Anthropozän, Kapitalozän, Treibhauskapitalismus: Wohin in der Klimadebatte?

Wir leben in einer neuen geologischen Epoche, dem Anthropozän, dem Zeitalter der Klimaerhitzung und kolossaler Umweltzerstörungen, der Ära des Menschen. Weil diese Phase mehrheitlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, im langen kapitalistischen Aufschwung und der anschließenden Globalisierung, angesiedelt wurde, haben Linke in durchaus willkommenen Diskussionen den alternativen Begriff Kapitalozän vorgeschlagen. Doch was verstehen Wissenschafter_innen überhaupt unter dem Anthropozän? Die Debatte könnte, nicht bloß in der radikalen Linken, fruchtbarer geführt werden, wenn sie sich auf die bestimmte Phase des Kapitalismus selbst, den Treibhauskapitalismus, konzentrieren würde.
22. September 2020 |

Das Anthropozän beschreibt im Rahmen der Erdsystemwissenschaft eine neue geologische Epoche, in der der Mensch zu einer Kraft geworden ist, die mit anderen „Naturkräften“ konkurriert. Diese Epoche markiert das Ende der klimatisch relativ stabilen Phase des Holozän (die letzten 12.000 Jahre), die die sesshafte Zivilisation, das heißt Ackerbau, Viehzucht und Vorratshaltung ermöglicht hat. Es steckt den Beginn einer instabilen Übergangsphase in einen neuen, noch unbestimmten Klimazustand der Erde ab. Das Erdsystem wird dabei von zwei wesentlichen, miteinander verschränkten Seiten betrachtet: den lebensnotwendigen Naturprozessen und verschiedenen gesellschaftlichen Trends. Das erste System besteht aus den biogeochemischen, Leben ermöglichenden Prozessen, wie dem globalen Kohlenstoffzyklus und ihren Planetaren Grenzen. Das zweite wird an den Aktivitäten der menschlichen Zivilisation wie dem Weltbruttosozialprodukt gemessen.

Der neugewählte Begriff Anthropozän (von altgriech. ánthropos für Mensch) war von Beginn an dem Vorwurf ausgesetzt, die Menschheit insgesamt würde für die planetare ökologische Krise verantwortlich gemacht. Manche Argumente in dieser Diskussion sind durchaus verständlich, wenn etwa Einzelne behaupten, die menschliche Natur wäre grundsätzlich pyromanisch und die Entdeckung des Feuers vor einer Million Jahren hätte bereits das Anthropozän eingeleitet. Elmar Altvater wies zu Recht darauf hin, dass das Anthropozän „nicht nur Erdformation, sondern auch Gesellschaftsformation“ ist, und zog daher den Begriff Kapitalozän für die geologische Epoche vor. Andreas Malm polemisierte in seinem bahnbrechenden Buch Fossil Capital (2016) gegen das Anthropozän und trat gleichfalls für den Ausdruck Kapitalozän ein. Die Interventionen waren prinzipiell willkommen und wurden auch in den Naturwissenschaften gehört. Aber waren das wirklich neue Entdeckungen? Oder einfach nur Missverständnisse?

Soziale Ursachen

In der Erdsystemwissenschaft arbeiten Wissenschafter_innen seit Jahrzehnten verstärkt interdisziplinär zusammen. Auch die Geistes- und Sozialwissenschaften bringen sich seit Jahren in die Diskussionen um die gesellschaftlichen Ursachen des Anthropozän ein. 2016 gipfelten diese Debatten in einem gemeinsamen „Aufruf zur Zusammenarbeit“ führender Natur- und Sozialwissenschafter_innen, darunter einer der Pioniere der Anthropozän-Theorie, Will Steffen. Darin heben sie die rasante Entwicklung der Forschung hervor, verweisen insbesondere auf ein „besseres Verständnis der sozialen und wirtschaftlichen Triebkräfte der Treibhausgasemissionen“ und zählen dabei auch antikapitalistische, ökosozialistische Ansätze auf. Allerdings müssten diese Fortschritte, schreiben sie, nun „mit einem tieferen Verständnis der komplexen Funktionsweise des Zusammenhangs zwischen regionalen und globalen politischen Wirtschaftsprozessen einhergehen, die dem globalen Wandel und den Entwicklungspfaden im Anthropozän zugrunde lagen“.

In den wissenschaftlichen Debatten zum Anthropozän – der Begriff hat sich für das übergeordnete, zusammengesetzte System aus Natur- und Gesellschaftsformation durchgesetzt – wäre daher für die revolutionäre Linke zunächst ein tieferes Verständnis der Gesellschaftsformation selbst, des qualitativ neuen Stadiums des Kapitalismus, für das ich den Begriff Treibhauskapitalismus vorschlagen möchte, zu liefern. Diese neue Phase beschreibt die Ära des Kapitalismus nach 1950 zu Zeiten des Langen Aufschwungs und der Globalisierung. In ihr wurden der Reihe nach essentielle Stoffwechselkreisläufe zwischen Mensch und Natur, wie der globale Kohlenstoffzyklus, gebrochen. Altvater verwies unter Bezug auf die ökosozialistische Tradition um John Bellamy Foster in den Vereinigten Staaten, dass dieser ökologische Bruch durch den tiefen gesellschaftlichen Wandel nach 1950 „heute tiefer denn je und kaum noch heilbar“ ist. Foster schrieb bereits in The Vulnerable Planet (1994) ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von „einer qualitativen Transformation des Ausmaßes der menschlichen Zerstörungskraft“.

