Ukrainekrieg, kalter Krieg 2.0
Der langsame Tod des amerikanischen Jahrhunderts

Der Ukrainekrieg ist das Ende des „langen Friedens“ der imperialistischen Supermächte. Er ist das Comeback des klassischen Krieges mit den Waffen des 21. Jahrhunderts. Im Hintergrund bahnt sich ein neuer heißerer Kalter Krieg 2.0 an. Ein Versuch, die um sich greifende Destabilisierung der aktuellen Weltordnung zu beschreiben.
6. April 2023 |

Zeichneten sich die Jahrzehnte des Kalten Krieges durch eine relativ stabile bipolare Weltordnung aus, verschob sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Fokus zur asymmetrischen Kriegsführung. Anders als in unserem kollektiven Gedächtnis eingeprägt, beruhte der Kalte Krieg auf einer relativ stabilen Weltordnung. Die bipolare Weltordnung des Kalten Krieges war ein Produkt des Zweiten Weltkrieges. Trotz der immensen Verluste für die Sowjetunion, laut den sehr konservativen Schätzungen von Marcel Reinhard verlor die Sowjetunion zwischen 8 und 9 Millionen Soldaten und 9-16 Millionen Zivilist_innen, ging sie wie die USA ideologisch und materiell gestärkt aus dem Krieg hervor. England konnte gegenüber den Supermächten USA und Sowjetunion nurmehr eine untergeordnete Rolle spielen und verlor in den folgenden zwei Jahrzehnten nahezu alle Kolonien. Der Zweite Weltkrieg war der letzte echte Weltordnungskrieg mit zwei eindeutigen Gewinnern, die aus einer Position der Stärke agieren konnten. Trotz des exzessiven Wettrüstens und der kleineren Stellvertreterkriege fand keine militärische Konfrontation zwischen den beiden Supermächten statt.
Zur Illustration dieses Punktes: Jeder US-Soldat, der im Einsatz verwundet oder getötet wird, erhält die Medaille Purple Heart. Im Zweiten Weltkrieg produzierte das US-Militär 500.000 Purple Hearts für die geplante Invasion Japans, die aufgrund der Kapitulation Japans nie verteilt wurden. Bis heute musste das US-Militär keine neuen Purple Hearts herstellen. Vietnam, Korea, Afghanistan, Irak, die Verluste in all diesen Kriegen waren geringer als die an nur einem Frontabschnitt einkalkulierten Verluste im Zweiten Weltkrieg. Darum hat der Historiker John Lewis Gaddis nicht ganz unrecht, wenn er vom Kalten Krieg als „langem Frieden“ spricht.

Imperialistisches Geplänkel in den 90er

Der Zusammenbruch der Sowjetunion führte von einer bipolaren in eine unipolare Weltordnung, die potenziell instabiler war, jedoch noch immer keine echten Weltordnungskriege hervorbrachte. Während die USA im Nahen Osten auf direkte Gewalt zur Durchsetzung ihrer Interessen zurückgriff, agierte sie in Osteuropa, mit Ausnahme Jugoslawiens – in diesen Krieg wurde die USA von Europa, primär Deutschland hineingezogen – ökonomisch und diplomatisch.

Während der Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung zwischen den USA und Russland versprach der US-Außenminister James Baker dem russischen Staatschef Michael Gorbatschow, die NATO würde sich nicht über die Ostgrenze der DDR ausweiten. Wie bekannt, hielt sich die USA nicht an dieses Versprechen. Ungarn, Polen, Tschechien, Albanien, Estland, Lettland, Litauen sind nur einige der Staaten, welche sich im 21. Jahrhundert der NATO anschlossen.

Je aufgeheizter und instabiler die Lage, desto eher überschätzt eine imperialistische Macht seine Chancen der anderen eins auszuwischen.

