Warum wir der „Klimaapartheid“ offene Grenzen entgegensetzen müssen
Für viele Menschen stellt der Klimawandel schon jetzt eine akute Bedrohung dar. Beinahe ein Drittel der Weltbevölkerung (1,9 Milliarden Menschen) lebt in küstennahen Gebieten unterhalb einer Seehöhe von 100 Metern und weniger als 100 Kilometer von der Küste entfernt. Zumindest mittelfristig ist für Klimawissenschaftler_innen absehbar, dass bestimmte Gebiete aufgrund des Meeresspiegelanstiegs nicht mehr bewohnbar sein werden. Betroffen wären unter anderem Großstädte wie Kalkutta, Shanghai, New York, und Tokio.
Aber es ist nicht nur das Meer, das den Menschen gefährlich wird: die Versalzung von Süßwasservorkommen, Verlust von Gletscherwassern, längere Dürreperioden und Extremwetterereignisse wie Überflutungen oder Buschfeuer zerstören die Lebensgrundlage für Generationen.
Hurrikan Irma, das größte Katastrophenereignis im Jahr 2017, vertrieb in der Karibik und Nordamerika über zwei Millionen Menschen und zerstörte einen Großteil der Infrastruktur in Puerto Rico, Kuba und auf den Amerikanischen Jungferninseln. Auf den Fidschi-Inseln wurden bereits erste Dörfer in Küstenregionen abgesiedelt. Das Schwinden der Gletscher am Hindukusch, Karakorum und Pamir und damit ausbleibendes Schmelzwasser senkt den Pegel des Indusstroms, was die Landwirtschaft Pakistans akut bedroht, vor allem, wenn der Monsunregen gänzlich oder spärlicher ausfällt. In Bangladesch, das im Flussdelta des Ganges und kaum über fünf Meter über dem Meeresspiegel liegt, werden Menschen gezwungen, in die Slums der Städte abzuwandern und dort im Elend zu leben. Die landwirtschaftliche Produktion in Äthiopien leidet aufgrund der Klimaveränderungen dramatisch, einem Land, in dem drei Viertel der Bevölkerung im Agrarsektor beschäftigt ist.
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) schätzt die Zahl der Klimaflüchtlinge bis 2050 zwischen 25 Millionen und einer Milliarde. Genauere Zahlen sind schwierig, denn es ist nicht klar, wie immens sich Wassermangel und Dürren genau auswirken, wie sich in Konsequenz politische Instabilitäten und Bürgerkriege entwickeln und, selbst wenn wir den CO2-Ausstoß sofort drastisch reduzieren, zu welchen Spätfolgen die historischen Treibhausgasemissionen noch führen werden.
Militärische Abschottung
Mit diesen Wanderungsbewegungen und Unsicherheiten konfrontiert, rüsten Staaten und Regierungen des Westens militärisch auf. Führende Sicherheitsexperten und Berater des US-Militärs warnen vor dem Klimawandel als „unmittelbares Risiko für die US-Sicherheit“. Das Pentagon veröffentlichte einen eigenen Bericht über die Folgen für die Nationale Sicherheit aufgrund klimabedingter Risiken. Darin bezeichnete das US-Verteidigungsministerium den Klimawandel als „akute und wachsende Bedrohung“.
Die Europäische Union (EU) betrachtet den Klimawandel gleichermaßen als „Bedrohungsmultiplikator“ und versteckt nicht, dass es ihr um die Verteidigung der Erdölindustrie geht. 2008 schickte die EU-Kommission einen ausführlichen Bericht mit dem entlarvenden Titel Klimawandel und internationale Sicherheit an den Europäischen Rat, in dem es heißt: „Da zu den Nachbarn der EU einige der am stärksten durch den Klimawandel gefährdeten Regionen gehören, wie etwa Nordafrika und der Nahe und Mittlere Osten, könnten sich der Migrationsdruck an den Grenzen der Europäischen Union sowie die politische Instabilität und die Konflikte in den betreffenden Regionen in Zukunft verstärken.“
Diese „zusätzliche Migrationsbelastung“ und potenzielle Unruhen könnten sich, warnt die Kommission, „auch in erheblichem Maße auf unsere Energieversorgungsrouten auswirken“. Die Kommission empfiehlt daher „militärische Krisenbewältigungs- und Katastrophenschutzinstrumente“. Mit anderen Worten, die Verteidigung des fossilen Kapitalismus mittels Waffengewalt geht für die EU über Menschen, die auf unseren Schutz angewiesen sind.
