Geburtstagsgrüße der Gelbwesten: Uns werdet ihr nicht mehr los!

„Sie wollen ihren Kopf aufgespießt sehen“ – mit diesen Worten begrüßte der Bürgermeister der französischen Kleinstadt Le Puy-en-Velay den Präsidenten Macron. Bei seinem Besuch Mitte Jänner 2019 wurde er von aufgebrachten Gelbwesten gejagt. Weder die liberalen Hetzkampagnen, noch die Polizeirepression, konnten die Bewegung zerstören. Am 16. November feierte die Bewegung ihr einjähriges Bestehen. 50.000 Menschen demonstrierten in ganz Frankreich.
17. Dezember 2019 |

Als Anfang November 2018 der französische Lastwagenfahrer Éric Drouet in einem Video dazu aufrief, aus Protest gegen eine Erhöhung der Spritpreise Verkehrsinseln im ganzen Land zu blockieren, und die ehemalige Bankangestellte Priscillia Ludosky eine Onlinepetition gegen die Benzinpreiserhöhung erstellte, hätte wirklich niemand damit gerechnet, dass dies der Startpunkt einer Massenbewegung sein würde, die seit über einem Jahr das politische Establishment in Angst und Schrecken versetzt. „Wir blockieren alles“ – das war das Motto, als am 17. November 2018 über 300.000 Menschen in ganz Frankreich über 3.000 Kreisverkehre besetzten.

Verkehrsinseln

Der Protest, der sich anfangs ausschließlich in sozialen Medien artikulierte, wurde durch die Besetzungen massenwirksam. Während vergangene soziale Bewegungen in Frankreich ihren Ausgangspunkt in den Metropolen hatten und von Studierenden oder Gewerkschaften angeführt wurden, entstanden die Gelbwesten in Kleinstädten und Dörfern. Jene Menschen, die sonst in der Politik nicht vorkommen, betraten die politische Bühne. Alt-68er, Arbeiter_innen aus Kleinbetrieben, Schüler_innen, Arbeitslose und vereinzelte politische Aktivist_innen der Linken, anfangs auch der Rechten, versammelten sich an den Kreisverkehren und begannen über ihre Probleme zu diskutieren.

Als es Nacht wurde, beschlossen die Gelbwesten zu bleiben und begannen kleine Holzhütten, Küchen und Klos zu errichten. Autofahrer_innen solidarisierten sich mit den Besetzer_innen, indem sie die charakteristischen gelben Warnwesten auf das Armaturenbrett legten. Auf jeder Verkehrsinsel entstanden umfassende Forderungskataloge, die von Mindestlöhnen über Steuersenkungen für Wenigverdiener_innen, Erhöhung der Renten bis zur Bekämpfung der Steuerflucht und der Einführung von verpflichtenden basisdemokratischen Volksabstimmungen (RIC) reichten.

Die Forderung, auf die sich alle einigen konnten, war der Rücktritt von Präsident Macron. Woche für Woche wurden die Besetzungen von der Polizei attackiert und die Hütten zerstört, doch am nächsten Morgen standen sie wieder. Der Bruch mit der kapitalistischen Vereinzelung, das Zusammenfinden der Ausgebeuteten auf den Verkehrsinseln, das war der revolutionäre Kern der Bewegung. Die Identifikation mit den in der Revolte geschlossenen Freundschaften ging so weit, dass Hochzeiten auf den Verkehrsinseln geschlossen und gefeiert wurden. Die militanten Massenproteste, die in den kommenden Monaten in den Städten stattfinden würden, sind ohne die Wut der Gelbwesten auf die Polizei, welche diese neuen Treffpunkte mal um mal mit Tränengas beschoss und zerstörte, nicht zu verstehen.

Am 1. und am 8. Dezember kündigten die Provinzen den Sturm auf Paris an. Hunderttausende Gelbwesten versammelten sich auf der Prachtstraße Champs-Élysées und wehrten sich gegen die Polizeigewalt. Aus Angst vor dem Marsch auf den Präsidentenpalast am 8. Dezember positionierten sich Scharfschützen auf den Dächern, die führenden Vertreter der Regierung und Macrons Frau flohen in den Atomschutzbunker des Palasts. Im Garten des Palasts stand ein abflugbereiter Helikopter.

Laut Umfragen sympathisierten drei Viertel der französischen Bevölkerung mit den Ideen der Gelbwesten, dieser Massenrückhalt ist bis heute unverändert. Genauso gehen 76 Prozent der Bevölkerung davon aus, dass es die Bewegung weiter geben wird. Diese Zahlen sind ein beindruckender Beleg für den Zusammenbruch des politischen Zusammenhalts in Frankreich.

Macron

Von den etablierten Medien wurde Macron bei den letzten Wahlen als Retter vor der rechtsextremen Marine Le Pen gefeiert. Sein Wahlsieg gründete sich neben dem Versagen der Sozialdemokratie, zum Wohlfahrtsstaat zurückzukehren, und der Angst vor Le Pen auf dem Lügenmärchen, mit „En Marche“ sei eine neue politische Bewegung entstanden. Über 90% der französischen Presse und in etwa die Hälfte aller Fernsehsender sind in den Händen von gerade einmal 10 Milliardären. Der Eigentümer der berühmten Zeitung Le Monde, Xavier Niel, erklärte unverblümt: „Immer, wenn mir Journalisten auf den Wecker fallen, kaufe ich mir einen Anteil ihres Blattes, dann ist Ruhe“.

