Wie das österreichische Gesundheitssystem ruiniert wurde
Mittlerweile gilt es als wissenschaftlich gesichert, dass insbesondere ältere Menschen von den Auswirkungen des Coronavirus bedroht sind. Nahezu ein Fünftel der Staatsbürger_innen in Österreich sind über 65 Jahre und gehören damit zur Risikobevölkerung. Der Großteil von ihnen lebt im ländlichen Raum. Das bedeutet, auf das österreichische Gesundheitssystem kommen riesige Herausforderungen zu.
Alles in Ordnung?
Im internationalen Vergleich schneidet das österreichische Gesundheitssystem verhältnismäßig gut ab. Auf 100.000 Einwohner_innen kommen in Österreich 28,9 Intensivbetten, damit liegt Österreich knapp hinter Deutschland (33,3) und deutlich vor den USA (25,8) oder Frankreich (16,3). Dank diesem relativ gut ausgebauten Gesundheitssystem kam es bisher selten vor, dass Patient_innen aufgrund von fehlenden Kapazitäten abgewiesen werden mussten.
Die Auslastung aller Spitalsbetten lag in den vergangenen Jahren niemals über 82%. Dem Rechnungshof, welcher als Exekutive des Neoliberalismus umschrieben werden kann, forderte 2015 den verstärkten Abbau von Spitalsbetten. Die „Experten“ sahen Einsparungspotential in Höhe von nahezu 5 Milliarden Euro. Ende März warnten Berechnungen der Gesundheit Österreich GmbH, der Med Uni Wien und der Technischen Universität Wien vor einer Überlastung der Intensivstationen ab Mitte April. Der aktuelle Rückgang an Neuinfektionen könnte diese Situation verhindern. Das die Überlastung unseres Gesundheitssystems eine reale Bedrohung ist, zeigt wie falsch die „Experten“ des Rechnungshofes lagen, als sie aus wirtschaftlichen Gründen einen Abbau der Spitalsbetten forderten
Der Arbeiterbewegung sei Dank
Die Entstehung des österreichischen Gesundheitssystems ist einer mächtigen Arbeiter_innenbewegung zu verdanken. Ein erster Schritt hin zu einer allgemeinen Sozialgesetzgebung wurde in Österreich 1889 vollbracht. Auf der einen Seite spiegeln sich in diesem humanitären Fortschritt Proteste der Arbeiter_innenbewegung, auf der anderen Seite war es das Verlangen des Staates nach gesunden kriegsfähigen Männern, die diese Entwicklung antrieb. Im Zuge der österreichischen Revolution 1918 wurde erstmals ein Ministerium für soziale Fürsorge unter dem Sozialdemokraten Ferdinand Hanusch geschaffen.
Angetrieben von einer radikalisierten Arbeiter_innenbewegung, zwang die Sozialdemokratie Staat und Kapital zu einer umfassenden Sozialgesetzgebung. Große Teile des österreichischen Sozialstaates (Krankenversicherung, Unfallversicherung, Arbeitslosenversicherung usw. ) wurden in dieser historischen Phase eingeführt. Zusammengefasst: Das österreichische Gesundheitssystem konnte der freien Marktwirtschaft abgetrotzt werden.
Warum trotzdem Gefahr
Die Gefahren, vor denen das österreichische Gesundheitssystem jetzt steht, sind das Produkt neoliberaler Sparpolitik. Von 1993 bis 2012 stiegen die Gesundheitsausgaben um durchschnittlich 4,8% pro Jahr. Diese Steigerung lag deutlich über dem durchschnittlichen Wachstum des BIPs mit 3,7%. Ein Grund, warum es absolut notwendig ist, dass Gesundheitsausgaben jährlich steigen, liegt in der Alterung der österreichischen Gesellschaft. Ältere Menschen benötigen tendenziell mehr und intensivere Betreuung durch das Gesundheitssystem.
Ein weiterer Grund sind Fortschritte in der Forschung und damit einhergehende neue und oftmals auch teurere Medikamente, genauso spielen neue Geräte eine Rolle. Beispielsweise machte die Wissenschaft im letzten Jahrzehnt riesige Fortschritte bei der Heilung von Hepatitis C, eine durch Viren verursachte Entzündung der Leber. Dank des wissenschaftlichen Fortschrittes stehen die Chancen, eine Infektion zu überleben, in Österreich äußerst gut, in den Ländern der „dritten Welt“ gehört Hepatitis C zu den tödlichsten Krankheiten, 2016 starben daran über eine Million Menschen.
Diese Menschen sterben, weil diesen Ländern keine Medikamente zur Verfügung gestellt werden und ihre Gesundheitssysteme schlecht ausgerüstet sind. Etwas vereinfacht ausgedrückt: Steigen die Gesundheitsausgaben, steigt die Lebenserwartung, bzw. die gesunden Lebensjahre.
