Volkstheater-Regisseurin Christine Eder: „Uns hat die Realität eingeholt“

Die Regisseurin Christine Eder bringt mit „Verteidigung der Demokratie“ ein brandaktuelles Stück – basierend auf der Biografie des Architekten der österreichischen Verfassung, Hans Kelsen – auf die Bühne des Volkstheaters. Linkswende jetzt hat mit ihr über Widerstand gegen die Regierung, Demokratieabbau und Kapitalismus gesprochen.
29. Oktober 2018 |

Was war der Anstoß zum Stück Verteidigung der Demokratie?

Es gab eigentlich keinen konkreten Anstoß. Es gab eine Anfrage und den Freibrief, dass ich mir frei überlegen darf, was ich machen möchte. Schon in den Recherchen zu Alles Walzer, alles brennt (2016) bin ich über den Hans Kelsen (1881-1973) gestoßen. Kelsen hatte eine ganz interessante Biografie. Ausgehend von Wien, wo er noch die letzten Züge des Kaiserreichs erlebt und die Verfassung für die Republik mitschreibt, muss er in der Nazizeit emigrieren, kommt über Deutschland, die Schweiz und Tschechien in die USA. Und das, was mich dann wieder interessiert hat, war, dass er 1968 in Berkeley war, wo die großen Studentenproteste begonnen haben. Es ist beeindruckend, wie sich so viele Verwerfungen, Umbrüche in einem Menschen spiegeln lassen.

Ich habe mich weniger mit seiner Rechtslehre beschäftigt, das würde zu weit führen, sondern vor allem mit seinen Schriften Vom Wesen und Wert der Demokratie (1920), Verteidigung der Demokratie (1932) und Democracy and Socialism (1954).

Der Titel Verteidigung der Demokratie legt nahe, das Stück auch in aktuellen politischen Bezug zu setzen. Inwiefern spielt der Angriff auf die „liberale Demokratie“ durch Trump bis Kurz und Kickl eine Rolle im Stück?

Wie ich begonnen habe, das Material zusammenzuschneiden – ich bediene mich ja sehr oft historischer Zitate – habe ich parallel dazu eine dystopische, satirische Strecke von einem nicht näher genannten Land eingebaut, in dem die einfachen Bürgerrechte abgebaut werden. Dann gab es jeden Tag im Probenprozess eine Meldung und wir dachten, das gibt’s doch nicht, was haben wir doch erfunden! (lacht) Also etwa, als der eine (gemeint ist Innenminister Herbert Kickl, Anm.) gemeint hat, gewisse kritische Teile der Presse dürfe man nicht mehr informieren. Wir hatten das in ähnlicher Weise eingebaut, so kleine Schnipsel, jetzt ist das Wahlrecht eingeschränkt, nur mehr bestimmte Steuerklassen dürfen wählen, und so weiter. All das, was wir bei Alles Walzer „erkämpft haben“, bauen wir jetzt zurück. Auf eine gewisse Art, vielleicht nicht ganz offiziell und ein bisschen heimlicher, hat uns die Realität eingeholt. Es verlässt noch nicht den Rahmen der Verfassung, aber es sind doch ziemlich dreiste Versuche, Rechte einzuschränken.

Man fühlt sich sehr in das Ende der 1920er- und die 1930er-Jahre zurückversetzt. Ich erinnere mich an den verrückten Dollfuß in Alles Walzer, der demokratische Rechte schrittweise weggeworfen hat. Hinkt der Vergleich oder bestehen hier reelle Gefahren?

Man muss hier vorsichtig sein, wenn man bestimmte Leute erreichen möchte und nicht gleich den Stempel des „Linkslinken“ haben möchte. Es beginnt bei ganz einfachen Dingen, wie, dass wir zu wenig über unsere Grundrechte und die Verfassung Bescheid wissen und was wir tun können. Natürlich kann man warnende Artikel schreiben, man kann sich empören, aber dann sagen andere wieder, das ist alarmistisch und „kommt nicht mit der Nazi-Keule“.

