Die Wurzeln von Rassismus

Oft wird behauptet, Rassismus und „Angst vor dem Fremden“ sei uns Menschen angeboren. Marxistische Theoretiker_innen behaupten das Gegenteil, nämlich dass Rassismus erst aus den Widersprüchen, Konflikten und Ungerechtigkeiten der kapitalistischen Gesellschaftsordnung entsteht.
2. Mai 2015 |

Ein in Bibliotheken rechtsextremer „Intellektueller“ häufig zu findendes Werk ist „Rasse, Evolution und Verhalten“ von Philippe J. Rushton. Der Pseudowissenschaftler beschreibt darin die Unterschiede zwischen den drei „großen Rassen“: Ostasiaten (Mongolide), Weiße (Europäer, Kaukasier) und Schwarze (Afrikaner, Negride). Demnach würden beispielsweise Afrikaner_innen deutlich dümmer, aggressiver und krimineller sein als Europäer_innen. Nicht nur Susanne Winter von der FPÖ folgt dieser Ansicht, sondern – wie sich aus Zitaten derselben ergibt – auch mehrere ihrer Parteikollegen. Unter seriösen Biologen gibt es seit Jahrzehnten einen breiten Konsens darüber, dass es nur eine menschliche Rasse, nämlich den Menschen, gibt.

„Es ist längst bewiesen, dass es nur eine menschliche Rasse, nämlich den Menschen, gibt.“

Der renommierte Genetiker Luigi Luca Cavalli-Sforza stellt klar, dass etwa 85 Prozent der genetischen Unterschiede zwischen Menschen innerhalb einer Population vorliegen. Genetisch betrachtet können somit laut Cavalli-Sforza zwei Menschen aus verschiedenen Kontinenten einander stärker ähneln als Individuen einer spezifischen Gruppe, auch wenn sie zum Beispiel eine unterschiedliche Hautfarbe haben. Ein blonder Deutscher wird mit einem Indigenen aus den Urwäldern Brasiliens meist mehr genetische Übereinstimmungen haben als etwa zwei Bewohner ein und desselben Dorfs in Ostafrika.

Trotzdem sind rassistische Theorien in allen Bevölkerungsschichten verbreitet. Um zu verstehen, warum dies möglich ist, muss man in erster Linie den Fragen nachgehen, woher Rassismus kommt und wer davon profitiert.

Anfänge des Rassismus

Zu der Zeit der Entstehung von Rassismus – der Zeit des Sklavenhandels und der europäischen Eroberungen in Übersee – orientierte sich Rassismus an den unterschiedlichen Hautfarben von Unterdrückern und Unterdrückten. Rassismus ist aber nicht zwingend an Unterschiede in der Hautfarbe, der so genannten „Nation“, der Religion oder Sonstiges gebunden. Der moderne Antisemitismus, nach welchem Juden als „Rasse“ bezeichnet werden, ist nur ein Beispiel für Rassismus, der nicht auf Unterschieden in der Hautfarbe basiert.

Oft wird behauptet, Rassismus sei so alt wie die Menschheit, was bedeuten würde, man könnte ihn nicht loswerden. Doch Rassismus ist ein modernes Phänomen. Diese Form der Unterdrückung ist eigentümlich für Kapitalismus und muss von einem die vorkapitalistischen Gesellschaften durchdringenden Merkmal, nämlich den Vorurteilen gegenüber Fremden, unterschieden werden. In der Zeit vor dem Aufkommen des industriellen Kapitalismus lebten die meisten Menschen in bäuerlichen Strukturen innerhalb ländlicher Gemeinden, in welchen jedes Leben mit dem anderen intensiv verwickelt war und sich gegenüber allem Fremden Ignoranz und Ablehnung („Xenophobie“ ) entwickelte. Der heute bekannte Rassismus entwickelte sich hingegen im 17. und 18. Jahrhundert.

