Historischer Klimaprotest in Österreich: 150.000 beim Earth Strike!
„Hätte mir vor einem Jahr jemand gesagt, dass in Österreich 150.000 Menschen für eine bessere Klimapolitik auf die Straße gehen, hätte ich das sicher nicht geglaubt.“ Clara, 19 Jahre jung, ist eine von zehntausenden Demonstrantinnen am 27. September 2019 und hellauf begeistert vom größten Klimaprotest der österreichischen Geschichte.
80.000 Menschen streikten in Wien, 20.000 in Innsbruck, 15.000 in Linz, 8.000 jeweils in Graz und Salzburg, und weitere Tausende in Bregenz, Klagenfurt und Eisenstadt. Schon im Vorfeld war die Aufmerksamkeit für den Earth Strike so groß, dass die Bildungsdirektionen in Vorarlberg, Burgenland und Wien die Großdemos zu „schulbezogenen Veranstaltungen“ erklären mussten.
#AlleFürsKlima: Breites Bündnis
Angeführt wurden die Demos einmal mehr von den wunderbar rebellischen Schüler_innen. „Wir möchten betonen, dass wir nicht zum Spaß hier sind. Wir sind nicht deshalb hier, weil wir zu faul zum Lernen sind“, erklärten die beiden Schüler_innen Antonia Bittmann und Martin Hazler in ihrer Rede vor einer beeindruckenden Kulisse am Wiener Heldenplatz. „Wir sind hier, weil wir Angst um unsere Zukunft haben!“
Einen von vielen Gänsehautmomenten gab es vor dem Verkehrsministerium, als tausende Menschen „Power To The People“ sangen. Vor dem Haus des Meeres gedachte man wiederum in einer Schweigeminute an die Millionen Opfer der Klimakrise. Vor dem Haupteingang der Wirtschaftskammer spannten Aktivist_innen von System Change, not Climate Change in Anspielung auf Greta Thunbergs Rede beim UN-Klimagipfel in New York ein Transparent mit dem Spruch „Grüne Wachstumsmärchen? Wie könnt ihr es wagen!“ auf.
Über 80 Organisationen hatten über den Zusammenschluss klimaprotest.at den Earth Strike in unzähligen Arbeitsstunden zum Riesenerfolg gemacht, darunter Fridays for Future, NGOs wie der WWF, Greenpeace und Global 2000, #aufstehn, die Gewerkschaft der Privatangestellten, Druck, Journalismus, Papier (GPA-djp), Linkswende jetzt, die Plattform für eine menschliche Asylpolitik und das Österreichische Rote Kreuz.
Die Babies der „Zöpferl-Diktatur“
Die Science Busters begeisterten am Heldenplatz mit den Wiener Sängerknaben, die ein Lied der Amazonas-Indigenen sangen und sich damit mit den Protesten gegen den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro solidarisierten. Unter tosendem Applaus forderte Science-Blogger Florian Freistetter eine klare Kante gegen US-Präsident Donald Trump und andere Gegner wissenschaftlicher Fakten: „Das sind keine Klimaskeptiker. Das sind Klimaleugner!“
Viele waren zum ersten Mal überhaupt auf einer Demo. Jung und Alt kamen zusammen, Schüler_innen demonstrierten gemeinsam mit Studierenden und Werktätigen. Selbst die ganz Kleinsten waren mit dabei: Am Praterstern bezauberte ein eigener „Babies For Future“-Block, am Westbahnhof zog unter Beifall der Kindergarten vom Campus der Universität Wien ein.
Die Kreativität blühte auf tausenden selbstgebastelten Schildern, etlichen Wägen und Verkleidungen. Einige Teilnehmerinnen flochten sich in Solidarität mit Greta Thunberg Zöpfe, nachdem FPÖ-Chef Norbert Hofer am Vortag die globale Klimabewegung panisch als „Zöpferl-Diktatur“ verspottete.
Politik und Wirtschaft unter Zugzwang
Die Beteiligung von Gewerkschaften am Streik war ein enorm wichtiger Schritt nach vorne. „Es wird keine zweite Welt geben, und es wird keine Welt ohne Arbeit geben. Deswegen müssen wir schauen, Fridays for Future und Arbeitnehmer, dass wir auf einen grünen Zweig kommen“, machte Tschosie Rehberger, Betriebsrat bei der voest und Bundesjugendvorsitzender der Produktionsgewerkschaft (PRO-GE) den Teilnehmenden Mut. „Wir müssen in die Gänge kommen. Reden wird nicht mehr helfen in Zukunft. Dank euch ist die Politik und auch die Wirtschaft gezwungen zu handeln!“
Der Vizerektor der Universität für angewandte Kunst Wien, Bernhard Kernegger, gab bekannt, dass tags zuvor sein Senat den Pfad zur „University for Future“ beschlossen hat. Er ermutigte die Menge: „Lassen wir uns nicht weismachen, dass wir in einem so kleinen Land wie Österreich nichts bewegen können. Jeder von uns ist immer Teil eines größeren Ganzen, einer Schule, einer Universität, eines Vereins, einer Firma. Wenn ich in die Runde schaue, sehe ich einfach so viel Hoffnung! Ihr seid unglaublich!“
Befreiung aus „fossiler Gefangenschaft“
Der Geophysiker Gottfried Kirchengast vom Wegener Center für Klima und Globalen Wandel der Universität Graz forderte Achtung und Respekt vor Fridays for Future und den Klimabewegungen ein. Er verwies auf den Referenzplan österreichischer Wissenschafter für einen Nationalen Energie- und Klimaplan (NEKP) und die bedeutsamen „24 Fakten“ und die Stellungnahme der Scientists for Future, die inzwischen von über 26.000 Wissenschafter_innen unterschrieben wurde.
In einer bewegenden Rede spornte Kirchengast die tausenden Menschen an: „Ich habe keinen Sand mehr, worin ich den Kopf stecken könnte. Ich mache keinen Kopfstand und kein Wegducken mehr. Ich stelle mich aufrecht mit erhobenem Kopf vor euch hin und sage: Wir können, wollen, müssen und werden es schaffen! Wir werden uns aus der systemischen fossilen Gefangenschaft befreien!“
Katharina Roggenhofer, Mitbegründerin von Fridays for Future und dem Klimavolksbegehren, prangerte das Versagen der Politik an: „Ihr gebt uns Optionen wie: Nehmt kein Plastiksackerl, verzichtet aufs Auto, dreht die Heizung im Winter runter. Aber derweil schiebt ihr die Verantwortung von euch selbst auf andere ab. Denn wir entscheiden nicht, wie lange noch Öl, Kohle und Gas gefördert werden. Wir entscheiden nicht, wo öffentliche Verkehrsmittel hinfahren. Wir entscheiden nicht, ob Milliarden investiert werden in Import von fossilen Brennstoffen und in Strafzahlungen.“
Nach jahrelangem Stillstand in der Klimapolitik flammt Hoffnung auf. Der Earth Strike war ein grandioses Vorspiel für das, was noch kommen wird.