Trotzdem, ich habe kein Rezept dafür, was machen wir? Dass wir uns gegenseitig warnen und wir uns wahrscheinlich immer in der eigenen Blase sagen, wie arg? Ich finde zum Beispiel wahnsinnig bedenklich, dass aus Ministerien plötzlich Klagen an Privatpersonen kommen – die Journalistin Ingrid Brodnig ist verklagt; dann die drei Aktivisten, die beim Radrennen ein Transparent (gegen Kickl, Anm.) aufgespannt haben, und andere. Diese Leute in den Ministerien, die hier klagen, das sind ja Leute mit Verbindungen. Ich finde das total beängstigend. Man kann dagegen demonstrieren, aber dann sieht man etwa beim Anti-Raucher-Volksbegehren, das immerhin über 800.000 Unterschriften bekommen hat, dass es völlig egal ist. Was macht man konkret? Können es die Richter und Verfassungsexperten noch hochhalten?

Streiken müssten wir wieder einmal. Aber dieses Bewusstsein haben sie uns über die Sozialpartnerschaft komplett ausgetrieben. Wenn alle 120.000 Menschen, die gegen den 12-Stunden-Tag demonstriert haben, die Arbeit niederlegen würden – das trifft schon!

Es ist wohl eine Gefahr, sich rein auf die Verfassung zu verlassen, wie etwa der SPD-Vorsitzende Otto Wels, der sich noch bei der Verabschiedung von Hitlers Ermächtigungsgesetz völlig naiv an die Verfassung klammerte. Gleichzeitig haben wir es ja mit Leuten wie den deutschnationalen Burschenschaftern zu tun, die für die Demokratie nichts als Verachtung übrig haben, wenn etwa ein Johannes Hübner (FPÖ) noch heute antisemitische Witze über Hans Kelsen macht. Inwiefern tritt dieser Widerspruch im Stück hervor? Welche Rolle spielt aktiver Kampf zur Verteidigung der Demokratie?

Der Widerspruch ist Teil des Stücks. Aber nicht so, dass ich eine Handlungsanleitung geben kann. Genau das hat auch Kelsen in den 1930er-Jahren sehr beschäftigt, also dass es „Mode“ war, die Demokratie zu verachten und darauf auch noch stolz zu sein. Noch fünfzehn Jahre vorher hat sich halb Europa gefreut, dass sie die Kaiserreiche überwunden und demokratische Republiken gegründet haben, und dann geht es mit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise bereits wieder nach unten.

Foto: www.lupispuma.com / Volkstheater

 

Das Ersetzen der Demokratie durch Kontrolle mittels Sicherheitstechniken und Überwachung spielt eine zentrale Rolle. Wenn du Menschen mitbestimmen lässt, sind sie schwerer lenkbar, als wenn du sie kontrollierst und einschränkst.

Ein gutes Stichwort. Ein Spruch der Demokratie-Bewegung ist „Freiheit stirbt mit Sicherheit“. Kannst du uns einen Einblick geben, wie das Thema „Sicherheit“ in das Stück einfließt?

Es gibt diesen Trugschluss, der uns immer eingeimpft wird, dass wir unsere Freiheit und Demokratie nur erhalten können, wenn man sie gleichzeitig gegen „außen“ verteidigt und sich gegen antidemokratische Tendenzen wehrt, die man meistens nicht bei uns vermutet.  Zum Beispiel von Menschen, die es angeblich „kulturell“ nie gelernt haben. Das Argument: Damit wir demokratisch bleiben können, müssen wir nach außen Mauern aufziehen, oder die demokratischen Gesetze so ändern, dass sie für uns gleich bleiben, aber für „die Anderen“ anders sind. In Niederösterreich kam gerade die Weisung, dass Asylwerber nicht mehr nach draußen gehen dürfen.