Klimaapartheid
Der US-amerikanische Soziologe Christian Parenti argumentiert in seinem Buch Im Wendekreis des Chaos – Klimawandel und die neue Geografie der Gewalt, dass jene, die vom fossilen Kapitalismus leben, ihre Interessen und ihre komfortablen, mit Klimaanlagen versorgten privilegierten Regionen in einer immer wärmeren Welt durch eine „Politik des bewaffneten Rettungsboots“ verteidigen – eine Politik, die sich durch neue Strategien der Aufstandsbekämpfung und Abschottung mittels Mauern, Drohnen und Internierungslagern auszeichnet.
Die kanadische Autorin Naomi Klein (Die Entscheidung: Klima vs. Kapitalismus) fürchtet, dass „wir immer mehr Hightech-Festungen errichten und immer restriktivere Immigrationsgesetze erlassen. Im Namen der ‚nationalen Sicherheit‘ werden wir bei Konflikten um Wasser, Erdöl und Ackerland in anderen Ländern intervenieren oder selbst solche Konflikte anzetteln. Kurz gesagt, unsere Kultur wird das tun, was sie bereits jetzt tut, nur noch brutaler und barbarischer, weil es das ist, wozu unser System errichtet worden ist.“
Die Vereinten Nationen warnen vor einer drohenden „Klimaapartheid“, in der „die Reichen durch Bezahlung vor Überhitzung, Hunger und Konflikten entkommen, während der Rest der Welt in ihrem Leid zurückgelassen wird“. Der Genozidforscher Alex Alvarez geht noch einen Schritt weiter und mahnt, dass die zunehmende Zahl an Klimaflüchtlingen, die sich Richtung Norden aufmachen, zu einer Wiedergeburt des „Antriebs zum Völkermord“ führen könnte – ein Szenario, das durchaus plausibel erscheint, bedenkt man, dass sich ein Großteil der Flüchtlinge aus muslimischen Ländern nach Europa aufmacht, einem Kontinent, der durch und durch mit antimuslimischen Rassismus verseucht ist.
Islamfeindlichkeit
Ein Vordenker des Massenmords ist der kanadische Autor Mark Steyn, der unter anderem für die bis vor kurzem von ExxonMobil und Shell finanzierte Klimaleugner-Einrichtung The Institute of Public Affairs (IPA) wirkte. Steyn erklärt in seinem Bestseller America Alone – The End of the World as We Know It, dass der Klimawandel ein Schwindel sei und die wirkliche Bedrohung von Muslimen ausgehe.
„Anders als die Besessenheit der Ökochonder mit ihrem steigenden Meeresspiegel“ bedrohe die Islamisierung „nicht möglicherweise, eventuell, hypothetisch die Malediven um das Jahr 2050; der Prozess schreitet schon heute voran“, schreibt Steyn. Denn „lange bevor die Malediven durch einen ‚steigenden Meeresspiegel‘ untergehen, liegt jeder Spanier und Italiener unter der Erde. Aber natürlich, macht euch weiter über den ‚Klimawandel‘ Sorgen.“ Als Lösung fordert er: „Wenn ihr den Feind“, die Muslime, „nicht kultivieren könnt, merzt sie aus“.
