Der gute Mensch von Sezuan
Sezuan, chinesische Provinz und Handlungsort von Brechts Stück Der gute Mensch von Sezuan, steht für alle Orte, „an denen Menschen von Menschen ausgebeutet werden“. Das Thema ist heute so aktuell wie zu seiner Entstehungszeit in den 1930er Jahren.
Bertolt Brecht arbeitete über mehrere Jahre hinweg an den unterschiedlichsten Orten im Exil an dem Stück. Wie viele andere „entartete“ Künstler_innen, noch dazu Kommunist, musste er vor den Nazis fliehen. Der gute Mensch von Sezuan wurde 1943 – Brecht war in den USA – in Zürich uraufgeführt.
Herausforderung Brecht
Drei Götter durchkämmen die Welt auf der Suche nach einem guten Menschen. In der Prostituierten Shen Te glauben sie schließlich, ihn gefunden zu haben. Shen Tes Klage „Wie soll ich gut sein, wo alles so teuer ist?“, winken sie ab, in Wirtschaftliches könnten sie sich nicht einmischen. Immerhin geben sie Shen Te 1.000 Silberdollars, mit denen sie einen Tabakladen eröffnet. Schnell stehen alle möglichen Bittsteller vor Shen Tes Tür. Die versucht zu helfen, wo sie kann, verteilt Reis, gewährt einer achtköpfigen Familie Unterschlupf und kauft selbst bei Regen beim Wasserverkäufer Wang. Um als Shen Te weiterhin gut sein zu können, erfindet sie sich ein zweites Ich – den Vetter Shui Ta. In seiner Maske kann sie skrupellos ihre eigenen Interessen verteidigen.
Sich einem Brecht-Stück zu stellen, ist eine Herausforderung – war er doch selbst ein gefürchteter Regisseur, der es nicht leicht machte, seinen Ansprüchen zu genügen. Das Bühnenbild, ein sich beständig drehender, baustellenartiger Turm, schmückt dann auch Brechts übergroßes Gesicht, der Blick kritisch. Im Mund eine der mannshohen Zigarren aus Shen Tes Laden, die hin und wieder die Bühne in Rauch hüllt. Die Inszenierung von Robert Gerloff mit Claudia Sabitzer in der Rolle der Shen Te bzw. des Shui Ta meistert die Herausforderung mit Bravour.
Die Entfremdung im brechtschen Sinne des Epischen Theaters tritt in vielfacher Weise auf. So treten die Schauspieler_innen beiseite und richten sich von einem Lichtkegel überflutet direkt ans Publikum. Musikalische Begleitung zu den oft etwas schräg geschmetterten Liedern liefert die Band um Imre Lichtenberger-Bozoki.
Götter sehen zu
Shen Te trifft auf den arbeitslosen Flieger Sun, hält ihn vom Suizid ab – und verliebt sich. Als Sun die Möglichkeit erhält, sich mit 500 Silberdollars eine Stelle zu erkaufen, gibt sie ihm ohne zu zögern 200 Dollars, die sie selbst jedoch nur geliehen hat. Als sie entdeckt, dass Sun sie nur ausnutzt, muss der Vetter kommen und alles richten. Unbeirrbar errichtet sie als er ein florierendes Tabakimperium. Da Shen Te verschwunden scheint, wird der Vetter des Mordes verdächtigt und kommt vor Gericht. Als Richter dienen die Götter und die ganze Geschichte wird aufgedeckt. Hilfe ist keine zu erwarten, die Götter waren von Anfang an nur „Betrachtende“ und verziehen sich.
Ein Paradebeispiel von Brechts Lehrstücken. Nicht betäubende Emotionalität wird erzeugt, sondern das Publikum soll distanziert beobachtend zur Erkenntnis gelangen, soll in den Verfremdungen die eigene Entfremdung erkennen. Ungeschönt stellt sich die Frage, ob man im Kapitalismus gut sein kann. Ist es nur das Geld, das die weltlichen Geschicke bestimmt?
Der Schluss bleibt offen, die Zuschauer_innen sind gefordert: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen. Den Vorhang zu und alle Fragen offen. Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andere Welt? Vielleicht nur andere Götter? Oder keine?… Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss! Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!“
Der Anspruch der Erleuchteten, wie die Götter ironisch aufgeklärt genannt werden, nämlich gleichzeitig gut zu sein und gut zu leben, entpuppt sich als unvereinbar. Shen Te muss sich, um das zu erfüllen, in zwei Personen aufspalten. Ihre Liebe zu Sun macht sie angreifbar, ihre Hingabe ruiniert sie finanziell. Ihre Gefühle sind nicht vereinbar mit auf rationaler Vernunft basierenden Geschäftsinteressen. Die Frau, der die fürsorgliche Persönlichkeit zugeschrieben wird, muss erst zum Mann werden, um skrupellos genug sein zu können.
Der reiche Barbier Shu Fu hat eine andere Strategie. Er gibt sich wohltätig, stellt den Armen seine Mietshäuser zur Verfügung – und verschweigt, dass die baufällig sind. Das „Gut-sein“ wird nicht nur im Stück zur reinsten Charakterinszenierung. Charity ist das Schlagwort des modernen, als „gut“ getarnten Ausbeuters.
Revolution im Theater
Diese Inszenierung wird auch vom Ausgebeuteten erwartet. Mit „Bildung, Intelligenz und Kreativität“ kann Sun schließlich punkten und erhält eine Vorarbeiterstellung im Tabakhandel. Die neoliberale Arbeitswelt erwartet, dass man sich selbst bewirbt wie eine Ware.
Passend dazu die Kostüme: in steifem Stoff versinnbildlichen die Figuren das steife Rollengefüge, in das die Menschen gezwängt werden. Besonders originell ist das Kostüm der achtköpfigen Familie. Ein gemeinsames braunes Ungetüm, aus dessen Ärmel sie mal gierig, mal flehend die Arme strecken, macht sie zur gesichtslosen Masse verschmolzenen Reservearmee der Arbeitslosen, der in die Kriminalität gedrängten Habenichtse.
Brecht hat das Theater revolutioniert, hat die Politik darin etabliert. Doch was einmal revolutionär war, regt jetzt keine/n mehr auf. Tumulte wie zu Brechts Lebzeiten lösen seine Stücke nicht mehr aus. Nicht zuletzt, weil ohnehin die Realität immer mehr zum Theater wird. Brechts Botschaft aber bleibt. Er zeigt die sozialen Verhältnisse in ihrer ganzen Absurdität und betont ihre Veränderbarkeit. Eine Aufforderung, das Elend nicht nur zu mildern, sondern seine Ursachen zu beseitigen.