Fünf Jahre arabische Revolutionen: Die Hoffnung lebt noch in Ägypten

Vor fünf Jahren inspirierten Proteste in Tunesien Revolutionen in den umliegenden Ländern, besonders entscheidend in Ägypten. Judith Orr sprach mit Sameh Naguib über die Ereignisse – und die Lehren daraus für Sozialist_innen.
24. Januar 2016 |

Im Jänner 2011 zündete sich der Straßenhändler Mohamed Bouazizi in Tunesien selbst an, nachdem die Polizei ihn wegen seines Verkaufstands schikaniert hatte. Wie hat das den revolutionären Prozess in Ägypten losgetreten?

Die Demonstrationen in Tunesien wuchsen auf eine Art, wie wir es im arabischen Raum seit Jahrzehnten nicht gesehen hatten. Alle konnten im Fernsehen mitverfolgen, wie die Ereignisse sich entfalteten. Sie hatten einen elektrisierenden Effekt, besonders als der Slogan „Das Volk will das Ende des Regimes“ erhoben wurde.

Als der tunesische Präsident Ben Ali das Land verlassen musste, machte das einen starken Eindruck auf Aktivisten und junge Leute in Ägypten. Hier waren schon länger Proteste gegen die Polizei für den 25. Jänner vorbereitet worden. Doch wegen der Geschehnisse in Tunesien konnten sie größer als üblich werden.

Wann habt ihr bemerkt, dass diese Proteste anders werden würden als alles, was davor stattfand?

Das haben wir sehr bald gesehen. Die Demonstrationen begannen um die Mittagszeit. Aber die Geschwindigkeit, mit der sich Menschen anschlossen und die Demos in Massenproteste verwandelten, schockte sowohl Aktivisten als auch Polizei. Diese war darauf nicht vorbereitet. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten standen sie als kleiner werdende Minderheit einer riesigen Welle von Menschen gegenüber.

Alle wollten instinktiv zum Tahrir-Platz. Niemand erwartete, ihn zu erreichen. Als die Polizei begann, den Kampf zu verlieren, erreichten wir den Platz in einem Zustand der Erschöpfung. Aber da war auch Freude und Aufregung und Versammlungen und Diskussionen, was wir als nächstes tun sollten.

Was waren die wichtigsten Momente in den ersten 18 Tagen der Revolution?

Binnen zwei Tagen schaltete das Regime von Hosni Mubarak Internet und Mobilfunknetze aus. Es wollte damit den Aufbau noch größerer Demonstrationen für Freitag, den 28. Jänner erschweren. Die wirkliche Revolution begann an diesem Tag. Alle Polizeistationen in Kairo wurden niedergebrannt und die Polizei löste sich als organisierte Kraft auf.

Die Szenerie auf dem Tahrir-Platz war fast surreal. Man konnte das Hautquartier der regierenden Partei brennen sehen, Rauch drang daraus hervor und weit und breit war keine Polizei zu sehen. Die schiere Menge an Menschen, die den ganzen Tag lang auf den Tahrir strömte, war etwas, das ich noch nie zuvor gesehen hatte.

Zum zweiten bedeutsamen Ereignis kam es am 2. Februar, als Polizei und Schlägertruppen versuchten, auf den Tahrir-Platz vorzudringen. Die ganze Nacht hindurch kam es zu heftigen Kämpfen.Verschiedene politische Strömungen organisierten gemeinsame Strukturen, um den Platz zu verteidigen. Viele starben.

Der dritte Schlüssel-Moment war, als Hosni Mubarak seine letzte Fernseh-Ansprache hielt und sagte, er würde nicht zurücktreten. Die Leute machten sich bereit, zum Präsidentenpalast zu  marschieren und ihn zu stürmen. Die Reaktion auf diese Rede zu sehen war fantastisch. Ich werde nie den Anblick hunderttausender Menschen vergessen, die Schuhe schwenkten und die Leinwände anbrüllten. Diese Intensität des Zorns ist nur vergleichbar mit der Intensität der Freude am 11. Februar, als der Vizepräsident Mubaraks Rücktritt verkündete. Die Feiern dauerten die ganze Nacht.

Im Rückblick auf die folgenden Ereignisse, was waren die Schwächen der revolutionären Bewegung?

Die wichtigsten Organisationen der politischen Opposition, wie die Muslimbruderschaft, verbündeten sich mit der herrschenden Militärjunta – SCAF – die die Macht nach Mubaraks Sturz übernommen hatte. Sie setzten auf einen Wahlprozess und wollten die revolutionären Wellen stoppen. Diese Wellen zogen weiterhin neue Gruppen von Unterdrückten in den Kampf und lösten immer mehr Streiks aus.

Die radikale Linke verfügte nicht über die Massenorganisationen, die die Revolution hätten vertiefen können. Wir (die Revolutionären Sozialisten) waren zu schwach im Vergleich zu den großen reformistischen Organisationen und die hauptsächliche Strömung in der Linken war stalinistisch. Beide wollten die Revolution eingrenzen. Dieses Erbe machte es sehr schwierig für die radikale Linke, Organisationen aufzubauen, die die Muslimbruderschaft und andere reformistische Strömungen herausfordern hätten können.