Sklavenhandel und Ausbeutung schwarzer Sklaven wurden mit der vermeintlichen Rückständigkeit der afrikanischen Kulturen gerechtfertigt. „Der Rassismus wie wir ihn kennen, entstand während einer Schlüsselphase in der Entwicklung von Kapitalismus zur weltweit herrschenden Produktionsweise“, meint der marxistische Philosoph Alex Callinicos in seinem Buch „Rassismus – Eine marxistische Analyse“. „Zur Errichtung kolonialer Plantagen in der Neuen Welt im 17. und 18. Jahrhundert wurde die Arbeit von Sklaven benutzt, die aus Afrika importiert wurden, um Konsumgüter, wie Tabak und Zucker, und industrielle Rohstoffe, wie Baumwolle, für den Weltmarkt zu produzieren.“

Der Marxist Peter Fryer schreibt dazu: „Rassismus taucht in der mündlichen Überlieferung im Barbados des 17. Jahrhunderts auf und kristallisierte sich druckschriftlich im Großbritannien des 18. Jahrhunderts als die Ideologie der Plantagenaristokratie …, die Englands karibische Kolonien beherrschten, heraus.“

Rechtfertigung für reale Widersprüche

Der große schottische Philosoph der Aufklärung Sir David Hume schrieb 1753 hingegen: „Ich bin geneigt zu vermuten, dass die Neger und generell all die anderen Menschenarten (es gibt vier oder fünf verschiedene Arten) den Weißen von Natur aus unterlegen sind.“

Es ist bezeichnend, dass ein Philosoph der Aufklärung dieses Testament des Rassismus schrieb. Denn die Anhänger der Aufklärung hatten einen Widerspruch zu erklären: sie kämpften für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und behaupteten alle Menschen seien gleich. Wie anders als mit einer scheinbaren Überlegenheit konnten sie den Horror der Sklaverei rechtfertigen, von dem ihre Klasse, nämlich die bürgerliche, stark profitierte? Rassismus ist also mit Kapitalismus gewachsen und hilft diesem zu überleben.

Ebenso bezeichnend ist, dass Rassismus von Beginn an von Intellektuellen salonfähig gemacht wurde, die sich selbst als sehr fortschrittlich sahen, wie im 17. Jahrhundert Philosophen der Aufklärung, oder im Falle von Antisemitismus im frühen 19. Jahrhundert radikale Anhänger von Hegel.

Der "Krieg gegen Terror", die Kontrolle über das Öl des Nahen Ostens, wurde mit antimuslimischen Rassismus gerechtfertigt. Im Bild US-Soldaten vor einer brennenden Ölquelle im Südirak (Erdölfeld Rumaila)
Der „Krieg gegen den Terror“, der die Kontrolle des Westens über das Öl im Nahen Ostens sicherstellen sollte, wurde mit antimuslimischen Rassismus gerechtfertigt. Im Bild US-Soldaten vor einer brennenden Ölquelle im Südirak (Erdölfeld Rumaila) im April 2003

Der aktuelle Rassismus gegenüber Muslim_innen (auch bezeichnet als Islamfeindlichkeit, Islamophobie) entwickelte sich vor allem nach dem 11. September 2001. Frühere Spielformen von antimuslimischem Rassismus hatten nach der Unabhängigkeit des Iran von der amerikanischen Kontrolle ab 1981 eine Hochblüte. Noch frühere Formen entstanden während ägyptischer Befreiungskämpfe gegen die Engländer am Beginn des 20. Jahrhunderts und während des algerischen Unabhängigkeitskriegs gegen die französische Kolonialherrschaft.

Muslim_innen wurde nachgesagt, sie seien aus kulturellen Gründen nicht wirklich für Demokratie bereit. Sie hätten die Epoche der Aufklärung nicht durchgemacht. Muslimische Gesellschaften seien anders gesagt rückständiger als die europäische Gesellschaft. Deshalb ist es kein Verbrechen, wenn die USA Krieg in Afghanistan und im Irak führen, sondern eine zwar schmerzhafte aber „wohlmeinende“ Tat.

Institutionalisierter Rassismus

Egal wie unterschiedlich ihre Herkunft sein mag, werden Asylwerber_innen ähnliche Eigenschaften zugeschrieben: Faulheit, Betrügerei, Sozialschmarotzertum, kriminelle Neigungen. Das Asylgesetz ist ein typisches Beispiel für institutionalisierten Rassismus, jedoch ist die Hetze gegen Flüchtlinge relativ neu. Gerade Österreich war bekannt dafür, große Zahlen ungarischer und tschechoslowakischer Asylsuchende großzügig aufgenommen zu haben. Vor dem jugoslawischem Bürgerkrieg von 1991, an dem der Westen, allen voran Deutschland und Österreich großen Anteil hatten, war diese Form von Sündenbockpolitik beinahe unbekannt. Heute ist sie eine der präsentesten Formen von Rassismus und eine, auf deren Grundlage die FPÖ sehr wirkungsvoll agieren kann.