Ohne in den Diplomatensprech von „legitimen Sicherheitsinteressen Russlands“ zu verfallen, es bleibt ein Faktum, dass die NATO einen bewusst konfrontativen Kurs gegen Russland einschlug. Kein Staat mit Weltmachtanspruch wird akzeptieren, dass sich eine feindliche Macht dauerhaft vor den eigenen Grenzen aufbaut. Beispielsweise war die USA während des Kalten Kriegs bereit, den dritten Weltkrieg über die Frage von sowjetischen Atomraketen auf Kuba vom Zaun zu brechen.

Die geopolitische Demütigung Russlands durch die NATO-Osterweiterung, wurde von der ökonomischen Demütigung begleitet. In den 90er-Jahren begann der Ausverkauf der sowjetischen Staatsunternehmen an Bürokraten und westliche Konzerne. Gleichzeitig sank für die Masse der Bevölkerung der Lebensstandard wie die Lebenserwartung. Eine Reaktion mit diesen Demütigungen umzugehen, waren brutale militärische Interventionen in unterschiedlichste Bürgerkriege und Abspaltungskämpfe, insbesondere im Kaukasus. Durch diese Interventionen stärkte Russland nicht nur sein Selbstbewusstsein, sondern konnte in der ökonomisch wie geopolitisch wichtigen Region seine Macht erhalten. Georgien 1991-1993, Moldawien 1992, Tschetschenien 1993-1994 wären nur einige der russischen Interventionen.
So brutal die russischen Interventionen im Kaukasus, wie die westlichen Interventionen der NATO im Rest der Welt, auch waren, sie liefen nebeneinander, nicht direkt gegeneinander ab. Die direkte Konfrontation konzentrierte sich auf ökonomisches bzw. diplomatisches Gebiet. Die NATO agierte aus einer Position der Stärke und Russland aus einer der Schwäche.

US-Kriege in unipolarer Weltordnung

In der unipolaren Weltordnung agierte die USA und die ihr untergeordnete NATO (von 3,3 Millionen NATO Soldaten stellt die USA 1,3 wie den Großteil der Infrastruktur, Kommunikationstechnologie und schwerer Waffen) im Stile eines Weltpolizisten. Global wurden die wirtschaftlichen, ideologischen und geopolitischen Interessen des „Westens“ durchgesetzt. Geriet ein Staat ins Fadenkreuz der USA, hatte er ihr nichts entgegenzusetzen. Weniger als 2 Monate brauchte die USA, um den irakischen Staat zu vernichten. Die veralteten Panzer oder Flugzeuge, größtenteils aus sowjetischen Beständen, hatten den Hochleistungswaffen des Westens nichts entgegenzusetzen. Gerade einmal 171 westliche Soldaten (138 USA, 33 Briten) starben in dieser Phase des Krieges.

Blutig waren nicht die Kriege zur militärischen Niederwerfung feindlicher Staaten, sondern die Phasen der Besatzung. In den neun Jahren nach dem militärischen Sieg starben über 4.500 westliche Soldaten im Irak. Bei der Besetzung Afghanistans 2002 – 2021 starben in etwa 7.000 westliche Soldaten. Über die Hälfte von ihnen nicht Armee-Angehörige, sondern Mitglieder privater Sicherheitsfirmen wie bspw. Blackwater (heute Academi).

Andere Staaten und ihre Armeen waren keine Bedrohung für den Westen, sondern der Terrorismus und die asymmetrische Kriegsführung störten die unipolare Weltordnung. 2014 erklärte Obama vor der US-Militärakademie West Point: „Die größte unmittelbare Bedrohung für Amerika im In- und Ausland bleibt auf absehbare Zeit der Terrorismus.“

Fokusverschiebung im Militär

Unter dem Schlagwort „neue Kriege“ wurden diese Entwicklungen in der Militärforschung diskutiert und tendenziell überbewertet. Liest man diese Debatten der frühen 2010er-Jahre bekommt man den Eindruck, klassische Kriege zwischen Staaten würden endgültig der Vergangenheit angehören. Asymmetrische Kriegsführung unterscheidet sich strategisch und technologisch von regulärer Kriegsführung – Fokus auf Drohnen statt Panzer, professionell ausgebildete Scharfschützen statt Artillerie, Überwachungsausrüstung anstatt Kriegsschiffe, Elitekämpfer anstatt Massensoldaten.

