Europa: Vor der faschistischen Flut?
Die schreckliche Gleichgültigkeit gegenüber der FPÖ ist einer besorgten bis alarmierten Stimmung gewichen. Man sieht keine migrantischen Familien mehr, die ihren Kindern blaue FPÖ-Luftballons in die Hand drücken. Antifaschistische Proteste in Wien bekommen immer mehr Zuspruch von Menschen mit muslimischem Hintergrund. Viele Menschen, die in der Vergangenheit auf die magischen „Selbstreinigungskräfte“ der Demokratie gesetzt haben, müssen einsehen, dass Demokratie etwas sehr Fragiles ist. Sie mag in Zeiten wirtschaftlicher und sozialer Stabilität stabil ausgesehen haben, aber sie ist zunehmend unter Beschuss geraten. Und nicht nur das. Die zunehmende Sympathie der führenden Eliten im Westen für autoritäre Lösungen ist augenscheinlich. Immerhin präsentieren sie sich als die Wächter von Recht und Ordnung, aber spätestens seit dem Genozid in Gaza können sie dieses Image auf der Müllhalde der Geschichte entsorgen.
Beispiel Frankreich
In Frankreich konnte der Sieg des RN/FN nur mit äußerster Not verhindert werden. Die wenigen Wochen zwischen Europawahlen und Parlamentswahlen haben einen tiefen Eindruck hinterlassen. Es war wichtig, dass sich mit der Volksfront eine linke Alternative zu Le Pen formiert hat. Noch wichtiger war, was dadurch ausgelöst wurde: beinahe tägliche Proteste auf Frankreichs Straßen, die Einbeziehung von Basisinitiativen, Selbstaktivität von hunderttausenden Menschen anstelle von fadenscheinigen Aufrufen korrekt zu wählen. So stieg die Wahlbeteiligung von 47,5 auf 67 Prozent und die Linke gewann die Wahlen.
Seid alarmiert
Die Menschen dürfen nach den Jahren der Apathie zwar nicht in Panik verfallen, aber wir müssen uns politisch sehr gut aufstellen. Die Rechten werden zwar noch keine ausgewachsenen faschistischen Diktaturen implementieren können, aber sie werden alles tun, die Bedingungen für Faschismus zu verbessern. Und das heißt vor allem anderen, die Linke schwächen, die Gewerkschaften angreifen, Polizeiapparat, Militär und Justiz durchsetzen. Und sie müssten beginnen, die bei ihren Wähler:innen geweckten Erwartungen zu erfüllen. Sie haben versprochen, hart durchzugreifen, zum Beispiel gegen die Klimaschutz-Aktivist:innen, gegen Asylwerber:innen oder gegen jugendliche Störenfriede ganz allgemein. Also müssen sie es auch durchziehen. Und die offizielle Antwort wird ein Lobgesang auf die Polizei sein und Rufe nach noch mehr Polizei und noch mehr Härte.
Sündenböcke nicht zulassen
Die Linke muss verstehen, dass mit dem Machtantritt der Faschisten eine Abwärtsspirale angekurbelt wird, die ganz schwer aufzuhalten sein wird. Man darf sich nie mit Rechtsextremen oder Faschisten an der Macht abfinden. Man kann auch ihre Zeit an der Macht nicht einfach durchtauchen, denn sie werden ihre Gegner und vor allem ihre Opfer verfolgen. Die rechte Wählerbasis erwartet Befriedigung durch ausländerfeindliche Politik, auch wenn es ganz klar die Migrant:innen waren und sind, die am meisten unter allen Einsparungen und dem Abbau von sozialen Strukturen gelitten haben und es weiter tun. Aber das politische Establishment hat jahrzehntelang das Bild vom störenden Ausländer geprägt, von unaufhaltbaren Asylwerbern oder von gefährlichen Islamisten. Gleichzeitig ist die Verarmung vorangeschritten und eine skandalöse Kluft zwischen reich und arm öffnet sich immer weiter. Die Rechten können und wollen an dieser Kluft nichts ändern, aber sie werden Sündenböcke dafür präsentieren und öffentlich auspeitschen.
