Frankreich und Indien: Massenstreiks entwickeln das Beste in den Arbeitern

Ende Dezember 2019: In den französischen Rathäusern und in den Amazon-Logistikzentren fällt der Strom aus, während er in den Häusern der Armen wieder angeschaltet wird. Streikende Arbeiter_innen sind dafür verantwortlich. Ähnliches ereignet sich am 8. Jänner in Indien, als Finanzunternehmen keine Transaktionen mehr durchführen können. 250 Millionen beteiligten sich am größten Generalstreik der Weltgeschichte. Diese Kämpfe zeigen, wie Solidarität im Kampf der Arbeiter_innen gegen das Kapital entsteht.
28. Januar 2020 |

Nach Jahren ohne steigende Löhne, mit sinkenden Pensionen und der Verteuerung des Lebensunterhalts hat die französische Arbeiter_innenklasse endgültig genug. Gigantische Demonstrationen, Streiks und Straßenkämpfe, angeführt von der französischen Gewerkschaft CGT und den Gelbwesten, zwingen die Regierung in die Defensive. Seit dem 5. Dezember werden Öl-Raffinerien blockiert, Tankstellen geht der Sprit aus, der öffentliche Nahverkehr steht still, Schulen werden bestreikt, Universitäten besetzt. Selbst in der Pariser Oper rebelliert das Personal und sammelt bei öffentlichen Konzerten Streikgelder.

Gegen die Normalität

Beinahe täglich beteiligen sich Tausende an wilden Demonstrationen von Paris bis in die kleinsten Ortschaften. Bis zu 1,5 Millionen Menschen nahmen im Dezember an Protestaktionen gegen die geplante Rentenreform teil. Sehr zum Missfallen von Premierminister Édouard Philipp, welcher Mitte Jänner in einer verzweifelten Pressekonferenz versuchte, die Arbeiter_innen zum Aufgeben zu bewegen. Die Botschaft des Premierministers lautet: „Der Streik scheint in einer Sackgasse zu sein und dauert mittlerweile viel zu lange.“ Doch sein Aufruf, zur Normalität zurückzukehren, trifft auf genauso wenig Resonanz wie sein Angebot vom 10. Jänner, die Anhebung des Rentenantrittsalters kurzzeitig zurückzunehmen, die Einsparungen von 10 Milliarden aber beizubehalten.

Die führende Gewerkschaft CGT erkannte den Versuch der Spaltung der Protestbewegung sofort und erklärte: „Die Streiks werden erst aufhören, wenn das gesamte Reformpapier im Schredder landet.“ Die Normalität, nach der die herrschende Klasse so verzweifelt ruft, wird von der französischen Online-Zeitung A2C („Autonomie de Class“ – Unabhängigkeit der Klasse) attackiert: „Macrons Welt ist eine Human Relations-Abteilung, die von tausenden Bereitschaftspolizisten geschützt wird. Es ist diese Welt, die wir zerstören müssen, weil wir nicht zulassen dürfen, dass sie uns zerstört. Es ist diese Welt die wir zerstören müssen, um zu erreichen, was wir wollen – alles“.

Gelbwesten

Der Beginn der Revolte in Frankreich wird auf den 17. November 2018 datiert. An diesem Tag versammelten sich um die 300.000 Menschen in ganz Frankreich, um Kreisverkehre zu blockieren. Eine Erhöhung der Treibstoffpreise hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Ausgehend von den Blockaden beteiligten sich Hunderttausende an Demonstrationen und Straßenkämpfen im ganzen Land. Die Wucht der Bewegung war so gigantisch, dass die Erhöhung der Treibstoffpreise bereits am 4. Dezember 2018 zurückgenommen werden musste. Einen Samstag später musste Macron die Erhöhung des Mindestlohns um 100 Euro, die Entlastung von Rentern_innen und einige andere Reformen ankündigen. Die Gelbwesten zeigten, es ist möglich die Herrschenden auf der Straße zu schlagen. Als Macron einen umfassenden Angriff auf den Sozialstaat im Dezember 2019 begann, mussten die Gewerkschaften Gegenmaßnahmen ergreifen. Es gelang, die Streikbewegung der Gewerkschaften mit den Protesten der Gelbwesten zu verbinden. Diese explosive Mischung trieb die Regierung in die Defensive.

Kämpfe, nicht Narrative

Die Streiks werden offensiv geführt, das bedeutet sie sind mit Blockaden von Unternehmen und gezielten Stromausfällen verbunden. Am 24. Dezember wurden Haushalte, welche ihre Rechnungen nicht bezahlen konnten, wieder ans Stromnetz angeschlossen. Ein Mitglied der CGT erklärte: „Wir nehmen die Kilowattstunden von den Reichen und geben sie den Armen zurück.“ Gleichzeitig wurde Amazon-Zentralen über Weihnachten der Strom abgedreht, damit Arbeiter_innen nicht schuften müssen. Die offizielle Erklärung der CGT zu dieser Aktion: „Jeder hat das Recht auf ein Weihnachtsfest im Kreise seiner Familie, unabhängig von seinem ökonomischen Status – dafür kämpfen wir.“