Wir haben es beim Ukraine-Krieg nicht mit einem asymmetrischen Krieg, einer längerfristigen Besatzung oder einem Krieg primär gegen die Zivilbevölkerung zu tun, sondern mit einem klassischen Krieg des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts mit modernen Waffen.

Ab Mitte der 2010er-Jahre begann sich der Wind innerhalb des militärisch-industriellen Komplexes zu drehen. Während die USA Hochzeitsfeiern mit Drohnen in die Luft jagten, begann China eine mächtige Armee und insbesondere Marine aufzubauen. Die Alarmglocken, dass man für einen echten Krieg nicht mehr gewappnet ist, begannen zu schrillen. Beispielsweise warnte der Admiral der US-Pazifik Flotte Philip Davidson 2021, seine Marine sei technologisch für einen Krieg vor Chinas Küste nicht ausgerüstet.
Die Flugzeugträger der Gerald R. Ford-Klasse, die ersten zwei wurden unter Trump in Dienst genommen, 10 weitere sind in Planung, oder die Langstreckenbomber Northrop Grumman B-21, sind Ausdruck dieser Wende zum klassischen Krieg. Mit solchen Waffen werden keine Terroristen gejagt, sondern sie sind für den Einsatz gegen technologisch ähnlich hochgerüstete Feinde bestimmt.

Empire oder Imperialismus?

Den umfassendsten Versuch, die unipolare Weltordnung theoretisch zu fassen, unternahmen die beiden Linksradikalen Antonio Negri und Michael Hardt in ihrem 2000 veröffentlichten Buch Empire. Das Imperium unterscheidet sich vom Imperialismus erstens dadurch, dass es kein außerhalb des Kapitalismus mehr gibt und zweitens, besitzt das Empire kein Zentrum. In den Augen von Hardt und Negri ist Herrschaft im 21. Jahrhundert überall und nirgends – kann demnach auch von jedem zu jeder Zeit an jedem Ort angegriffen werden. Den USA kommt eine Sonderrolle bei der Aufrechterhaltung des Empires zu, sie sind aber nicht mit diesem zu identifizieren. Daran anknüpfend verlieren Nationalstaaten gegenüber supranationalen Institutionen (bspw. EU, IWF, NATO) an Bedeutung. Das im Marxismus durchgehend diskutierte Verhältnis zwischen Staat und Kapital wird von Hardt und Negri einseitig aufgelöst, der Staat verschwindet, das Empire ist die Herrschaft der globalisierten kapitalistischen Produktionsweise.

Eine spezifische Strategie – bspw. ein Generalstreik der Arbeiter_innenklasse, oder anti-kolonialer Guerillakampf – kann es im Kampf gegen das Empire demnach nicht mehr geben. Ohne sich auf Negri & Hardt zu beziehen, sind diese Überlegungen in aktuellen sozialen Bewegungen omnipräsent.
So interessant die Thesen Hardt und Negris auch waren, sehen wir heute doch, dass die Überlegungen, dass Imperialismus und der Staat aufgehört haben zu existieren, grundfalsch waren. Seit der Finanzkrise von 2008 ist eine Verlangsamung der Globalisierung, und seit der Corona-Krise und dem Ukrainekrieg ihr Rückgang0, zu beobachten. Während der Coronakrise haben wir erlebt, wie Nationalstaaten die Interessen supranationaler Institutionen ignorierten. Man denke daran, wie EU Mitgliedsländer Hilfsgüter wie Beatmungsgeräte oder Masken nicht nach Italien lieferten, sondern für sich selbst horteten. Auch die massiven staatlichen Förderungsprogramme während der Finanzkrise von 2008 und der Coronakrise von 2020 zeigen: von einem unwichtiger werden des Nationalstaates zu sprechen, hält keinem Faktencheck stand. Der Ukrainekrieg, die Zunahme geopolitischer Spannung und die sich entwickelnde Block-Konfrontation zwischen USA und China zeigen, wir leben nicht im Zeitalter des allmächtigen „Empires“ sondern im Zeitalter des Imperialismus.