Treibhauskapitalismus

Marx und Engels beschrieben die charakteristische Ausbeutung der Lohnarbeit im Kapitalismus und proklamierten in Konsequenz berühmterweise im Kommunistischen Manifest: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Lenin fügte die unterdrückten Völker und Minderheiten hinzu: „Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker, vereinigt euch!“ Er erkannte, dass die kapitalistische Entwicklung um die Wende ins 20. Jahrhundert mit immer größeren, über Landesgrenzen hinweg operierenden Firmen zu einer neuen Phase des Kapitalismus, des Imperialismus führte: Neue, schon immer latent vorhandene Konflikte wie Kriege, Kolonialismus, Nationalismus und Rassismus traten in eine neue Qualität über und gesellten sich zur Ausbeutung und riefen zugleich neue Gegenbewegungen hervor.

Die ökologischen Brüche zwischen Mensch und Natur schwelten gleichermaßen schon immer in der Logik der kapitalistischen Produktionsweise. Sie führten im 19. Jahrhundert zu ersten größeren Umweltproblemen wie der Verarmung der landwirtschaftlichen Böden und der mit ihr verbundenen Verschmutzung der Städte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist dieser Konflikt zwischen Kapitalismus und Natur gleichfalls in einen neuen Zustand übergegangen, der jüngsten Phase des imperialistischen Kapitalismus, indem er die relativ stabilen Bedingungen, die die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft in den letzten 12.000 Jahren ermöglich hat, selbst untergräbt.

Theoretisch könnte die Grenze, ab der wir vom Treibhauskapitalismus sprechen, an jenem Punkt in der Dialektik zwischen Mensch und Natur gefasst werden, an dem die fossile Wirtschaft ein qualitativ neues, planetares Ausmaß der Zerstörung erreicht hat. Genauer an jenem Punkt, an dem die Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft (das bisher stabile Erdsystem) selbst unterminiert und die Planetaren Grenzen (insbesondere der CO2-Konzentration der Atmosphäre) überschritten werden. An diesem Punkt ist die Erde in eine instabile geologische Phase eingetreten, das Anthropozän, das in ein qualitativ neues Klimaregime führen könnte.

Neuer Widerstand

Diese neue Phase fällt nicht zufällig, wie Foster bemerkt hat, mit der Entstehung der modernen Umweltbewegung, insbesondere der Bewegung gegen Atomwaffentests in den 1950er- und 1960er-Jahren zusammen. Die ökologische Zerstörung an einem Punkt der Welt, die Zündung einer Wasserstoffbombe, war zum ersten Mal in globalem Maßstab in Form radioaktiven Niederschlags spürbar und messbar. Die Kämpfe der Ogoni im Niger-Delta gegen Shell, der Sioux in Standing Rock, der Indigenen gegen die Teersandförderung im kanadischen Alberta, der indigenen Völker in Lateinamerika gegen die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes, der Climate Warriors der Pazifikinseln gegen den steigenden Meeresspiegel, den Kampagnen gegen Kohleförderung wie Ende Gelände bis hin zur jüngsten Klimaprotestwelle von Extinction Rebellion und Fridays for Future – sie alle sind Ausdruck dieses neuen Widerstands in der Phase des Treibhauskapitalismus.

Ian Angus bemerkte in seinem Buch Facing the Anthropocene (2016), in Anlehnung an die kompromisslose antirassistische und antikoloniale Politik Lenins und der Bolschewiki, dass Sozialist_innen heute im Zeitalter des Anthropozäns, in dem der imperialistische Kapitalismus unser Erdsystem an den Rand der Zivilisationskrise gestoßen hat, auch „Tribunen der Umwelt“ sein müssen. Die Schlussfolgerung, die sich aus einer theoretischen Behandlung des Treibhauskapitalismus ganz praktisch ergibt, ist, dass sich Sozialist_innen heute als die besten Kämpfer_innen gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Umweltzerstörung beweisen müssen. In Zeiten des Treibhauskapitalismus muss für Ökosozialist_innen der Leitspruch gelten: Arbeiter_innen, Unterdrückte und Klimaschützer_innen aller Welt, vereinigt euch!

Einladung zur Debatte

Diese wichtige Intervention zielt einerseits auf die radikale Linke selbst ab, die vor allem im europäischen Kontext (mit Ausnahme von Altvater und wenigen anderen) weitgehend ein theoretisches Verständnis der Klimakrise vermissen lässt, beziehungsweise die in Teilen einen überaus sektiererischen, ablehnenden Zugang (wie er Marx selbst fremd wäre) zu den Naturwissenschaften und dem Anthropozän-Begriff im Besonderen verfolgt. Eine Diskussion um einen Treibhauskapitalismus als bestimmter Form eines Gesellschaftssystems könnte zweitens in den Naturwissenschaften ein wichtiges Signal sein, dass die revolutionäre, antikapitalistische Linke das Ausmaß der Klimazerstörung theoretisch erfasst hat und in neuen Begriffen auszudrücken vermag. Und drittens, die Mächtigen können sich heute eher vorstellen, über Geo-Engineering in das Erdsystem einzugreifen, als das ökonomische System zu verändern. Insofern würde eine Debatte über das Gesellschaftssystem auch den Schwerpunkt von der Herrschaft über die Natur zu einer Diskussion darüber, grundsätzlich die Kontrolle über den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur wieder zu erlangen, zu einer wirklichen nachhaltigen Form des Wirtschaftens, verschieben.

Über lebhafte Beiträge zu dieser Diskussion würden wir uns äußerst freuen!