In dieses Bild passt auch, dass noch nie so viele Millionäre im Parlament saßen wie unter Macron. Das Vermögen der französischen Milliardäre stieg 2018 um 15%. Als sie von den Gelbwesten als „gekaufte Lügner der Reichen“ entlarvt wurden, reagierten große Teile des journalistischen Establishments beleidigt. Sie übernahmen ungeprüft das Lügenmärchen des französischen Innenministers Castaner, die Gelbwesten hätten ein Krankenhaus attackiert. Nur dank des Widerspruchs des Krankenhauspersonals konnte diese Lüge widerlegt werden. Demonstrant_innen suchten in dem Krankenhaus Schutz vor den Offensivgranaten der Polizei.

Niederlagen der Linken

In Frankreich ist eine seit Jahrzehnten stattfindende Zerstörung des Sozialstaates im Gange. Der Arbeitergebervertreter und persönliche Freund vom ehemaligen Präsidenten Sarkozy erzählte, die aktuelle Politik ziele auf die „methodische Demontage des Programms des nationalen Widerstandskomitees“. Damit meinte er die Gesetze und Institutionen des Sozialstaates, welche nach Befreiung von der NS-Herrschaft gegründet wurden.

Die Sozialdemokratie scheiterte nicht nur daran, Widerstand gegen das Programm aufzubauen, sondern setzte es in ihrer Regierungszeit unter François Hollande weiter um. 2016 formierte sich eine Massenbewegung aus Studierenden und Gewerkschaften, welche gegen ein neues Arbeitsgesetz mobilisierte. Der Massenbewegung gelang es, einige Verschlechterungen zu verhindern, doch sie erkämpfte kaum Verbesserung. Die Niederlagen der organisierten Linken inklusive der Gewerkschaften führten dazu, dass sich die Rebellion der Gelbwesten außerhalb der ritualisierten Protestformen abspielte. Die Tatsache, dass sich die Gelbwesten nicht mit den etablierten Parteien der französischen Linken, allen voran la france insoumise um Jean-Luc Mélenchon, und genauso wenig mit den Gewerkschaften identifizierte, führte viele Linke dazu, sie als rechte Bewegung abzutun.

Oder wie es Guillaume Paoli, dessen brillantes Buch Soziale Gelbsucht jeder lesen sollte, ausdrückt: „Was habt ihr (die organisierte Linke) denn vorzuweisen?“, (wenn ihr euch über die naiven Forderungen der Gelbwesten lustig macht, oder ihnen erklären wollt wie Aktivismus funktioniert?) „Alle Bürgerbewegungen und linken Initiativen der jüngsten Vergangenheit sind beständig gescheitert. Das, was Aktivisten bei den Gilet Jaunes anzog, war gerade die Kraft der praktischen Tat, die sie selbst jahrzehntelang vergeblich zu entwickeln suchten“.

Keine Kompromisse

Eine Einladung zur Diskussion durch den Premierminister Philippe nahmen die Gelbwesten nur unter der Bedingung an, dass das Gespräch live über Facebook übertragen werden sollte. Wenig überraschend weigerte sich der Premier diese Bedingung zu akzeptieren. Während die Elendsgestalten des links-liberalen Establishments sich distanzieren – Daniel Cohn-Bendite, ein Anführer der 68er-Bewegung und ehemaliger EU-Parlamentarier der Grünen Frankreichs, meint: „Diese Bewegung hat mehr als nur leicht autoritäre Züge. Sie lehnt das Gespräch ab, sie will keinen Kompromiss finden“ – sollten wir diese unnachgiebige Haltung feiern.

© yaso (Twitter)

Die Politik „Keine Kompromisse“ führte zu mehr Erfolgen für die französische Arbeiter_innenklasse, als das Paktieren mit den Herrschenden. Im Zuge der Protestwelle wurde nicht nur die Aufmerksamkeit der ganzen Bevölkerung erreicht, auch die Benzinpreiserhöhung wurde zurückgenommen, der Mindestlohn wurde um 100€ erhöht und für Rentner_innen wurden Entlastungen beschlossen

Erster Dezember: Eskalation?

Zu ihrem Geburtstag demonstrierten die Gelbwesten auf beindruckende Art und Weise, dass sie noch immer da sind. Wenn auch nicht mehr in derselben Zahl, die Sympathie und die Gründe für die Proteste sind nach wie vor vorhanden. Die Gewerkschaft CGT mobilisiert für den 5. Dezember zu größeren unbefristeten Streiks. Die Versammlung der Versammlungen der Gelbwesten hat angekündigt, sich an den Protesten und Streiks zu beteiligen, es wird spannend, ob der Schulterschluss von gewerkschaftlich organisierter Arbeiter_innenklasse und Gelbwesten gelingt.

Doch schon jetzt ist klar, wie Paoli schreibt: „Selbst wenn von der Bewegung der Gilet Jaunes nichts bleiben würde, die Tatsache, dass sie den Machthabern Frankreichs und Europas wieder Furcht eingeflößt haben, ist eine nachhaltige Errungenschaft“.