Nachdenken über Zivilcourage

Bärbel Strehlau demonstrierte im November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz mit einer halben Million Menschen für die Demokratie. 30 Jahre später schreibt sie in ihrem Leserinnenbrief: „Ein merkwürdiges gefährliches Tabu schwebt über den Österreichern. Eine Jahrzehnte versäumte Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte fällt ihnen nun gewaltig auf die Füße.“
29. Januar 2018 |

Ich lese auf Wikipedia zu Zivilcourage: Ich muss 1. ein Bürger sein und ich muss 2. Mut haben. Also, 1. ein Bürger sein scheint mir einfach. 2. Mut zu haben schon schwieriger. Ich muss 3. bereit sein, Nachteile in Kauf zu nehmen.

Vor fast 30 Jahren, da lebte ich noch in der DDR, und diskutierte mit vielen anderen Bürgerrechtlern, wie ein echter demokratischer sozialer Staat entstehen könnte. Das Wort der Jahre vor dem Mauerfall, vor dem Zusammenbruch des Ostblockes, vor dem Verschwinden einer linken Revolution, die einmal in der ganzen Welt ausgerufen werden sollte, vor dem Verschwinden einer Utopie, die von einer gerechten Gesellschaft geträumt hat, war das Wort: ZIVILCOURAGE.

„Alle“, die Zivilgesellschaft, der Bürger eben, ob er Arbeiter, Angestellter, Künstler, Arbeitslos (ach nee, die gab es ja in der DDR nicht), sie alle gingen auf die Straße und sagten laut was sie von der Führung dieses Landes hielten. Auch auf die Gefahr hin, von der Staatssicherheit (Stasi) „hops“ genommen zu werden.

Schließlich stand ich am 4. November 1989 mit 500.000 Menschen in Berlin auf dem Alexanderplatz und bekundete meinen Unwillen. Die Staatsführung sollte den Staat herausgeben, da sie ihn sowieso nicht mehr brauchte. Christa Wolf sprach in ihrer Rede: „Revolutionen gehen von unten aus. Und Oben und Unten wechseln gerade ihre Plätze!“. So war das 1989. Ein Zivilcouragierter Oberst Jäger öffnete dann nur 5 Tage später am 9. November 1989, in eigener Entscheidung den Schlagbaum an der Grenze Bornholmer Straße. Und alles war gelaufen. Jetzt haben wir 2017 – ich lebe derweil seit 9 Jahren in Wien – und was passiert im kleinen Österreich?

Ein merkwürdiges gefährliches Tabu schwebt über den Österreichern. Eine Jahrzehnte versäumte Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte fällt ihnen nun gewaltig auf die Füße. Österreicher wacht auf! – möchte ich all denen zurufen, die sich nicht trauen den Vergleich zu Hitler laut und öffentlich auszusprechen. Vizekanzler HC Strache und seine Anhänger sind nun Minister, Nationalratsabgeordnete und gehören alle deutschnationalen Burschenschaften an. – ACHTUNG GESCHICHTE FÜHRT ZU EINSICHT UND VERURSACHT BEWUSSTSEIN – !

Ich frage ein paar Leute die im Lokal neben mir sitzen, was ihnen zu dem Wort „ZIVILCOURAGE“ einfällt. Die Jungs am Tisch meinen: „Sich für die Gemeinschaft einzusetzen. In einer Gruppensituation zu reagieren gegen Ungerechtigkeit.“ Ein anderer meint: „Unrecht erkennen, aber dann auch handeln.“ Ein weiterer sagte: „Standhaft in seiner Meinung sein, wenn nötig zivilen Ungehorsam leisten gegenüber Autoritäten oder Vertretern von herrschender Meinung.“ Ja, denke ich mir: Zivilcourage kennt nur ein Ziel, Unrecht zu benennen und solidarisch zu handeln im Sinne einer menschlichen und rücksichtsvollen Gemeinschaft, ohne die der Einzelne doch „ein Schaß im Walde ist“, wie es auf österreichisch heißt.

Eine Dame vom Nebentisch meint: „Hm, Zivilcourage brauchen wir jetzt. Das kann man lernen!“ „Von Ute Bock ganz bestimmt“, denke ich mir im Nachhinein.

Bärbel Strehlau
Choreographin, Regisseurin und Autorin

Leser_innenbriefe spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider