistischen Diktaturen in ihren wesentlichen Zügen gleich sind.“ Sie schreiben diesen Diktaturen spezielle Merkmale zu: Ideologie gegen „feindliche“ Klassen oder Rassen, Terror, Kommandowirtschaft, Einparteienstaat, Nachrichten- und Waffenmonopol.

Die Theorie von Brzezinski und Friedrich geriet in der Kommunismusforschung bald durch Entwicklungen, die in ihren Modellen nicht vorgesehen waren, ins Wanken, als sich der nach außen als „Monolith“ wirkende Ostblock innen wandelte – zum einen durch die Reduktion der Gulags und die Abschwächung des Terrors und Personenkults nach Stalins Tod 1953, zum anderen weil Jugoslawien, China und Rumänien den Führungsanspruch Moskaus in Frage stellten. Auf der anderen Seite widerlegten Nationalsozialismus- und Faschismusforscher_innen in den 1960er-Jahren die Anwendbarkeit der verkürzten Friedrichschen Theorie auf das Dritte Reich. Wesentliche Elemente fehlten – so war das Regime keineswegs ein monolithischer Block, sondern vielmehr durch komplexe, widerstreitende Interessen und Strukturen gekennzeichnet (siehe z.B. Martin Broszat, Das Dritte Reich, 1983).

Hannah Arendt

Ein wesentlich komplexeres Modell der Totalitarismustheorie, das bis heute in der Linken sehr einflussreich ist, wurde von Hannah Arendt in ihrem berühmten Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951, auf Deutsch 1955) beschrieben. Sie analysiert vor allem die Herrschaftsmechanismen und politischen Strukturen des deutschen Nationalsozialismus und des Stalinismus, die sie von anderen Formen des Faschismus – wie unter Franco in Spanien und anderer Militärdiktaturen unterscheidet.

Arendt bezeichnet beide Regime, Hitlerdeutschland und Stalins Sowjetunion, als „totalitäre Regime“ desselben Typus und gründet diese Beobachtung – wie schon Friedrich und Brzezinski – auf besonderen Merkmalen: Ideologie, Terror, fanatische Massenbewegungen und das Führerprinzip. Der biologische Rassismus der Nazis wäre nach Arendt dasselbe, wie die mechanistische Auslegung des „historischen Materialismus“ im Stalinismus, der den Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie als Naturnotwendigkeit sieht.

Historikerstreit 1986

Im sogenannten „Historikerstreit“ der 1980er-Jahren in Deutschland machte der einstige scharfe Kritiker der Totalitarismustheorie, Ernst Nolte, eine Kehrtwende und schlug eine Radikalisierung der Theorie vor und behauptete, der Holocaust wäre eine Reaktion der Nazis auf die Verbrechen des Stalinismus gewesen: „War nicht der ‚Archipel GULag‘ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ‚Klassenmord‘ der Bolschewiki das logische und faktische Prius [das Vorangegangene] des ‚Rassenmords‘ der Nationalsozialisten?“

Der nunmehrige Geschichtsrevisionist Nolte bewegte sich nahe der Holocaust-Leugnung. Nolte scheiterte in der Debatte vorerst, was dem Siegeszug der Theorie aber nicht aufhalten sollte. Die von ihm angekündigte Renaissance der Theorie setzte schließlich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein. Francis Fukuyama und andere Liberale verkündeten „das Ende der Geschichte“. Verschiedene rechte Theoretiker führten nun den Kampf offen gegen die Kommunist_innen und Sozialist_innen. Die „Faschismus-Keule“ sei deren letztes Aufgebot und stamme aus der „Mottenkiste der kommunistischen Propaganda“.

Kritik

Die Totalitarismus- und Extremismustheorien beschreiben mehr oder weniger alle Merkmale von totalitären Regimes. Es ist unbestritten, dass Stalin wie Hitler für die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte verantwortlich sind. Die Entstehung der beiden Regimes spielte sich allerdings unter völlig unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Umständen ab. Und das ist die große Schwäche der Totalitarismustheorien – sie ignorieren geschichtliche Entwicklungen.

Zahlreiche Marxist_innen und Linke wie Reinhard Kühnl (Formen bürgerlicher Herrschaft, 1971), Wolfgang Wippermann (Totalitarismustheorien, 1997) und Karl-Heinz Roth (Geschichtsrevisionismus, 1999) kritisierten die Totalitarismustheorien und argumentierten gegen eine Gleichsetzung von Stalinismus und Nationalsozialismus.

Die Totalitarismustheorie Hannah Arendts birgt zwei Gefahren (die gewissermaßen auch auf andere Modelle anwendbar sind). Erstens betrachtete sie die Merkmale der totalitären Regimes, die politische Herrschaft, abgekoppelt von der ökonomischen Entwicklung. Marxist_innen dagegen beziehen sich auf Friedrich Engels. Für ihn ist immer „die Produktion und Reproduktion des Lebens des wirklichen Lebens“, also die ökonomische Basis, das „bestimmende Moment in der Geschichte“ – wobei die politischen Formen des Klassenkampfes (also Herrschaftsform, Politik, Ideologie, Theorien) umgekehrt auf die Basis einwirken. Dass sich Arendt unter dem Eindruck der Gräuel der stalinistischen Säuberungen und der Schoah auf die politischen Strukturen konzentriert, darf nicht verwundern.

Damit verbunden ergibt sich zweitens die Gefahr, Regimes unabhängig von der geschichtlichen Entwicklung zu betrachten. Der Stalinismus ist das Ergebnis einer Konterrevolution von Bürokraten, die nach dem schrecklichen Bürgerkrieg und dem Ausbleiben der Revolution in Deutschland die russische Arbeiter- und Bauernrevolution von 1917 erstickte. Das nationalsozialistische Regime wiederum ist das Ergebnis einer jahrelangen tiefen wirtschaftlichen und politischen Krise mit einer Pattstellung zwischen Arbeiter_innenorganisationen und Faschismus, ehe Hitler die Macht eben von jenen Eliten ausgehändigt wurde, die ihn kurz zuvor noch als Kanzler ausgeschlossen hatten.