Dr. Seltsam… oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben

Über vier Jahrzehnte lebte die Menschheit unter der permanenten und sehr realistischen Bedrohung der völligen atomaren Vernichtung. Die USA und die stalinistische Diktatur in Russland fanden sich sofort nach Ende des Zweiten Weltkriegs in einer tödlichen imperialistischen Umklammerung. Ein Fehler, ein falscher Knopfdruck konnte jederzeit aus dem „Gleichgewicht des Schreckens“ die Apokalypse machen. Kubricks „Dr. Seltsam“ macht diesen Horror mit galligem Humor greifbar.
30. Oktober 2015 |

Kunst und Kultur reagierten mit zahlreichen Werken, die den nahenden Untergang thematisierten, ganze Generationen rechneten mit der baldigen Vernichtung. 1964 brachte ein Gigant der Filmgeschichte, Stanley Kubrick, das Thema in Form einer tiefschwarzen Satire auf die Leinwand. Fast alle von Kubricks Filmen setzten Maßstäbe, revolutionierten ganze Genres. Man denke nur an „2001 – Odyssee im Weltall“, „Uhrwerk Orange“, „Shining“ oder „Full Metal Jacket“. Doch „Dr. Seltsam – oder wie ich lernte die Bombe zu lieben“ gilt vielen als einer der besten Filme aller Zeiten.

Dabei ist er beinahe als Kammerspiel inszeniert, spielt praktisch an nur drei Motiven. Das erste ist der „War Room“, die Planungszentrale im Pentagon, das zweite das Cockpit eines B-52-Bombers und das dritte die Burpleson Air Force Basis. Der geniale Komödiant Peter Sellers („Der rosarote Panther“, „Inspektor Clouseau“) spielt in „Dr. Seltsam“ gleich drei Rollen, den braven britischen Austauschoffizier Mandrake, den hilflosen US-Präsidenten und den wahnsinnigen Nazi-Wissenschafter Dr. Seltsam, der den Präsidenten berät.

Klaustrophobische Atmosphäre

Zu Beginn des Films wird uns mitgeteilt, dass die Russen an einer Weltvernichtungsmaschine arbeiten, die auf einen US-Angriff automatisch mit der Vernichtung der Erde reagieren würde. In der Luftwaffenbasis Burpleson beschließt der zigarrenschmauchende General Ripper in Eigenregie die Sowjetunion anzugreifen.

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Er erklärt Captain Mandrake, (Peter Sellers) seine Sicht der Dinge: Der Krieg sei zu wichtig, um ihn Politikern zu überlassen. Er könne nicht länger zusehen, wie „kommunistische Infiltration, kommunistische Indoktrination, kommunistische Subversion und die internationale kommunistische Verschwörung unsere kostbaren Körperflüssigkeiten aussaugen und verunreinigen“. Eine der hinterhältigen Methoden der Kommunisten sei die Fluoridierung des Trinkwassers. Die Satire ist allerdings nicht weit entfernt von der Sprache, die damals in westlichen Medien üblich war.

Im Verlauf des Films wird immer wieder zwischen den drei Orten des Geschehens hin und her geschnitten, wobei die Musik eine tragende Rolle beim Spannungsaufbau spielt. Kubrik hat sich entschlossen, den Film schwarz/weiß zu drehen, was perfekt zur Thematik passt, besonders die Szenen im Bomber bekommen dadurch eine unglaublich klaustrophobische Stimmung. Selbst die mächtigen Männer im Rund des War Rooms wirken eingesperrt.

Der Ritt auf der Atombombe

Als der General ein Geschwader seiner Bomber losschickt, kämpft Mandrake, der als einziger vernünftig zu denken scheint, darum, den Präsidenten zu erreichen bzw. den Bombern einen Abbruchcode zu senden. Es gelingt, die Bomber abzufangen, nur ein einziges Flugzeug, dessen Funkgerät beschädigt wird, bleibt weiter auf dem Kurs nach Russland.

Von der Erzählstimme haben wir erfahren, dass ein einziger B-52-Bomber 50 Megatonnen Explosionskraft abwerfen kann, was dem 16-fachen der Kraft aller im Zweiten Weltkrieg explodierten Bomben und Granaten entspricht. Als der Bombenschacht klemmt, bemüht sich der der Kapitän, Major Kong, den Mechanismus zu reparieren und setzt sich dazu rittlings auf die Bombe. Der Schacht öffnet sich unerwartet und es kommt es zu dem berühmten und hoch symbolischen Moment, in dem er auf der Bombe Richtung Erde „reitet“ und dabei seinen Cowboyhut schwenkt.

Die USA und ihre Nazis

Im War-Room wird dem Präsidenten, den Generälen und Beratern klar, dass das Flugzeug nicht aufzuhalten ist und damit die Vernichtung der Menschheit bevorsteht. Doch der Schock hält nicht lange an, denn nun kommt der große Moment des Dr. Seltsam. Er trägt begeistert den Plan vor, per Computer die geeignetsten Kandidaten auszuwählen und mit ihnen in unterirdischen Bunkeranlagen die menschliche Rasse neu heranzuzüchten.

Endgültig begeistert sind die Militärs, als er vorschlägt, dass natürlich auf jeden Mann zehn Frauen zu Vermehrungszwecken kommen müssten. Ebenso natürlich müssten unter den Geretteten die politischen und militärischen Führer des Landes sein.

Dr. Seltsam steht für die zahlreichen, belasteten Nazi-Wissenschaftler, die die US-Behörden nach Kriegsende rekrutiert hatten.

Es fällt dabei nicht weiter auf, dass er beginnt, den Präsidenten mit „mein Führer“ anzusprechen und sein rechter Arm sich wie von selbst nach vorne strecken will.

Dr. Seltsam steht für die zahlreichen, belasteten Nazi-Wissenschaftler, am bekanntesten der Raketenexperte Wernher von Braun, die die US-Behörden nach Kriegsende rekrutiert hatten, neben SS-Offizieren, die als Experten für die Sowjetunion gebraucht wurden.

Politiker und Militärs taten „Dr. Seltsam“ seinerzeit als völlig unglaubwürdig ab, als pro-kommunistische Propaganda wurde er sowieso attackiert. Doch Kubrick hatte seine Hausaufgaben gemacht. Das amerikanische Intellektuellenblatt „New Yorker“ veröffentlichte erst letztes Jahr einen Artikel unter dem Titel „Beinahe alles in Dr. Seltsam ist wahr“, in dem nachgewiesen wird, dass es zu genau so einem Vorfall hätte kommen können. Und leider stehen sich auch heute noch atomar bewaffnete imperialistische Großmächte gegenüber. Die Gefahr ist keineswegs gebannt.

Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.