Schwarzes Wien: Die Konterrevolution
Ohne der revolutionären Arbeiter_innenbewegung, die 1918 bis 1919 den einstmals mächtigen Habsburgerstaat zertrümmerte, wäre das „Rote Wien“ nie zustande gekommen. Das Rote Wien wurde nicht durch auf Kompromisse ausgerichtete Politik herbei diskutiert, sondern es waren die Aufstände der Arbeiter_innen und die Meuterei der Soldaten, die das politische Klima nach links radikalisierten. Das Rote Wien war ein Versuch der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs (SDAPDÖ), die aufgebrachte Stimmung innerhalb der Arbeiter_innenklasse in ein politisches Reformprojekt zu kanalisieren.
Die Reformen gingen aber nie so weit, dass die kapitalistische Organisation von Eigentum oder Arbeit angetastet wurde. Die Bosse blieben die Bosse und die Arbeiter_innen mussten noch immer nach ihrer Pfeife tanzen, wenn auch unter deutlich besseren Bedingungen: Achtstundentag, Arbeitslosenversicherung, Betriebsrät_innen, bessere Bezahlung – um nur einige Fortschritte zu nennen. Als revolutionäre Sozialist_innen kämpfen wir für jede klitzekleine Reform, und trotzdem halten wir daran fest, dass ein gutes Leben für alle nur jenseits des Kapitalismus möglich ist. Gerade das „Schwarze Wien“, das auf den Leichen der ermordeten Februarkämpfer von 1934 errichtet wurde, zeigt, wie gigantisch die Fortschritte des Roten Wien waren.
Dollfuß-Putsch
Am 4. März 1933 putschte Engelbert Dollfuß gegen das Parlament, Österreich wurde von einer parlamentarischen Demokratie in einen autoritären Ständestaat, der sich an Mussolinis Regime orientierte, und am besten als klerikal-faschistische Diktatur bezeichnet werden kann, umgewandelt. Bei den letzten freien Wahlen in Wien erhielt die Christlichsoziale Partei lächerliche 20% der Stimmen, die SDAP über 60%. Im Februar 1934 beschloss Dollfuß das Verbot des Schutzbundes, der Kampforganisation der sozialdemokratischen Partei. Einige Schutzbundfunktionäre wehrten sich gegen die Entwaffnung und so kam es zwischen 12. und 15. Februar zum Bürgerkrieg. Dieser endete in einer Niederlage, hunderte Arbeiter_innen wurden ermordet.
Das Projekt des Roten Wien war Geschichte, jetzt kam die Rache der alten Herren. Nach der Niederlage wurden hunderte Arbeiter_innen erschossen, führende Funktionär_innen der SDAP waren entweder verhaftet worden oder ins Exil geflüchtet. Der Gemeinderat wurde durch eine 64-köpfige „Bürgschaft“ ersetzt, deren einzige Funktion es war, zu den Entscheidungen des Bürgermeisters Richard Schmitzer Ja und Amen zu sagen.
Angriff auf Gemeindebauten
Die Gemeindebauten waren das Symbol des Roten Wien. Nachdem die Kanonen des Bundesheeres nicht reichten, sie zu zerstören und es absurd gewesen wäre, sie „grundlos“ niederzureißen, musste ihre Strahlkraft auf anderem Weg ausgelöscht werden. Dies geschah durch eine Mischung aus ökonomischer Klassenpolitik im Dienste des Bürgertums und konservativem Hass auf alles Progressive.
Die Weltwirtschaft befand sich seit dem 24. Oktober 1929 (schwarzer Donnerstag) in einer schweren Krise, die sich auf Österreich besonders heftig auswirkte. Aus dieser Krise leitete der Ständestaat zwei Aufgaben für sich ab. Einerseits versuchte er, das Massenelend nicht komplett aus dem Ruder laufen zu lassen, indem er die Arbeitslosigkeit durch Großbauprojekten verringerte, andererseits wurde konsequente Klassenpolitik im Interesse des Bürgertums gemacht. Die Armen sollten für die Krise zahlen.
Einer der ersten Beschlüsse des autoritären Ständestaates war die Abschaffung der Wohnbausteuer, diese wurde in eine Mietaufwandssteuer umgewandelt. Um die Arbeiter_innen aus den Gemeindebauten zu vertreiben, wurden die Mieten um 70% erhöht. Zuvor betrugen sie 4% des durchschnittlichen Arbeiterlohns. Genauso wurden die Steuern auf Wasser und Müllabfuhr verdoppelt. Im Gegenzug wurden sogenannte „Familienasyle“ gebaut, Armenwohnungen mit einem oder bestenfalls zwei Zimmern für ganze Familien. Im Umkreis der Gemeindewohnungen (bspw. in der Herrengasse) wurden Wohnhochhäuser für das Bürgertum errichtet.
Vertreibung
Während das Rote Wien den öffentlichen Nahverkehr vorantrieb, fokussierte sich das „Schwarze Wien“ auf den Individualverkehr. Das Auto wurde zu dem Symbol des klassenbewussten Bürgers. Dank verkehrstechnisch schwachsinniger Großbauprojekte wie der Höhenstraße konnten die Bürger binnen kürzester Zeit in die unberührte Landidylle flüchten, welche von jeher die Freude aller Spießer war.
