Degrowth: Unterschiedliche Strategien, dieselben Kämpfe

Degrowth (im deutschen als Postwachstum bezeichnet) nennt sich das Konzept einer Strömung innerhalb der Klimaschutzbewegung, die das Wirtschaftswachstums in den Industrienationen zulasten der Umwelt und des globalen Südens angreift. Aus sozialistischer Sicht hat diese Theorie wichtige Stärken und Schwächen.
25. April 2017 |

Um den Ausstieg aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe zu schaffen, braucht es einen weltweit koordinierten Aktionsplan und abgestimmte Vorgehensweise, sehr wahrscheinlich über Generationen hinweg. In den konkreteren Vorstellungen darüber, wie wir dahin kommen, entdecken wir Differenzen, die auf den ersten Blick unüberbrückbar erscheinen.

Es ist aber auch klar, dass wir diese Differenzen überbrücken müssen, unser gemeinsames Anliegen ist zu wichtig, und die gegnerischen Kräfte zu groß, als dass wir uns leichtfertig aufspalten lassen dürften.

Sand im Getriebe

Die Klimaschutz-Bewegung engagiert sich auf allen Kontinenten in Kämpfen gegen Umweltzerstörung, die ohne den Degrowth-Aktivist_innen kaum denkbar wären; sei es gegen „fracking“, die Dritte Piste am Flughafen Schwechat, die Ausbeutung von Teersanden, den Ausbau von Pipelines, etc.

Wir Aktivist_innen stimmen wohl alle darin überein, dass wir Sand ins Getriebe der kapitalistischen Maschine schütten müssen. Der jährliche Ausstoß an Kohlendioxid (CO2) in die Atmosphäre hat Ausmaße erreicht, die schier unvorstellbar sind. 2013 waren das unfassbare 36.131.005.074 Tonnen CO2 (36,1 Milliarden) pro Jahr, das entspricht 1.146 Tonnen CO2 pro Sekunde.

Ja zu Klimagerechtigkeit

„Degrowth“ identifiziert Wachstum als das zentrale Problem, oder als die bestimmende Dynamik, die die Umweltzerstörung so bedrohlich hat werden lassen. Genauer gesagt, schreiben seriöse Vertreterinnen von Degrowth, wie Professor Barbara Muraca, von einer Kritik an Wachstum oder an der Wachstumslogik der westlichen Welt. Als Antwort streben sie eine Gesamtreduzierung der Wirtschaft und der Nutzung von Energie und natürlichen Ressourcen an. Sie tappt dabei auch nicht in die Falle, den tatsächlichen Wachstumsbedarf der Länder des globalen Südens zu ignorieren.

Ölsande: Fossile Brennstoffe werden mit 5,3 Milliarden US-Dollar pro Jahr gefördert. Foto: Alex McLean

 

Wie wir in unserer letzten Ausgabe betont haben, ist „Klimagerechtigkeit“ zentral für die Entwicklung von Strategien zum Ausstieg aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe. Die ärmeren Schichten in den Ländern des globalen Südens haben einen wirklichen Anspruch auf „mehr Entwicklung“. Barbara Muraca sagt dazu, dass wenn die Gesamtwirtschaftsleistung permanent steigt, dann geht das auf Kosten der Entwicklungsländer. Der globale Norden muss die Nutzung der natürlichen Ressourcen reduzieren um Raum zu lassen für Entwicklung in den Ländern des globalen Südens.

Ein paar Zahlen machen deutlich, wie richtig der Anspruch auf Entwicklung in den ärmeren Regionen der Welt ist. In den Hungerregionen Afrikas beziehen nach Angaben von UNICEF fast 27 Millionen Menschen Trinkwasser aus unsauberen Quellen. Durchfallserkrankungen sind die zweithäufigste Ursache für Kindersterblichkeit. Hohe Kindersterblichkeit bedingt hohe Geburtenraten und einen immensen Druck auf die Familien, die dann umso schwerer dem Teufelskreislauf der Armut entfliehen können.