Elektriker der CGT drehen den Strom wieder an. © Syndicat CGT Energies 33


Am 21. Dezember besetzten 200 Aktivist_innen einen Supermarkt in der Stadt Aix-en-Provence und forderten, dass die Lebensmittel gratis verteilt werden. Am 21. Jänner mussten Prüfungen in Schulen aufgrund bewusster Stromausfälle abgesagt werden, die Gewerkschafter_innen wurden zu den Helden der Schüler_innen. Solche Aktionen führen dazu, dass die Regierungs- und Medienkampagnen gegen die Streikbewegung kläglich scheitern. Beinahe 80 Prozent der Bevölkerung lehnen das Reformpaket ab, um die 60 Prozent unterstützen die Streiks und Demonstrationen. Die Proteste zeigen uns, wie sich das Bewusstsein von Millionen Menschen in Windeseile verändern kann, nicht durch irgendwelche Diskurse oder Narrative, von denen Akademiker_innen permanent schwatzen, sondern durch die Selbstaktivität der Arbeiter_innenklasse. Genau das meinte Marx mit seinem berühmten Satz: „Die Befreiung der Arbeiter_innenklasse muss das Werk der Arbeiter_innenklasse selbst sein.“

Indien: 250 Mio. streiken

Indien ist nach China nicht nur der bevölkerungsreichste Staat der Erde, sondern entwickelt sich zusehends zu einer zentralen Produktionsstätte des globalen Kapitalismus. Mit diesem Wachstum des Kapitals – Indiens Wirtschaftswachstum liegt seit den 90er Jahren durchschnittlich bei rund sechs Prozent – wuchs auch die Arbeiter_innenklasse. Raju J. Das, ein indischer Marxist, schätzt ihre Größe auf um die 400 Millionen. Die Kampfbereitschaft dieser Klasse wächst: erlebten wir 2016 einen Generalstreik mit 180 Millionen Arbeiter_innen, waren es am 8. Jänner 2019 schon 200 Millionen und ein Jahr darauf, am 8. Jänner 2020, gigantische 250 Millionen Menschen. Das ist in etwa ein Sechstel der indischen Bevölkerung (ein Dreißigstel der Weltbevölkerung).

Der Streik richtet sich gegen Privatisierungen von staatlichen Öl- und Gasvorkommen, Zusammenlegungen von Staatsbanken und die Privatisierung der Fluglinie Air India, genauso wie gegen die gesamte „Anti-Arbeiter- und Anti-Menschen-Politik“ des rechtsautoritären Präsidenten Modi, erklärten die führenden Gewerkschaften. Studierende und Farmer_innen beteiligten sich an den Streikaktionen, die das Land einen Tag lang lahmlegten. Am Vortag drohte die Regierung den Arbeiter_innen noch mit „angemessenen Disziplinarmaßnahmen“ – übersetzt: Kündigung für alle Streikenden. Doch keine Regierung der Welt kann einem Sechstel der Bevölkerung kündigen, dieser Macht sind sich die Arbeiter_innen bewusst. Der ökonomische Schaden des Streiks dürfte in die Milliarden Dollar gehen.

Gratis Bankabhebungen

Ähnlich wie auch in Frankreich führte die Streikbewegung zu einer Massensolidarität der Ausgebeuteten gegen die herrschende Klasse. In der indischen Provinz Uttar Pradesch sorgten Bankangestellte dafür, dass Bankautomaten Geld ohne Abbuchungen von den Konten der Kund_innen ausspuckten. Im Zuge der Eisenbahner_innenstreiks wurden hunderte Ticketautomaten zertrümmert, damit jeder die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen konnte. Stellenweise setzte die Polizei scharfe Munition gegen Demonstrant_innen ein. Am beeindruckendsten war aber, dass auf Streikdemonstrationen immer wieder Slogans gegen das neue Staatsbürgerschaftsgesetz, welches eingewanderten Muslim_innen den Erwerb der Staatsbürgerschaft unmöglich macht, gerufen wurden. Der gemeinsame Kampf von muslimischen und hinduistischen Arbeiter_innen eröffnet die Möglichkeit, den Rassismus der Modi-Regierung zu überwinden.

Raju J. Das betont in seinem Artikel Indiens Wahlen 2019 im International Socialism Journal, wie wichtig dieser gelebte Antirassismus ist. Er zeigt, dass ökonomische Massenstreiks alleine nicht ausreichen, um Staat und Kapital zu stürzen. Die Linke schnitt bei den vergangenen Wahlen für ihre Verhältnisse miserabel ab. Dies liegt u.a. an der ultra-hinduistischen, anti-muslimischen Politik von Modis Indischer Volkspartei. Sie verfügt über 100 Millionen Mitglieder und wird von der mächtigsten faschistischen Organisation der Welt, der RSS (über 5 Millionen Mitglieder), unterstützt. Diese organisiert Pogrome gegen Muslim_innen, 2002 ermordete sie über 1.000 Menschen.

Wir können gewinnen

So unterschiedlich die Kämpfe in Frankreich und Indien auch sein mögen, die Angst der herrschenden Elite wenn sich die Ausgebeuteten erheben, ist immer zu beobachten, genauso wie die Fähigkeiten einfacher Menschen, nicht nur die Welt lahmzulegen, sondern in diesen Kämpfen auch Perspektiven auf eine vernünftige Gesellschaft zu eröffnen. Eine Gesellschaft, in der niemand ohne Strom oder Nahrung leben muss, weil er kein Geld hat, und niemand Angst davor haben muss, zur falschen ethnischen oder religiösen Gruppe zu gehören.