Die herrschende Klasse konnte eine effektive Konterrevolution aufbauen. Wie war das möglich?

Die Muslimbruderschaft fuhr fort, dem Militär Zugeständnisse zu machen, sogar bevor sie an die Macht kam. Sie wollte sich als „verantwortlich“ darstellen. Sie wollte zeigen, dass sie die Massen kontrollieren und die Revolte in den Straßen eindämmen konnte. Das erlaubte der Polizei und dem militärischen Establishment sich neu zu formieren und ihre Kräfte neu aufzubauen. Sie schufen eine Welle der Angst, indem sie gegen die Muslimbruderschaft mobil machten. Sie behaupteten, die Bruderschaft würde Ägypten in eine theokratische Diktatur verwandeln und das Land ins Chaos führen.

Während der Präsidentschaft des Muslimbruderschaft-Kandidaten Mohamed Mursi, sorgten die (alten) Kräfte des Staats für ein Gefühl der Unsicherheit in der Mittelschicht. Autos wurde gestohlen, es gab Entführungen und Überfälle. Das Militär behauptete, es könne Stabilität, Jobs und ein normales Leben zurückbringen. Das erzeugte eine Resonanz in weiten Kreisen der Mittelschicht, besonders da Mursi der Revolution nichts zu bieten hatte. Seine Politik setzte den Neoliberalismus fort und öffnete den Weg für die Konterrevolution.

Präsident Abdelfattah al-Sisi ist das Gesicht der Konterrevolution. Ist es ihm gelungen, allen Widerstand zu brechen?

Trotz unvergleichbarer Repression kommt es immer noch zu Streiks und Demonstrationen, in denen der Geist und die Slogans der Revolution herrschen. Ich bezweifle, dass das Sisi-Regime die Kapazitäten hat, das völlig zu zerstören. Sisi hat keine neue politische Maschine. Er hängt von denselben korrupten Geschäftsleuten, Generälen und Bürokraten der alten herrschenden Partei ab, die die Revolution überhaupt erst provoziert haben.

Es gibt kein neues ökonomisches Projekt, keine neue politische Partei. Und die Repression ist zurück. Alleine im November 2015 wurde in Polizeistationen in ganz Ägypten 13 Menschen zu Tode gefoltert. Die Polizei hat wieder begonnen, die Leute auf extreme Art zu misshandeln. Das war ein weiterer Auslöser der Revolution. Die Erfahrung der Revolution, die gewöhnliche Leute gemacht haben, ist nicht ausgelöscht. Und das alte Regime hat nichts anzubieten.

Sozialisten verstehen Revolution als einen Prozess und nicht so sehr als einzelnes Ereignis. Was sind die Hoffnungen für die Zukunft?

Ich bin sehr vorsichtig, die Niederlage nicht kleinzureden. Aber Ägypten nach der Revolution wird niemals wieder dasselbe Ägypten sein wie vor der Revolution. Die Revolution veränderte die Hoffnungen, die Sehnsüchte und Erwartungen der Menschen und eröffnete die Möglichkeit einer zweiten Revolution. Weil unsere  Gegner das wissen, müssen sie repressiver vorgehen, als es Mubarak je tat. Die herrschende Klasse ist verängstigt und versucht, den Geist der Revolution zu zerstören.

Das Leben unter Sisi ist unerträglich und unhaltbar – und es wird nicht andauern. Es gibt also eine Menge Gründe, hoffnungsvoll auf die kommenden Jahre zu blicken. Wir müssen die revolutionäre Bewegung, die Erfahrungen von kurzfristigem Sieg und von Niederlage gemacht hat, neu aufbauen. Und wir müssen aus den Erfahrungen der Revolution lernen.

Ägypten ist das größte und wichtigste Land der Region. Welchen Einfluss hatten die Kämpfe hier in den weiteren Regionen?

Die positive Auswirkung des Erfolgs der ägyptischen Revolution auf die Region war gigantisch. Es kam zu Revolten in Bahrain, Syrien, Libyen und im Jemen, wo dieselben Slogans genutzt wurden. Der aktuelle Erfolg der Konterrevolution hat jetzt auch Auswirkungen in der gesamten Region. Aber der positive Effekt der revolutionären Periode auf die Erfahrung von Millionen Ägyptern wird nicht einfach verschwinden.

Kann mehr getan werden, um die Realität des Sisi-Regimes bloß zu legen, während ihn westliche Politiker hoffieren?

Internationale Solidarität ist zentral. Der Grad der Solidarität mit der Bewegung gegen Sisi im Westen ist niedriger als er sein sollte. Alleine im November sind 40 Personen verschwunden. Dutzende wurden in Polizeistationen und Gefängnissen vergewaltigt und gefoltert. Gefangenen werden Nahrung, Decken und medizinische Versorgung verweigert.

Islamfeindlichkeit und Ablehnung der Muslimbruderschaft sind Teil der Ursachen dafür, dass es nicht mehr internationale Solidarität gibt. Wir brauchen eine lautere Kampagne gegen dieses Regime. Solidarität zählt.

Sameh Naguib ist Mitglied der Revolutionären Sozialisten in Ägypten. Der Artikel ist zuerst erschienen im Socialist Worker. Übersetzung von Tom-Dariusch Allahyari.
Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.