Imperialismus im 21. Jarhudert

In der klassischen marxistischen Tradition von Luxemburg, Lenin und Bucharin bedeutet Imperialismus nicht einfach Herrschaft eines Staates über einen anderen, sondern, Imperialismus ist ein globales System, in dem Staaten in Konflikt miteinander geraten. Der Imperialismus entwickelte sich, als der kapitalistische Produktions- und Konsumtionsprozess über nationale Grenzen expandierte. Dadurch löste sich das Verhältnis Staat – Kapital nicht einseitig auf, sondern beide entwickelten eine stärkere strukturelle Abhängigkeit voneinander. Imperialismus bedeutet aber auch eine extrem instabile Ordnung, in der sich ökonomische oder geopolitische Konflikte in Kriege transformieren können. Zusammengefasst ist Imperialismus das Ineinanderfallen von wirtschaftlichen Konflikten und staatlichen Konflikten um Territorien und Einflusssphären.

Gerechter Krieg ist zurück

Auch wenn die Thesen von Hardt und Negri zum Empire teilweise falsch sind, stehen in ihrem Buch sehr kluge Beobachtungen zu Rolle von Zivilgesellschaft und NGOs als Herrschaft-stabilisierende Elemente. Im Empire kehrt die Vorstellung des gerechten Krieges zurück: „die moralische Intervention ist die Vorbedingung der imperialen Intervention“. Seit dem sinnlosen Gemetzel des Ersten Weltkrieges ist die Vorstellung von Krieg als heldenhafter männlicher Kampf um Ruhm und Ehre, in den Augen der Massen diskreditiert.

Darum ist es unmöglich, seit 1918 einen Krieg zu finden, bei welchem nicht beide Kriegsparteien behaupteten, sie würden sich nur verteidigen, für die gerechte Sache kämpfen, den nächsten Holocaust verhindern usw. Ob Irakkrieg, Russland, Überfall der Wehrmacht, Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan, Jugoslawienkrieg, es sind immer dieselben moralischen Lügenmärchen. Die von Hardt und Negri herausgearbeitete Funktion von Teilen der Zivilgesellschaft, welche die staatliche Propaganda von unten moralisch begleiten und verstärken, ist gerade im Schatten des Ukrainekrieges lesenswert.

Krieg gegen den Terror gescheitert

Die 20 Jahre „Krieg gegen den Terror“ endeten in einem völligen Fiasko und mit der überstürzten Flucht des Westens aus Afghanistan. Selbst die Hardliner in Washington müssen sich mittlerweile eingestehen, das Problem des Terrorismus ist mit militärischen Mitteln nicht zu lösen. 20 Jahre Krieg, nur damit dieselben Taliban wieder die Macht übernehmen, deren Auslöschung das offizielle Kriegsziel war. Vergleichbar führte der Rückzug aus dem Irak zum Aufschwung von ISIS. Der Krieg gegen den Terror erreichte nichts, als den globalen Führungsanspruch der USA weiter zu schwächen und den dschihadistischen Terrorismus ideologisch zu stärken. Die unbeschreiblichen Gräueltaten von Drohnenschlägen bis zur Folter in Abu Ghraib trugen mehr zur Massenrekrutierung für den dschihadistischen Terror bei, als es Osama Bin Laden jemals vermocht hätte.

Auch wenn sich mit dem Ukrainekrieg und der zunehmenden Ausrichtung auf den Kalten Krieg 2.0 der Fokus der USA aus dem Nahen Osten verschieben wird, die USA verlässt diese Region nicht als Sieger. Die regionalen Player, ob Israel, Saudi-Arabien oder die Türkei werden die Region auch nicht kontrollieren können. Israel und Saudi-Arabien sind nur durch die Feindschaft zum Iran verbunden, und die Türkei ist selbst zu instabil, um einen dauerhaften Anspruch als Führungsmacht in der Region verwirklichen zu können. Eben weil die ideologischen Grundlagen für den dschihadistischen Terror nach wie vor vorhanden sind, potenziell sogar ausgeprägter als zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die USA wieder in Konflikte in dieser Region hineingezogen werden.