Der „Stadtrandsiedlungsbau“ verfolgte ähnliche Ziele. In Hirschstetten, Aspern und der Leopoldau mussten Wohnungssuchende am Bau dieser Siedlungen mitarbeiten, im Gegenzug erhielten sie ca. 20 Quadratmeter große Wohnungen ohne Strom oder Kanalanschluss. Dafür aber einen Kleintierstall. Arbeitslos gewordene Arbeiter_innen sollten durch diese Politik „entproletarisiert“ und vereinzelt werden.
Links: „Stadtentwicklung“ im Roten Wien: Arbeiterpaläste wie der Jakob Reumann-Hof in Wien Favoriten. © Furche/W. Zednicek
Rechts: „Stadtentwicklung“ im Schwarzen Wien: Barracken für Arbeiter mit Kleintierstall am Stadtrand © ÖNB-Bildarchiv
Kirche und Staat
Der Kampf gegen die Gemeindebauten wurde nicht nur auf ökonomischem sondern auch auf ideologischem Gebiet ausgefochten. Die wenigen Arbeiter_innen, die sich die steigenden Mietpreise leisten konnten, sollten auf andere Art aus den Gemeindebauten hinausgeekelt werden. Die Wohnbauten wurden unbenannt, aus dem Karl-Marx-Hof wurde der Heiligenstädter Hof, anstelle von kleinen Krämerladen wurden Polizeiwachen in die Höfe gepflanzt.
Neben der Staatsgewalt durfte die göttliche Gewalt nicht fehlen und so wurden „Notkirchen“ in die Wohnhausanlagen integriert. Die Erziehung der Arbeiter_innen zu gottesfürchtigen Menschen klappte nicht so recht, in Polizeiprotokollen finden sich immer wieder Vermerke über entwendete Kreuze, zerstörte Heiligenbilder oder eingeschlagene Fensterscheiben.
Schlussendlich wurden neue Wohnplätze in den Gemeindebauten nur mehr an Mitglieder der Vaterländischen Front (Massenorganisation des Ständestaates mit über drei Millionen Mitgliedern) vergeben. Trotz alledem gelang es nie, den widerständigen Geist der Gemeindebauten und ihrer Bewohner_innen vollends zu brechen, in den letzten Monaten der Nazi-Herrschaft konnten sichtbare NSDAP-Mitglieder Gemeindebauten in Floridsdorf nicht mehr betreten, ohne mit Steinen beworfen zu werden.
Frauenhass
Dollfuß’ Politikverständnis berief sich auf eine von Papst Pius XI. verfasste, antisozialistische und pseudosoziale Sozialenzyklika (Rundschreiben eines Papstes), die „Quadragesimo anno“. Der Katholizismus war die zentrale Stütze des Ständestaates. Nicht nur wurde versucht, den Arbeiter_innen ihre Kultur auszutreiben – anstatt sonntags zum Arbeitersportverein zu gehen, sollte der „Tag des Herren“ in der Kirche verbracht werden –, sondern es wurden auch insgesamt zehn neue Kirchen gebaut.
In den Schulen wurde das Herunterbeten religiöser Dogmen wieder zur Pflicht. Förderungen für Mädchenmittelschulen wurden gekürzt. Frauen, die im Bundesdienst tätig waren, etwa Lehrerinnen, verloren bei einer Heirat automatisch ihren Job. Die Eheberatungsstellen des Roten Wien – in ihnen wurde zum Entsetzen der Pfaffen über Verhütung aufgeklärt – wurden durch christliche Eheberatungsstellen ersetzt.
Zusammengefasst: All die Fortschritte, welche durch die Frauen und Arbeiter_innenbewegung gerade im Roten Wien erkämpft wurden, wollte der Ständestaat rücksichtslos zerstören. Anstelle des stellenweise progressiven Frauenbilds des Roten Wien, nämlich die selbständige Arbeiterin, trat das durchwegs reaktionäre der liebenden Mutter und treuen Gattin.
Bollwerk gegen Schwarz-Blau
Das Rote Wien genoss die Unterstützung bedeutender Persönlichkeiten aus Kunst und Wissenschaft. Im Gegensatz zum Habsburgerreich wurden Schreiben und Denken nicht unter Generalverdacht gestellt. Im Schwarzen Wien dagegen mussten Künstler_innen mit Repression rechnen, die Psychoanalyse eines Sigmund Freud wurde aufgrund ihres „antichristlichen Gehalts“ vollständig aus der Wissenschaft verbannt.
Das Schwarze Wien war eine gesamtgesellschaftliche Konterrevolution, die nicht nur die materielle Lage der Arbeiter_innen verschlechterte, sondern auch kulturell und intellektuell für ein Klima der Rückständigkeit sorgte.
Auch wenn die heutige rot-grüne Stadtregierung nur stellenweise in der Tradition des Roten Wien steht – Julius Deutsch und Co. müssen wegen der Vertreibungsaktionen von Obdachlosen aus U-Bahn-Stationen in ihren Särgen rotieren – bleibt Wien ein Bollwerk gegen die reaktionäre ÖVP-FPÖ-Regierung.