Anschlag in Halle: „Ich kenne ein Deutschland ohne Judenhass nicht“
Am Mittwoch, 9. Oktober wollte der Rechtsextremist Stephan Balliet am Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, ein Massaker in einer Synagoge in Halle (Sachsen-Anhalt) anrichten. Der Versuch, die Tür zur Synagoge, in der sich 51 Menschen befanden, aufzuschießen bzw. zu sprengen, scheiterte. Stattdessen erschoss er die 40-jährige Passantin Jana L., fuhr dann zu einem Döner-Imbiss und richtete dort den 20-jährigen Kevin Sch. hin. Bei seinem Fluchtversuch verletzte er zwei weitere Menschen schwer. Seine Tat streamte er live auf der Plattform Twitch. Wie der Attentäter von Christchurch verfasste Balliet ein Manifest, in dem er antisemitische Verschwörungstheorien verbreitete.
In mehreren Städten fanden in den darauffolgenden Tagen Gedenkveranstaltungen statt, in Halle versammelten sich über 2.000 Menschen. In Berlin rief das Bündnis Unteilbar am Sonntag, 13. Oktober zu einer Demonstration auf, an der sich etwa 15.000 Menschen beteiligten. Die Schlusskundgebung wurde an der Neuen Synagoge in Berlin-Mitte abgehalten.
Die etablierte Politik reagierte mit reinster Heuchelei. Bundespräsident Steinmeier meinte, „ein solcher Angriff auf eine voll besetzte jüdische Synagoge schien in Deutschland nicht mehr vorstellbar.“ Die Journalistin Linda Rachel Sabiers hingegen schreibt in der Süddeutschen Zeitung: „Ich kenne ein Deutschland ohne Judenhass nicht.“ Sie prangert an, dass sie nach dem Attentat ständig gefragt werde, wie sie sich jetzt „als Jüdin“ fühle. Sie fragt zurück: „Wie fühlst du dich denn?“ Für ein „Nie wieder“ sei es längst zu spät, jetzt komme es darauf an, gemeinsam den Kampf gegen Rechtsextremismus zu führen. „Ein Kampf, der damit beginnt, dass wir uns eingestehen, dass der Antisemitismus zwar die Juden meint, jedoch uns alle betrifft: Ausländer, Deutsche mit Migrationshintergrund, Feministinnen, Klimaschützer/innen und die LGBTQ-Gemeinde. Wir alle sollten uns fragen, wie wir uns fühlen. […] Ich würde mich besser fühlen, wenn Opfer nicht gegeneinander ausgespielt würden – wie es oft mit Juden und Muslimen passiert.“
Faschismus der AfD angreifen
Zu einer solch klaren Haltung sind die Politiker_innen offensichtlich nicht in der Lage. Steinmeier weiter: „Ich bin es leid, dass Rechtsextremismus offen das Wort geredet wird und diese Borniertheit klammheimliche Zustimmung findet. Ich sage es deutlich: Wer dafür auch nur einen Funken Verständnis aufbringt, der macht sich schuldig.“ Gleichzeitig wirft er jenen, die genau diese Worte in die Tat umsetzen, die Gefährdung der Meinungsfreiheit vor (mehr dazu im Artikel auf Seite 11).
Immerhin sehen mehrere Politiker_innen die AfD als „politischen Arm des Rechtsradikalismus“. Als Konsequenz schlagen sie aber lediglich harmlose Maßnahmen vor, wie gegen Hetze im Netz vorzugehen. Zwar ist das wichtig, aber das eigentliche Problem einer faschistischen Partei packen sie so nicht an. Außerdem werden die Rufe nach mehr Polizei laut. Natürlich muss die Frage gestellt werden, wieso die Synagogen nicht besser geschützt werden – immerhin forderte die jüdische Gemeinde in Halle das in den letzten Jahren mehrmals –, auf Dauer kann das jedoch nicht die Lösung sein. Erst kürzlich wurde ein rechtsextremes Netzwerk in Polizei und Bundeswehr bekannt, das Munition hortete, Todeslisten mit Namen linker Politiker_innen führte und in Chats antisemitische Videos und Hakenkreuze verbreitete.
Verharmlosung geht weiter
Es darf uns nicht verwundern, dass der Staat den Kampf gegen Rechtsextremismus nicht ernsthaft verfolgt. Erstens ist Rassismus in den Parteien der sogenannten bürgerlichen Mitte weit verbreitet, wie man am islamfeindlichen Narrativ in der Flüchtlingspolitik sieht. Zweitens haben sie wenig Interesse daran, rechte Umtriebe in der Polizei zu verfolgen. Schließlich sind es Polizisten, die ohne moralische Bedenken und gegebenenfalls mit Gewalt die Gesetze des Staats durchsetzen müssen, z.B. Flüchtlinge abschieben.
Es ist eine Illusion, zu glauben, dass der Anschlag in Halle etwas am Umgang mit Rechtsextremismus geändert hätte. Am 28. Oktober kam es in Berlin-Pankow erneut zu einem antisemitischen Angriff: ein 70-jähriger Mann wurde von einem Unbekannten judenfeindlich beschimpft und zusammengeschlagen. Groß thematisiert wurde der Angriff nicht – das fällt dann wohl unter Meinungsfreiheit.