„Klassischer Krieg“ wird nicht einfach an die Stelle der asymmetrischen Kriegsführung treten, sondern beide Prozesse werden nebeneinander weiterlaufen. Moderne Kriege sind extrem Energie- und Technik-intensiv. Angriffe auf Energieinfrastruktur, wie sie Russland dauerhaft in der Ukraine durchführt, oder auch Hacking-Angriffe auf Kriegswaffen werden zur neuen Normalität werden. Wie bereits im Zweiten Weltkrieg wird moderner Krieg auch weiterhin gegen die Zivilbevölkerung ausgefochten. Elemente der terroristischen Kriegsführung werden in die klassischen Kriege einfließen. Die glaubwürdige Rechercheplattform The Intercept behauptet, dass mit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine nicht das gesamte US-Militär-Personal abgezogen wurde, sondern dass Elitetruppen an der Koordinierung der Kampfhandlungen beteiligt sind. Auf jeden Fall liefern NSA und CIA Daten über russische Truppenbewegungen an die Ukraine.

Ukraine: der klassische Krieg ist zurück

Der Spruch „Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“ ist so alt wie richtig. Während sich westliche Medien auf moralische Empörung über den russischen Angriffskrieg zurückziehen, spricht die NATO eine andere Sprache. Jens Stoltenberg, Generalsekretär der NATO erklärt auf einer Konferenz anlässlich des Ukrainekrieges: „Der Krieg hat nicht im Februar letzten Jahres begonnen. Der Krieg begann im Jahr 2014. Und seit 2014 haben die NATO-Verbündeten die Ukraine mit Ausbildung und Ausrüstung unterstützt, sodass die ukrainischen Streitkräfte im Jahr 2022 viel stärker waren als 2020 und 2014“. Zumindest die Einschätzung, ohne NATO-Waffen wäre die Verteidigung der Ukraine nicht so erfolgreich, ist richtig.
Wie erfolgreich die Verteidigung der Ukraine wirklich ist, ist schwer herauszufinden. Wie in jedem Krieg ist es auch im aktuellen unmöglich, verlässliche Zahlen zu militärischen Verlusten zu finden. Die ukrainische Armee sprach am 23. Februar 2023 von rund 150.000 russischen Verlusten, differenzierte dabei aber nicht zwischen verwundet und tot. Zu den eigenen Verlusten machte sie keine Angaben. Der Kreml selbst spricht von 6.000 gefallenen Soldaten (ohne Verwundeten). Vermutlich werden die Schätzungen des US-Generalstabschefs Mark Milley näher kommen, dieser spricht von 100.000 für den Kampfeinsatz verlorenen Soldaten, sowohl auf ukrainischer als auch auf russischer Seite (tot oder verwundet). Im Vergleich zu den anderen Kriegen nach 45 sind diese Verlustzahlen gigantisch. Im zehnjährigen Afghanistankrieg, der umfassendste Krieg der Sowjetunion, verlor diese in etwa 50.000 Soldaten.

(tot oder verwundet)

