Russland 1917: Wie eine Revolution eine Pandemie abgewehrt hat
Wie würde eine post-revolutionäre Gesellschaft mit Pandemien umgehen? Einen Einblick darin bietet Russland im Jahr 1917. Die Arbeiterklasse, angeführt von der bolschewistischen Partei, übernahm dort im Oktober die Macht im Zuge einer Revolution. Direkt danach mussten sie bereits mit mehreren Krankheitswellen umgehen, die zu dieser Zeit ganz Europa überrollten.
Im Laufe der nächste vier Jahre hatten Cholera, Pocken und die „Spanische Grippe“ verheerende Auswirkungen. Trotzdem war Typhus die größte der Bedrohungen. In einer Zeit als Antibiotika noch unbekannt waren, endete ein Drittel der Infektionen tödlich. Typhus wird von Bakterien verbreitet, die im Darm von Körperläusen leben, welche wiederum in menschlicher Bekleidung beheimatet sind und besonders im Umfeld von Schmutz, Überbevölkerung, schlechten Hygienebedingungen und Krankheiten Verbreitung finden.
Der Erste Weltkrieg bot dafür die perfekte Brutstätte. Läuse infizierten die Uniformen der Soldaten und wurden dadurch bei jedem Vorrücken und Rückzug zu Mitreisenden. Daraufhin verbreiteten sie sich in der Bevölkerung der zerstörten Städte und verwüsteten Landstriche sowie Kriegsgefangenenlagern. In Osteuropa führte das zu Millionen Infizierten.
Nach der Revolution in Russland waren „Weiße“ Armeen entschlossen unterwegs, um die neue Arbeitergesellschaft zu zerschlagen. Sie verbündeten sich mit Invasionskräften aus 14 Ländern und stürzten das Land in einen Bürgerkrieg.
Eine gewaltige Menge hungernder Menschen auf der Flucht vor plündernden Armeen strömte in Städte, die bereits viel zu dicht besiedelt waren und keine angemessene Unterkunft boten. Die Läuse florierten. Es wird berichtet, dass im Jahr 1919 Vladimir Lenin bei einem Treffen von medizinischem Personal diese angewiesen hat: „Alle Aufmerksamkeit muss auf dieses Problem gelenkt werden, Genossen. Entweder Läuse besiegen den Sozialismus oder der Sozialismus die Läuse“. Das war allerdings nicht leicht zu bewältigen. Russland war im Jahr 1914 ein wirtschaftlich unterentwickeltes Land und Krieg wie Bürgerkrieg hatten den Großteil der modernen Industrie vernichtet.
Die russischer Gesellschaft, verwaltet von demokratischen Arbeiterräten, den Sowjets, stellte sich der Herausforderung. Unter Arbeiterkontrolle wurde das Gesundheitssystem verstaatlicht und zentralisiert – und waren nun kostenlos zugänglich. Das war ein essentieller Bestandteil eines neu entstandenen Plans zur Bewältigung von Typhus. Die erste Aufgabe war ein massiver Ausbau der Krankenversorgung. Der Journalist Jakob Friis war zum Höhepunkt der Pandemie in Russland auf Reisen und interviewte Dr. Pervukhin, den Verantwortlichen für die Organisation von Medikamenten.
Bedingungen
Pervukhin erzählte ihm, „Als Folge der Nationalisierung von Apotheken wird unser dürftiger Vorrat an Medikamenten gerecht verteilt. Trotz aller äußeren Schwierigkeiten hat sich der allgemeine Gesundheitszustand im Lauf des letzten Jahres verbessert. „Neue pharmazeutische Fabriken wurden errichtet und große Vorräte an Medikamenten wurden von Spekulanten konfisziert. Es wäre für jede kapitalistische Regierung unmöglich gewesen, ihre Bevölkerung so gut zu schützen.“
„Wir haben die Spanische Grippe besser als die westliche Welt überstanden. Wir sind in der Lage Epidemien deutlich besser entgegenzutreten als früher.“ Friis war ein Mitglied der Norwegischen Arbeiterpartei, welche nach 1917 der Komintern beigetreten ist, der internationalen Organisation revolutionärer Parteien. Von ihm – und seinem bolschewikischen Interviewpartner – konnte man vielleicht erwarten, ein positives Bild zu malen. Aber ein großer Teil seiner Aufzeichnungen werden von einem 1993 geschriebenen Artikel eines US Professors untermauert. K David Paterson schrieb, „Weitreichende Bemühungen wurden unternommen, um die Bevölkerung aufzuklären. Eisenbahnwagons mit speziellen Ausstellungsstücken fuhren durch das gesamte sowjetisch kontrollierte Gebiet.