In einer demokratischen Gesellschaft kannst du nicht einfach den Gleichheitsgrundsatz verlassen und sagen, wir, die „Bio-Österreicher“ sind gleich, und die anderen sind nicht gleich. Wenn man diesen Boden verlässt, beginnt man mit einer Feind-Rechtsprechung, in dem man Außenstehende mit einem Parallelrecht behandelt. Das ist es, was sie im Nationalsozialismus betrieben haben. In den Rechtstheorien wird das immer über einen scheinbaren Notstand gerechtfertigt. Diese Feindrechte wurden ganz stark nach den Anschlägen vom 11. September 2001 eingeführt, immer unter dem Vorwand der „Terrorismusbekämpfung“. Der Terrorist ist kein normaler Bürger mehr, sondern ein „Gefährder“ oder „Schläfer“, den man damit auch besonders überwachen darf.

Wie entsteht ein so umfangreiches historisches Stück?  

Ich trage im Vorfeld unser Material zusammen, recherchiere und baue ein ganz grobes Grundgerüst. Alle Materialien – aus dem Internet, aus Bibliotheken und Archiven, private Ausgrabungen – bringe ich mit, in diesem Fall 150 Seiten. Alle sitzen dann beisammen und sagen: Das schaffen wir nie. (lacht) Dann sortieren wir aus und selektieren, was wirklich wichtig ist. Aus dem wird dann das Stück gebastelt: Szenen, Verläufe und Geschichten.

Hast du dir das alles selbst zusammengestellt oder gibt es so etwas wie einen wissenschaftlichen Beirat?

Das wäre vielleicht eine Idee für das nächste Projekt. (lacht) Das Zusammensuchen habe ich in diesem Fall selbst gemacht, aber das macht ohnehin Spaß. Du kommst vom Hundertsten ins Tausendste.

Regisseurin Christine Eder. Foto: Paul Spittler / Volkstheater

Im Stück ist nicht nur die Biografie von Hans Kelsen und der Abbau der Bürgerrechte zu sehen, sondern parallel dazu wird der Aufstieg einer bestimmten Wirtschaftsideologie, die Ende der 1940er-Jahre entstanden ist und sich Step by Step hocharbeitet, bis sie in den 1970er- und 1980er-Jahren unter der britischen Premierministerin Margaret Thatcher und US-Präsident Ronald Reagan den Höhepunkt erreicht. Gerade das ergänzt sich: der Abbau von Bürgerrechten macht den Neoliberalismus in der ganzen Welt erst so richtig hegemonial – im Namen der „Freiheit“. Und unter diesem Label verkaufen die Neoliberalen absolute Entfesselung aller Marktmechanismen, gigantischen Konsum, grenzenloses Wachstum. Das funktioniert nur einfach nicht.

Ich fand dabei besonders die Vermischung der Freiheitsbegriffe interessant. Also wie sich etwa die 1968er-Bewegung mit der Werbeindustrie, die zur gleichen Zeit auf Freiheit setzt, getroffen hat. Freiheit konnte man sich plötzlich kaufen: Marlboro, Coca-Cola, das Haus mit Garten.

Muss der Kampf um die Verteidigung von Grundrechten und Demokratie also gleichzeitig ein Kampf gegen Kapitalismus sein?

Ja, gegen eine bestimmte kapitalistische Ausprägung. Kelsen selbst hat für einen Kompromiss zwischen „Sozialismus“ und Kapitalismus argumentiert, und gegen den Totalitarismus der Sowjetunion, aber auch gegen den Totalitarismus der Märkte. Der Kapitalismus hat natürlich auch sehr viel Wohlstand gebracht, aber gleichzeitig birgt die gewaltige Ungleichheit enormen sozialen Sprengstoff in sich. Deswegen meine ich, dass man sich gegen eine bestimmte Sorte des Kapitalismus wappnen muss – etwa die völlige Liberalisierung der Märkte, dagegen, dass alles raubgekauft werden kann, dass jetzt etwa der Vorrang von Wirtschaftsinteressen über Umweltschutz in die Verfassung geschrieben werden soll.

Alle Spieltermine auf volkstheater.at. Das Interview führte David Albrich. Redaktionelle Mitarbeit: Katharina Anetzberger.