Der Ukrainekrieg lässt sich auf vier Punkte zusammenfassen: Erstens, der Ukrainekrieg ist von einer für die vergangenen Jahrzehnte völlig einzigartigen Dimension. Wir haben es nicht mit einem asymmetrischen Krieg, einer längerfristigen Besatzung oder einem Krieg primär gegen die Zivilbevölkerung zu tun, sondern mit einem klassischen Krieg des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts mit modernen Waffen zu tun.
Zweitens, gemessen am letzten Weltordnungskrieg sind die Verluste noch immer gering. Allein im Kessel von Stalingrad, einem winzigen Frontabschnitt des Krieges, befanden sich um die 300.000 Soldaten der 6. Armee. Drittens, die USA erkennen im Ukrainekrieg eine Chance, Russland zu beschädigen. Ihr Ziel ist, dass sich Russland jahrelang in der Ukraine festfährt, damit es in anderen Regionen die US-Interessen nicht gefährden kann. Durch das Hochrüsten der Ukraine erhofft sich die USA dauerhaft Ruhe vom russischen Gegner und demnach mehr Zeit und Energie für den chinesischen Hauptfeind. Viertens, der Ukrainekrieg ist Ausdruck der Destabilisierung der seit 1945 herrschenden Weltordnung. Gerade weil Russland im Unterschied zur Sowjetunion nicht mehr die zweite globale Führungsmacht ist, agiert es so aggressiv auf jedes Vorstoßen in seinen Interessensbereich. Insofern ist der Ukrainekrieg die logische Fortsetzung der russischen Interventionen in den 90er-Jahren, nur dass der Konflikt diesmal direkt gegen die NATO stattfindet.

Neuer Kalter Krieg

Anfang Oktober 2022 veröffentlichte das Weiße Haus den Bericht: „National Security Strategy“. Die Fokussierung auf China als den einzigen echten Konkurrenten, welche sich seit der Amtszeit von Obama abzeichnete, wurde in diesem Papier offen ausgesprochen. „Die Volksrepublik China hat die Absicht und zunehmend auch die Fähigkeit, die internationale Ordnung zu ihren Gunsten umzugestalten.“ Mit diesem Aufruf, China als diplomatische, wirtschaftliche und geopolitische Bedrohung ernst zu nehmen, erklärt Biden die unipolare Weltordnung für Geschichte. Obamas Chef-Berater für den pazifischen Raum, Evan Medeiros, beschrieb das Treffen zwischen Biden und dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Indonesien Anfang November als: „erstes Gipfeltreffen der Supermächte des Kalten Krieges Version 2.0“.
Im Unterschied zum ersten Kalten Krieg, als beide Player gestärkt in die neue Weltordnung eintraten, erleben wir aktuell den Machtverlust der USA und den zunehmenden Machtgewinn Chinas. Dazu kommt noch, China ist ökonomisch mächtiger, als es die Sowjetunion jemals war. Insofern gleicht die aktuelle Konstellation jener vor dem Ersten Weltkrieg, als die alte Weltmacht Großbritannien unter Beschuss geriet, und die neue wirtschaftliche Weltmacht Deutschland versuchte, ihr ökonomisches Kapital in geopolitische Macht umzuwandeln.

Die Geopolitik Zeitschrift Foreign Policy argumentiert, der Kalte Krieg 2.0 ist ein Konflikt zur See, während sich der erste Kalte Krieg größtenteils zu Lande abspielt. Darum ermöglichte der erste Kalte Krieg die Strategie der Abschreckung durch maximale Verluste. Bei einem Seekonflikt ist diese Rechnung nicht so leicht aufrechtzuerhalten: „Die Anwendung militärischer Gewalt durch die beiden Supermächte in asiatischen Gewässern stellt für keinen der beiden Staaten eine existenzielle Bedrohung dar. China könnte im Falle einer Invasion Atomwaffen einsetzen, aber es ist sehr viel unwahrscheinlicher, dass die chinesische Führung einen totalen Krieg mit den Vereinigten Staaten riskiert, wenn einige ihrer Schiffe zerstört werden“. Insofern ist ein alles oder nichts Krieg zwischen den USA und China unwahrscheinlich, eine direkte Konfrontation zur See ist jedoch viel wahrscheinlicher als bspw. ein Kampf um Berlin während des Kalten Krieges.

Ob die USA im Falle eines chinesischen Angriffs auf Taiwan aggressiver als beim Ukrainekrieg reagieren würde, ist eine nicht zu beantwortende Frage. Vorbereitungen auf einen Krieg sind immer Wahrscheinlichkeitsrechnungen gegen eine Black Box. Je aufgeheizter und instabiler die Lage, desto eher überschätzt eine imperialistische Macht seine Chancen der anderen eine auszuwischen. Darum, auch wenn weder China noch die USA Interesse an einer Alles oder Nichts Schlacht haben, ausschließen, dass sich solch eine Situation entwickelt, kann niemand.