Der institutionelle Rassismus schafft die Bedingungen, unter welchen sich rassistische Ideen in den Köpfen der Menschen verfestigen können. Auf dieser Grundlage fällt es etwa der heutigen FPÖ nicht wirklich schwer, mit rassistischen Vorurteilen zu arbeiten bzw. diese zu verstärken. Es ist letztendlich also der Staat, der verantwortlich ist, dass rassistische Ideen in die Bevölkerung eindringen und aufrechterhalten werden.

Kapitalisten profitieren

Damals wie heute hilft Rassismus dabei, die Werktätigen gegeneinander auszuspielen, und zu verhindern, dass diese sich wirksam gegen ihre Bosse wehren, die sie alle, unabhängig von ihrer Herkunft oder Hautfarbe, ausbeuten. Rassismus widerspricht den Interessen aller Arbeiter_innen. Eine gespaltene Arbeiter_innenklasse schädigt nämlich alle Werktätigen bzw. auch jene, die nicht unmittelbar unter dem Rassismus leiden.

Rassismus in der Europäischen Union

Rassismus in der Europäischen Union

Während die werktätige Klasse kein Interesse an einer Spaltung ihrer selbst haben kann, sind es die Kapitalisten, die letztendlich ein Interesse am Weiterbestehen des Rassismus haben, weil sie materiell davon profitieren: erstens können die „ausländischen“ Arbeiter_innen leichter und stärker ausgebeutet werden, da sie – über weniger Rechte verfügend und rassistischen Medienkampagnen ausgesetzt – oft nicht das nötige Selbstvertrauen besitzen, das man braucht, um gegen seine Ausbeuter zu kämpfen. Zweitens kann – vor allem in Krisenzeiten – die rassistische Karte gespielt werden, die einheimische von ausländischen Arbeiter_innen trennt und dadurch einen potentiellen gemeinsamen Kampf gegen Arbeitgeber verhindern, da der Eindruck vermittelt wird, der österreichische Arbeiter hätte mehr mit seinem österreichischem Boss gemeinsam als mit seinen ausländischen Kolleg_innen, die tagtäglich neben ihm am Fließband stehen.

Irrweg „Multikulturalismus“

Multikulturalismus wird heute schärfer denn je von rechts kritisiert, aber auch von fortschrittlichen Liberalen. Die Rechten behaupten, dass die „einheimische“ Bevölkerung an Orten mit hohem „Ausländeranteil“ benachteiligt sind. Interessanterweise zeigen Wahlanalysen, dass die FPÖ in solchen Gegenden wenig Stimmen bekommt. Liberale behaupten andererseits, dass zu viel Toleranz gegenüber den „Fremden“ zur Entstehung einer Parallelgesellschaft führt. Vor allem Muslim_innen wird nachgesagt, dass sie von dort aus einen Dschihad führen und die westliche Gesellschaft und ihre Werte unterwandern wollen.

Beide Behauptungen halten keinerlei Überprüfung stand, aber sie erreichen mehr als die Angriffe von rechts, nämlich die Akzeptanz des modernen Rassismus in großen Teilen des linken und liberalen Lagers und sie liefern die perfekte Grundlage für Angriffe auf die Menschenrechte durch unsere Regierungen.

Aber auch aus marxistischer Sicht birgt Multikulturalismus ernste Gefahren in sich, da er Unterschiede zwischen den Werktätigen, wie Herkunft oder Religion, betont, anstatt die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Der Schriftsteller Kenan Malik meint dazu treffend, dass das „Konzept der Differenz immer schon Kernstück nicht etwa der antirassistischen, sondern der rassistischen Denkart“ war und dass die „Schaffung einer multikulturalistischen Gesellschaft auf Kosten einer Gesellschaft geht, in der mehr Gleichheit herrscht“.

Klasse statt Rasse

Letztendlich wird Rassismus nie vollständig überwunden werden, solange es die obszönen Unterschiede zwischen Arm und Reich gibt und die Benachteiligung einzelner Gruppen von Arbeiter_innen gegenüber anderen.

Aber schon im Kampf gegen diese Ungerechtigkeiten entsteht eine Dynamik, die kollektives Handeln und Denken stärkt, während in Abwesenheit kollektiver Kämpfe individualistisches Denken und Konkurrenz zwischen den Werktätigen aufblühen. Dieselben Arbeiter_innen, die heute noch über „Ausländer“ schimpfen, können schon morgen, wenn sie Teil offensiver Kämpfe gegen die wahren Ursachen sozialer Krisen sind, ihren eigenen Rassismus überwinden.

Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.