Gewerkschaft lebt
Warum glauben wir, dass Meloni oder Kickl noch nicht in der Lage sind, Faschismus zu installieren? Erstens haben wir noch funktionierende Gewerkschaften. Man nehme Orbán, zweifellos ein skrupelloser, rechtsextremer Nationalist mit antidemokratischen Zügen, aber die ungarischen Gewerkschaften könnten ihn mit Leichtigkeit stürzen. Dass sich die Gewerkschaften heute verweigern politische Kämpfe zu führen, ist eine tragische Realität, aber die kann leicht überwunden werden. In einer faschistischen Diktatur dagegen gibt es gar keine Gewerkschaften oder andere Formen von Arbeiterdemokratie. Streikende werden erschossen, potentielle Anführer:innen, die Aktivist:innen von heute, verschwinden in Lagern oder werden ermordet. Das ist Faschismus. Dorthin kommen Faschist:innen nur über Bürgerkriege und über die totale Ausschaltung der Demokratie. Hitler und Mussolini haben die Macht ausgehändigt bekommen, nachdem sie bewiesen haben, dass sie bei der Ausschaltung der Gewerkschaften zu äußerster Grausamkeit bereit sind.
Führer und Meute
Zweitens unterscheidet sich Faschismus von anderen Formen der Diktatur durch die Rolle, die der „Mob“ oder die faschistische Meute einnimmt, oder in anderen Worten durch die Rolle einer Bewegung von unten. Oft genug sind es akademisch gebildete Söhne aus gutem Haus, die hier als Mob posieren. Typisch für Faschismus war, dass die Dynamik immer wieder durch diese Meute bestimmt worden ist, durch die Schwarzhemden in Italien, durch die SA in Deutschland, oder heute ansatzweise wieder durch Neonaziaufmärsche, die lautstark und hysterisch dasselbe fordern wie ihre Führer. Faschismus entmachtet zwar die kapitalistischen Eliten nicht, aber er lässt sich auch nicht vollständig von ihnen kontrollieren. Hitler hat der SS die Zügel sehr locker gelassen, wenn er Widerstand der deutschen Eliten gegen seine Kriegsführung durchbrechen musste. Das Doppelspiel zwischen dem faschistischen Führer und einer ihm hörigen gewaltbereiten Bewegung ist ein ganz entscheidendes Element von Faschismus. Anfang August wurden israelische Militärbasen „von einer aufgebrachten Meute“ von Siedlern gestürmt, die dem Ruf faschistischer Politiker gefolgt sind, Soldaten, die gefoltert, gemordet und vergewaltigt haben, vor der Justiz zu beschützen. Das hat alle Elemente, die wir aus dem historischen Faschismus kennen, und das zeigt uns auch, was wir hierzulande verhindern müssen. Man darf die Neonazis der Identitären und anderer Banden niemals auf den Straßen stark werden lassen.
Ausloten was möglich ist
Trump, Meloni, Kickl, Le Pen, Höcke, sie alle sind ständig dabei auszuloten, wie weit sie gehen können, wie weit sie den „liberalen Kompromiss“ hinter sich lassen können. Sie sind sich uneinig, wie weit sie gehen können. Nach den Enthüllungen über das Nazi-Treffen in Potsdam, wo Martin Sellner Stimmung für Massendeportationen gemacht, haben sie alle unterschiedlich reagiert. Die AfD hat geleugnet und abgestritten, Le Pen hat die AfD aus ihrer EU-Fraktion ausgeschlossen, Kickl ist keinen Millimeter zurückgewichen. Er ist offenbar überzeugt davon, dass er mit antidemokratischen Rechtsbrüchen heute schon sehr weit kommen kann. Welche Schlüsse werden diese Leute aus dem Krieg gegen die Menschen in Gaza ziehen? Offensichtlich kommt Netanjahu mit einem Live übertragenen Völkermord durch – wenn man die Huthis und den Iran ausnimmt, dann setzt ihm keine Regierung der Welt Grenzen. Im US-Kongress bekam der Massenmörder stehenden Applaus, trotzdem der Internationale Strafgerichtshofs die Verhaftung von Netanjahu beantragt hat. Wie wird Trump diese Politik weiterführen?
Faust statt Finger
Mit Sicherheit werden die rechten Führer erkannt haben, dass die erhobenen Zeigefinger der Liberalen nichts mehr sind als das – einzelne leicht zu brechende Finger. Man kann die Rechten nicht mit Ermahnungen aufhalten, man muss sie schlagen. Statt des Zeigefingers brauchen wir eine Faust, deren einzelne Finger zusammenhalten. Gemeint ist eine Bewegung, die vielfältig ist, die mit den von rechter Gewalt Betroffenen gemeinsam kämpft und die Bedrohung, die von Faschismus ausgeht, ernst nimmt. Wer Faschismus ernst nimmt, organisiert sich, solange er oder sie noch kann.