Der einflussreiche Think-Tank des US-Militärs RAND Corporation stellte sich 2016 in einem Paper „War with China Thinking Through the Unthinkable“ offen die Frage: Können wir einen Weltordnungskrieg mit China gewinnen. Solange das US-Militär überlegen genug ist, einen Krieg auf den pazifischen Raum zu beschränken, ist die Antwort: Ja, wir können gewinnen. Falls das chinesische Militär jemals global einsatzfähig wäre, dann droht ein Krieg, den die Welt auf ihrem aktuellen Zivilisationsniveau nicht überleben würde.

Chinas Interessen

Wir sollten nicht vergessen, dass es sich beim US-Gerede von einem neuen Kalten Krieg auch um Propaganda handelt. China ist noch immer nur eine regionale Bedrohung für den Weltmachtanspruch der USA, keine globale. China hat weder die Fähigkeit, vermutlich auch nicht das Interesse, eine Militärpräsenz bspw. in der Karibik oder der Ostsee aufzubauen. Die USA können binnen Stunden an jedem Ort der Welt militärisch präsent sein. China konzentriert seine Macht ausschließlich auf den pazifischen Raum beziehungsweise nicht einmal das, sondern primär auf die Inselketten vor seiner Küste. Bewegungsfreiheit und die US-Flotte aus diesen Zonen zu verdrängen, ist das erste strategische Ziel Chinas. Die USA gehen wiederum dagegen vor, indem sie regelmäßig Handels und Kriegsschiffe in diese Zonen schicken. Längerfristig zielt China darauf, mit dem Seeweg der neuen Seidenstraße – Schaffung von Handelsinfrastruktur von China bis zu den Häfen Italiens – nicht nur die ökonomische, sondern auch die militärische Präsenz in diesen Regionen auszubauen. Trotzdem betragen die chinesischen Militärausgaben gerade einmal 37 % der amerikanischen. Das umfassende Bündnissystem der USA im pazifischen Raum, Japan, Taiwan, Südkorea, Australien, um die wichtigsten zu nennen, verschiebt das Gewicht nochmals zugunsten der USA. Darum, die führende Weltmacht sind für die kommenden Jahre nach wie vor die USA. Aber, ihre Position ist deutlich schwächer geworden und sie wird sich weiter abschwächen.

Krisen von Unten schaffen

Die zunehmenden geopolitischen Spannungen führen zu einer erhöhten Kriegsgefahr, auf die sich die Linke einstellen muss. Wir können das Thema Krieg nicht mehr als untergeordnetes Nischenthema behandeln, Antimilitarismus, Solidarität mit Deserteuren, Angriffe auf die Kriegsinfrastruktur, wie sie bspw. von heldenhaften russischen Anarchist_innen und Sozialist_innen durchgeführt werden und Streiks gegen das Verladen von Waffen, wie es in italienischen Häfen geschieht, sind wichtige Schritte im Aufbau einer globalen Anti-Kriegsbewegung. Im zweiten Moment bedeutet der Machtverlust der USA aber auch eine Chance für revolutionäre Bewegungen. Als sich die USA im Vietnamkrieg festsetzte, sah Che Guevera die einzigartige Chance, die sich für die globale antikoloniale Bewegung eröffnete und publizierte sein legendäres Manifest „Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnams“. Ungeachtet der vielen politischen Kritikpunkte, die revolutionäre Sozialistin_innen an Guevera haben, sah er nicht nur die Stärke und Brutalität des Feindes völlig richtig, sondern auch seine Schwächen. Je instabiler eine Weltordnung, desto leichter können regionale Erfolge erzielt werden. Das wäre unmöglich, solange die globale Supermacht alle Konflikte gleichzeitig managen kann. Solch einen Zustand der multiplen-Krisenherde von unten herzustellen, ist die einzige Chance für die revolutionäre Linke.