„Hass“
Ein Moment, der immer noch Gänsehaut erzeugt. Ein Molotowcocktail fliegt auf den Planeten Erde zu, zerschellt auf dem Beton, wunderschöne, bläuliche Flammen breiten sich aus, entfalten sich wie eine Blüte. Dann wird der Kontext klar: wütende Jugendliche mit nordafrikanischen Wurzeln liefern sich Kämpfe mit der französischen Polizei.
Unterlegt ist die Szene mit Bob Marleys unsterblichem Song „Burnin´ and Lootin´“ (Brennen und Plündern), in dem die Textstelle „Burning all Illusions Tonight …“ so interpretiert werden kann, dass für die hoffnungsfrohen Einwanderer_innen nun all ihre Illusionen in ein gerechtes, friedliches Leben in der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich zu Grabe getragen werden. Wie „Hass“ schafft es der Song resigniert und kämpferisch zugleich zu sein.
„Hass“ erzählt in zurückhaltenden, dokumentarischen S/W-Bildern von drei Jugendlichen aus Chanteloup-les-Vignes – einer der „Banlieues“, der berüchtigten Vorstädte von Paris – die eine Demonstration gegen Polizeigewalt hinter sich haben. Mit langen Kamerafahrten und sparsamen Schnitten wird der Eindruck eines totalen Realismus geschaffen. Der Grund für den „Hass“ der Jugendlichen ist die rassistische Polizeigewalt, die immer wieder Menschenleben fordert. In der Realität ist diese Gewalt in Frankreich bis zum heutigen Tag präsent, schafft es aber nur selten in die Medien.
Mord im Polizeirevier
Der erst 26-jährige Regisseur Mathieu Kassovitz war 1993 von einem leider sehr realen Ereignis berührt und inspiriert, nämlich von dem Mord an Makomé M‘Bowole. Laut Amnesty International beweist ein Gerichtsgutachten, dass ein Polizist den 17-jährigen zairischen Staatsbürger Makomé M‘Bowole, der zuvor unter dem Verdacht des Zigarettendiebstahls festgenommen worden war, mit einem an der Schläfe angesetzten Schuss hingerichtet hatte. Der Bursche war mit Handschellen an einen Heizkörper gekettet gewesen.
Brutale Gewalt und tödliche Schüsse gegen Jugendliche aus „Problemvierteln“ waren für die Polizei Routine.
Die Amnesty-Berichte über Frankreich in den 1990er-Jahren jagen einem einen Schauer über den Rücken. Brutale Gewalt und tödliche Schüsse gegen Jugendliche aus „Problemvierteln“ waren für die Polizei Routine.
Diese blutigen Verbrechen ereigneten sich vor dem ökonomischen Hintergrund der radikalen Sparmaßnahmen der Regierung von Alain Juppé und dem Aufbäumen der Gewerkschaften dagegen. Das Land war durch kämpferische Streiks nahezu gelähmt. Bei der Premiere des Films in Cannes wendeten die Polizisten dem Regisseur den Rücken zu, um gegen den „Anti-Polizei-Film“ zu protestieren. Der damalige Führer des Front National, Jean-Marie Le Pen stürmte persönlich in den Saal um lautstark die Verhaftung der Filmemacher zu fordern.
Community und Klassenaspekt
„Hass“ begleitet die drei Freunde Vinz (Vincent Cassel), Saïd (Saïd Taghmaoui) und Hubert (Hubert Koundé) einen Tag lang. Inmitten einer erdrückenden Betonlandschaft ist ihr Leben geprägt von Kleinkriminalität und der ständigen Bedrohung durch rassistische Polizisten, vor allem aber durch Langweile. Doch das Viertel ist nicht nur trostlos. Aus offenen Fenstern dröhnen Hip-Hop-Beats, großartig z.B. Cut Killers „Nique La Police“ (Fuck the Police) – eine gewisse Community ist spürbar.
Zusammenstöße mit der Polizei und mit Nazi-Skins zeigen die direkten „Feinde“ der drei Burschen. Ein Ausflug in die Innenstadt, zu einer bürgerlichen Schicki-Micki-Kunstveranstaltung macht ihre soziale Ausgrenzung deutlich. Bei aller Schonungslosigkeit, mit der die Tristesse und Perspektivlosigkeit der Jugend in der Banlieue gezeichnet wird, entwickelt „Hass“ aber auch seinen ganz eigenen Humor, besonders in den Dialogen, die so klingen, wie sich Leute „von der Straße“ wirklich unterhalten und gar nicht wie vorgefertigte Texte.
Mit der engen Freundschaft von Vinz, Saïd und Hubert feiert „Hass“ auch einen Zusammenhalt verschiedener, unterdrückter Gruppen in einer Ghetto-artigen Situation. Was nämlich vielen erst bei mehrmaligem Ansehen des Films auffällt: Vinz ist osteuropäischer Jude und Saïds muslimische Familie stammt aus Nordafrika. Die Freundschaft der drei überwindet Grenzen, die heute wohl viel strikter eingehalten werden. Es fällt auf, dass Religion 1995 noch keine große Rolle für die Identifikation von deklassierten Jugendlichen und deren medialer Darstellung gespielt hat.
Individuelle Rache?
Ein Bekannter der drei, Abdel, wurde bei den Auseinandersetzungen mit der Polizei am Vortag lebensgefährlich verletzt. Den ganzen Film hindurch überlegen die drei nun, wie sie reagieren sollen, sollte Abdel sterben. Vinz, der Aggressivste der drei, ist in den Besitz einer Polizei-Pistole gelangt. Er droht, blutige Rache zu nehmen. Saïd versucht, sein Leben mit Humor zu meistern, er versteckt seine Gefühle hinter einem Lachen.
Am Reflektiertesten ist die Rolle von Hubert angelegt. Nachdem randalierende Jugendliche aus dem Viertel seine geliebte Boxhalle zerstört haben, will er nur noch weg aus der Banlieue. Ihm übergibt Vinz am Schluss des Films die Waffe, er hat seine Rachepläne aufgegeben. Kurz darauf trifft Hubert auf einen besonders rassistischen Polizisten. Der hält ihm die Waffe an den Kopf um ihn einzuschüchtern – Ein Schuss löst sich.