Überall dort, wo die Kindersterblichkeit auf das Niveau von Westeuropa (oder Kuba!) gesunken ist, ist auch die Geburtenrate auf ungefähr 2 Kinder je Elternpaar gesunken. Die Gewährleistung von mehr wirtschaftlicher Entwicklung in den Entwicklungsländern ist also tatsächlich einer der entscheidenden Faktoren um dieses neue Zeitalter, genannt Anthropozän, konstruktiv gestalten zu können.

Imperialismus

Den Druck auf den Süden zu reduzieren um Raum für Entwicklung zu lassen, wird in der Degrowth-Bewegung auch übersetzt als: „weniger Imperialismus“. Aber Imperialismus ist nicht gleich Ausbeutung der „Dritten Welt“ durch die imperialistische „Erste Welt“. Imperialismus schafft die Bedingungen für die Ausbeutung der Entwicklungsländer, aber es ist mehr die Dominanz starker imperialistischer Nationen über schwächere Nationen.

Im weitesten Sinne kann die Dominanz des antiken Griechenlands oder Roms über seine Nachbarn als Imperialismus bezeichnet werden. Im modernen Sinn, im Kapitalismus, wird Imperialismus als eine Auswirkung von Konkurrenz im Kapitalismus verstanden. Es waren marxistische Autoren, wie Lenin und Nikolai Bucharin, Rosa Luxemburg und Rudolf Hilferding, die den Begriff ins Zentrum politischer Kritik gerückt haben. Sie verstehen darunter nicht die Politik einer bestimmten Nation gegenüber anderen, sondern ein Stadium (das höchste oder letzte) in der Entwicklung von Kapitalismus selbst. Kapital wächst und zentralisiert sich, weil die Konkurrenz zwischen den Kapitalien es auf diesen Weg zwingt.

Wie Kapitalismus auf Katastrophen reagiert: Erst als der weltweite Bestand an Kabeljau völlig kollabiert war, einigte sich die Industrie auf Schutzmaßnahmen. Die Grafik zeigt den Kabeljaufang in Tonnen an der Ostküste Neufundlands. Quelle: Millennium Ecosystem Assessment

 

In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg hat die Konzentration von Kapital solche Ausmaße erreicht, dass einige Zweige der Industrie von wenigen Konzernen beherrscht wurden. Die Konkurrenz zwischen diesen Monopol-Kapitalien führte zu tödlichen Kriegen zwischen den Nationen in denen sie beheimatet waren. Sie konkurrieren um Zugang zu Ressourcen, um Absatzmärkte, um Einfluss auf ihre Konkurrenten und auf schwächere Nationen.

Diese Dynamik lässt sich nicht einfach so beenden, solange das System Kapitalismus, das auf Konkurrenz beruht, weiter intakt gelassen wird. Solange Konkurrenz die bestimmende Dynamik ist, wird sie auch die Politik bestimmen. Die Reaktionen aller führenden österreichischen Politiker auf das Urteil gegen die dritte Piste am Flughafen Schwechat ist bezeichnend: Wenn wir die dritte Piste nicht bauen, wird der Flughafen Bratislava profitieren – und das darf nicht sein!

Man kann diese Dynamik nicht durchbrechen, indem man weniger Produkte aus dem globalen Süden konsumiert, und nicht einmal indem man Entwicklungshilfe forciert, sondern nur indem man die Macht der Konzerne und ihrer Handlanger angreift.

Marx zu Hilfe holen

Hier kommt eine Kraft ins Spiel, die nur zu oft ignoriert oder sogar in den Wind geschrieben wird – die Arbeiterinnen- und Arbeiterklasse! Neben Konkurrenz zwischen den Kapitalien ist die Ausbeutung von Arbeit die zweite bestimmende Dynamik im Kapitalismus.