„Im November 1919 wurden in Moskau 40.000-50.000 Passagiere täglich von Desinfektionsteams behandelt. Insgesamt wurden von der sowjetischen Regierung 250.000 Betten für für an Typhus Erkrankte geschaffen sowie 300 Isolations- und Desinfizierungsstationen für den Bahn- und Schiffsverkehr errichtet. „Hunderte von Bade- und Desinfizierungsabteilungen wurden innerhalb des Militärs kreiert, um die Soldaten lausfrei zu halten.“ Labore wurden eingerichtet, um an effektiven Maßnahmen zu forschen und Möglichkeiten zu finden diese flächendeckend umzusetzen. Paterson führte fort, „Entlausungen töteten enorme Mengen an Läusen. In einem Desinfektionszelt der Roten Armee standen die toten Läuse 5 Zentimeter hoch.
„Entlausung, Isolation und Aufklärung führten zweifelsohne zum Abklingen der Epidemie.“ Zusätzlich zu dem Ausbau von Gesundheitsleistungen führten die Bolschewiken Verbesserungen in anderen Lebensbereichen der Arbeiterklasse ein, wie etwa in den Bereichen Unterkunft und Bildung. Das brauchte Zeit. 1919 berichtete die sowjetische Zeitung, „Viele tausende Arbeiter leben immer noch in Kellern und auf Dachböden. Der Engel des Todes hält sich immer noch in den Vorstädten und bei den Wohnorten von Arbeitern auf.
“Entscheidend war, dass die Anti-Typhus-Maßnahmen nicht von oben aufgezwungen wurden. Sie waren auf ein Netzwerk von Arbeiterorganisationen angewiesen und wurden auch von diesen umgesetzt.
Inspizierungen
Arbeiterkomitees zur Bekämpfung von Epidemien wurden in Städten und größeren Dörfern bereits 1918 gebildet. Ihre Aufgabe war es Unterkünfte und öffentliche Stätten zu inspizieren, Leute über Sauberkeit aufzuklären, Seife zu verteilen und die Läuseplage zu bekämpfen. Die Partei, die Gewerkschaften, Frauenorganisationen und Jugendgruppierungen bündelten ihre Kräfte im Kampf gegen Erkrankungen.
Die Vertreter dieser Komitees – selber Arbeiter und Bauern – kommunizierten wissenschaftliche Erkenntnisse an die breitere Bevölkerung. Die Beteiligung der Arbeiterklasse war ein zentraler Bestandteil im Kampf gegen Krankheiten. 1920 schrieb Nikolai Semashko, der oberste Gesundheitsverantwortliche, „Wir können ohne Übertreibung feststellen, dass die Typhus- und Choleraepidemien hauptsächlich durch das Mitwirken von Arbeiter- und Bauernkomitees gestoppt wurden.“
„Das Volkskommissariat für Gesundheit kann die zahlreichen Schwierigkeiten in diesem verarmten und verwüsteten Land nur überwinden, wenn es sich die Unterstützung und Mithilfe der Bevölkerung sichert.“ Einige Hilfe westlicher Länder erreichte Russland – jedoch nur als Unterstützung der Feinde der Bolschewiken. Das Amerikanische Rote Kreuz unternahm große Bemühungen, um die Weißen Armeen zu unterstützen.