Diese gefährlichen Ideologien werden von rechtsextremen Parteien und Bewegungen weltweit aufgenommen. 2017 kommentierte FPÖ-Generalsekretär Herbert Kickl mit beinahe exakt gleichem Wortlaut Steyns eine Entscheidung des Wiener Bundesverwaltungsgerichts, das einem somalischen Flüchtling subsidiären Schutz aus Klimagründen gewährt hatte: „Der Klimawandel darf niemals ein anerkannter Asylgrund werden. […] Wenn das Schule macht und dieses Signal in den betroffenen Ländern Afrikas ankommt, dann brechen endgültig die Dämme und Europa samt Österreich wird auch noch mit Millionen von Klimaflüchtlingen überflutet.“
2014 gründete der Front National (heute: Rassemblement National) in Frankreich die Bewegung „Neue Ökologie“, um „Familie, Natur und Rasse“ vor dem „Klimakommunismus“ zu schützen. Die Alternative für Deutschland (AfD) ist in ihrem Grundsatzprogramm der Meinung, dass wir durch „Klimaextreme in vielen Ländern, insbesondere des afrikanischen Kontinents und des Nahen und Mittleren Ostens“ vor einer „weltweiten, bislang unvorstellbaren Wanderungsbewegungen in Richtung der wohlhabenden europäischen Staaten“ stehen würden. Gegen diese müsse man sich durch „Sicherungsmaßnahmen an den deutschen Grenzen zur Verhinderung jeder unkontrollierten Einwanderung“ schützen. Was diese Maßnahmen bedeuten, drückte der AfD-Politiker Marcus Pretzell so aus: „Die Verteidigung der deutschen Grenze mit Waffengewalt als Ultima Ratio ist eine Selbstverständlichkeit.“
Grenzen öffnen
Klimaaktivist_innen müssen in einer wärmeren Welt mehr denn je die vehementesten Kämpfer_innen gegen Rassismus und Faschismus sein. Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber fordert von den Ländern mit den höchsten kumulierten Treibhausgasemissionen ein „Klimaasyl“ und „Aufenthaltsrecht inklusive Arbeitserlaubnis plus Umsiedlungshilfe“ für Klimaflüchtlinge. Naomi Klein argumentiert gleichermaßen dafür, „Grenzen für Einwanderer zu öffnen, die wegen der Folgen des Klimawandels ihre Heimat verlassen mussten“. Amnesty International, Pro Asyl, Oxfam Deutschland und weitere NGOs verlangen eine Abkehr von „derzeitigen Migrationspolitik der EU“, die „den kommenden Herausforderungen von klimabedingter Migration und Flucht nicht gewachsen“ sei. Staaten müssten „dringend ihre Migrationspolitik öffnen und Maßnahmen ergreifen, die den Menschenrechtsschutz von MigrantInnen stärken.“
Die Klimakrise wird zweifellos zu großen Verwerfungen führen. Der militärischen Aufrüstung der Herrschenden und faschistischen Parteien wie Front National, AfD und FPÖ müssen wir unsere grenzenlose Solidarität entgegensetzen. Wir müssen Klimaflüchtlinge als Teil unserer Klasse und damit als Stärkung unserer Seite, die gegen Abschottung und für offene Grenzen kämpft, verstehen. Wir sollten mit ihnen gemeinsam das Zeitalter des Anthropozäns gestalten – eine Welt, in der Menschen ohne Ausbeutung, Unterdrückung und in Sicherheit leben können.
15.-17. Mai 2020: Antikapitalistischer Kongress „Marx is Muss". Programm | Sprecher_innen | Anmeldung | Facebook Veranstaltungstipps: ■ Samstag, 16. Mai, 17:00-18:15 Uhr: Kapitalismus zähmen oder stürzen? Was Systemwandel bedeutet. Mit: Ulrich Brand, Professor für Internationale Politik, stv. Leiter des Instituts für Politikwissenschaft, Universität Wien und Martin Empson, führendes Mitglied der Socialist Workers Party (SWP), Großbritannien ■ Sonntag, 17. Mai, 17:00-18:15 Uhr: „Klima und Grenzen schützen“: Der neue Ökofaschismus? Mit: Martin Empson, führendes Mitglied der Socialist Workers Party (SWP), Großbritannien