Neben Konkurrenz zwischen den Kapitalien ist die Ausbeutung von Arbeit die zweite bestimmende Dynamik im Kapitalismus.

Für Marx ist Kapital keine Person oder Institution, sondern eine soziale Beziehung. Kapital muss immer danach trachten die Ausbeutung der Arbeitskraft zu erhöhen um sich im Konkurrenzkampf durchzusetzen oder zumindest zu überleben. Es ist diese Schlüsselrolle der Doppelbeziehung von Kapital (zu Arbeiter_in und zur Konkurrenz), die das System antreibt.

Um die Dynamik zu durchbrechen, muss dem Kapital die Kontrolle über die Produktion entzogen werden. Das können nur diejenigen, die die kapitalistische Produktionsmethode zerstören und kollektiv den Produktionsprozess selbst in die Hände nehmen können – die Arbeiter_innen. Die Arbeiter_innen, also die Produzent_innen, als die potentielle Macht zu verstehen, die die gesamte Produktion und damit die Gestaltung unserer Zukunft in ihren Händen hält, das stößt allerdings in der Degrowth-Bewegung auf totales Unverständnis oder auf empörten Widerspruch.

Degrowth verfolgt als Strategie nicht die Zerschlagung von Kapitalismus (und macht sich dementsprechend wenig Gedanken um die dafür nötigen Kräfte), sondern die Entwicklung von Alternativen zu Kapitalismus „westlicher Ausprägung“! Konkret heißen die Strategien zum Erreichen dieses Ziels Entschleunigung, Verringerung von Produktion und Konsum im globalen Norden, eine Abkehr vom westlichen Wachtumsdogma, „Suffizienz“ anstatt richtungsloser Entwicklung neuer Produkte, und einige mehr. Die konkreten Kämpfe, die daraus entstehen, sind wichtig, weil die irrsinnige Verschwendung der kapitalistischen Wirtschaft zu beenden einen schweren Schlag für die Machthaber wäre und zu einer wirklich spürbaren Senkung der Treibhausgasemissionen führen würde.

Der schlafende Riese

Man muss als Sozialist eingestehen, dass die Arbeiter_innenklasse sich nicht gerade als entscheidende Kraft im Kampf gegen den Klimawandel aufdrängt. Massenstreiks, die diese Kraft spürbar machen, haben die jungen Aktivist_innen kaum mitbekommen, die Rolle von Arbeitskämpfen in der Geschichte wird totgeschwiegen, und die Gewerkschaften führen seit Jahrzehnten einen defensiven Kampf, während Neoliberalismus zu triumphieren scheint.

CO2-Budget ist nur mit Systemwandel einzuhalten

CO2-Budget ist nur mit Systemwandel einzuhalten

In Abwesenheit dieser Alternative ist es nur zu verständlich, dass sich Menschen anderen Strategien zuwenden. Wir sollten sie alle ernst nehmen, und gleichzeitig unsere Politik eines Sozialismus von unten verteidigen und vorantreiben indem wir unsere Organisationen stärken. Zuvorderst ist wichtig, dass wir uns in dieser breiten und diversen Bewegung nicht gegenseitig bekämpfen, sondern uns zusammenschließen um wirksam die Pläne der Kapitalisten zu durchkreuzen. Jeder einzelne Kampf der dazu geeignet ist, sollte uns willkommen sein und von uns unterstützt werden. Die Protestbewegung gegen Donald Trumps Präsidentschaft, gegen seine Kriege und seine Pläne zur Umweltzerstörung wird uns alle näher zusammenbringen.

Alle Artikel der Serie:

Anthropozän und Ökosozialismus sind ein Schwerpunkt am antikapitalistischen Kongress Marx is Muss von 5. bis 7. Mai im Wiener Amerlinghaus. Es sprechen Carla Weinzierl (System Change not Climate Change), David Heuser (Erdwissenschafter) und Manfred Ecker (leitender Redakteur von Neue Linkswende). Das gesamte Programm findest du hier.
Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.