Julia F Irwin, eine auf US-Amerikanischen „Humanitarismus“ spezialisierte Historikerin, schrieb, „Obwohl Arbeiter des Amerikanischen Roten Kreuz es vielleicht geleugnet haben, waren ihre Hilfemaßnahmen – durch ihr Abzielen auf anti-bolschewistische Soldaten und Bürger – in Wahrheit stark politisch motiviert in Planung und Umsetzung. „Im frühen 20. Jahrhundert, genau wie heute, stellte amerikanische Entwicklungshilfe einen zentralen Bestandteil ihrer Außenpolitik dar.“
Die Zahl der von Typhus verursachten Toten in Russland zwischen 1918 und 1922 liegt bei über zwei Millionen. Einer davon war der Vater des revolutionären Anführers der Roten Armee Leon Trotsky. Aber der Arbeiterstaat konnte die Anzahl der Todesopfer eindämmen. Paterson schrieb, „Durch die konsequenten Anstrengungen der Gesundheitsbehörden gingen die Typhusfälle ab 1922 erheblich zurück.“ Der Lausbefall – und damit auch Typhus – kehrten allerdings zurück, als die bürokratische Konterrevolution angeführt von Joseph Stalin den Arbeitern ihre Macht entriss.
Lager
Die verstärkte Ausbeutung von Arbeitern und Bauern, in Kombination mit der Vernichtung jedes Elements von Arbeiterdemokratie, bewirkte einen Anstieg von Typhus – besonders in Gefangenenlagern. Typhus tötete 1938 nachgewiesenermaßen zehntausende Gefangene eines einzigen Lagers im Bezirk Kolyma. Wie auch in allen anderen Lebensbereichen wurde die Essenz der Revolution durch Stalinismus zunichte gemacht. Nichts davon soll allerdings von den Errungenschaften der frühen Jahre nach 1917 ablenken. 1920, einige Tage vor seinem Tod – in Folge von Typhus – schrieb John Reed, revolutionärer Journalist, einen Artikel um die Situation zusammenzufassen.
Er schrieb, die Kraft der Arbeiter „bedeutet nicht, dass im sowjetischen Russland alles gut wäre, dass die Menschen nicht hungern würden, dass es kein Elend, Krankheiten und endlose verzweifelte Mühsal geben würde. Der Winter war schlimmer als man es sich vorstellen konnte. Typhus, Wechselfieber und Influenza wüteten unter den Arbeitern. „Die Widerstandskräfte der Menschen, geschwächt von mehr als zwei Jahren an der Grenze zum Hunger, konnten damit nicht umgehen. Die bewusste Abschirmungspolitik der Alliierten von Russland gegenüber Medikamenten hatte einige tausende Todesopfer, über die nie berichtet wurde
„Nichtsdestotrotz gelang es dem Volkskommissariat für Gesundheit ein gewaltiges Sanitätswesen aufzubauen, ein Netzwerk verschiedener medizinischer Abteilungen unter lokaler sowjetischer Kontrolle in ganz Russland, sogar an Orten, die davor nie einen Arzt hatten.
„Jede Stadt prahlt mit zumindest einem neuen Krankenhaus, meisten sogar mit zwei oder drei. „Hunderttausende farbenfrohe Poster wurden allerorts aufgehängt, um den Menschen Maßnahmen zur Krankheitsbekämpfung bildlich nahezubringen und sie zur Sauberkeit anzuhalten.
„In jeder Stadt gibt es kostenlose Entbindungskliniken für arbeitende Frauen.“ Mitten während Krieg und Hungersnot schafften es die Bolschewiken, eine wissenschaftlichere, effektivere und demokratischere Strategie im Kampf gegen Epidemien umzusetzen als die reichsten Länder ein Jahrhundert später. Deswegen kämpfen wir anstatt für eine kapitalistische Gesellschaft voll Armut und Pandemien, für Sozialismus.
Übersetzung aus dem Englischen von Matthias Bauer. Zuerst erschienen auf socialistworker.co.uk