Mit der Gesundheitsreform von 2013 wurde beschlossen, die jährliche Steigerung der Gesundheitsausgaben an das jährlich Wachstum des BIPs anzugleichen, das bedeutet, die Gesundheitsausgaben sollten jährlich nur mehr um 3,6% steigen. 2016 wurde erneut eine schrittweise Kürzung der steigenden Gesundheitsausgaben um 0,1 Prozentpunkte jährlich beschlossen, von 3,6% 2017 auf 3,2% im Jahr 2021. Fasst man diese Zahlenspiele zusammen, lässt sich sagen: Das Gesundheitssystem wurde an den wirtschaftlichen Erfolg Österreichs geknüpft. Dies führt zu einem Abbau von jetzt notwendigem Equipment. Von 2009 bis 2018 wurden über 4.500 Spitalsbetten abgebaut. Aktuell existieren in Österreich unabhängig von den Privatspitälern um die 44.183 Spitalsbetten, inklusive Privatspitäler 64.000. Gegenüber dem Jahr 1985 ist das ein Rückgang um über 10.000 Krankenhausbetten.
Die aktuelle Krise zeigt unmissverständlich die Absurdität dahinter auf, wenn versucht wird, ein Gesundheitssystem nach wirtschaftlichen Maßstäben auszurichten. Während man in „normalen Zeiten“ darüber hinwegtäuschen konnte, droht in der Krisensituation einer Pandemie der absolute Kollaps.
Abschaffung der Krisenvorsorge
Ein weiteres Problem für das österreichische Gesundheitssystem ist die Vernachlässigung der Krisenvorsorge in den letzten Jahrzehnten. Zu erwähnen ist hier die Abschaffung der Generaldirektion für öffentliche Gesundheit durch die letzte schwarz-blaue Regierung. Diese Institution war für eine umfassende Koordinierung im Falle von plötzlichen Epidemien wie der ersten SARS-Pandemie (2002), Vogel- und Schweinegrippe oder der COVID-19-Pandemie vorgesehen. Diese Institution soll laut Rudolf Anschober wieder eingeführt werden. In den ersten Wochen der Coronakrise fehlte eine Koordinierungsstelle, die beispielsweise die absurde Situation in Ischgl verhindern hätte können.
Auf der anderen Seite steht die deutlich größere Schwierigkeit, dass die Krisenvorsorge des Bundesheeres in den letzten Jahrzehnten nahezu vollends zerstört wurde. Lange Zeit verfügte das österreichische Bundesheer über zwei bestens ausgerüstete Sanitätsregimente, die binnen weniger Tage sechs mobile Spitäler an jedem Ort in Österreich aufbauen konnten. Die Ärzte der Sanitätsregimente waren auf Krisensituationen vorbereitet. Genauso besaß das Bundesheer Heeresspitäler wie bspw. in Wien Stammersdorf.
Während der SARS-Epidemie 2002 wurde dieses für potentielle Patient_innen isoliert. In der aktuellen Krise kann das Bundesheer nicht aushelfen. Wiederum sind die Sparzwänge im öffentlichen Sektor dafür verantwortlich. Nach einem Bericht des Rechnungshofes 2009, der offenlegte, dass gerade einmal 5% der Heeresspitalsbetten belegt sind und diese Plätze doppelt so teuer sind, wie in zivilen Krankenhäusern, wurden die Kapazitäten des Bundesheeres sukzessive abgebaut. Kein einziges der mobilen Spitäler ist noch einsatzfähig. Das Budget des Bundesheeres ist mit 2,55 Milliarden Euro noch immer riesig. Doch offensichtlich halten es unsere Regierungen für sinnvoller, in die Abwehr von Geflüchteten an den Grenzen als in den Schutz der Bevölkerung zu investieren.
Der Markt ist das Problem
Ein weiteres Problem des österreichischen Gesundheitssystems liegt in seiner Abhängigkeit vom kapitalistischen Weltmarkt. Die aktuell notwendigen medizinischen Ausrüstungen, angefangen bei Desinfektionsmitteln über Atemschutzmasken bis zu Beatmungsgeräten, werden allesamt von kapitalistischen, gewinnorientierten Unternehmen produziert. Das bedeutet, ihre Produktion wird weder global geplant noch werden sie nach Bedürfnissen vergeben.
Der Medizintechnik-Hersteller Stefan Dräger berichtet in einem Interview mit dem Spiegel, dass Kanzler Kurz Ende März so schnell wie möglich 1.000 Beatmungsgeräte haben wollte. Dräger konnte ihm aber nur 50 anbieten, weil seine Produktion nicht mit der Menge an Anfragen mithalten kann. Offenbar hat der Bundeskanzler die Öffentlichkeit belogen, als er am 4. März behauptete: „Wir sind in Österreich auf alle Szenarien zum Coronavirus gut vorbereitet“.
Gleichzeitig beklagen sich Krankenhausmitarbeiter_innen über das Fehlen von wichtigen Atemschutzmasken. Insbesondere die Filtermasken (FFP2/FFP3) werden zum Schutz vor dem Coronavirus benötigt. Der Großteil dieser Masken wird in China produziert. Die Coronakrise führte zu einer Verlangsamung der globalen Transportwege u.a. aufgrund von geschlossenen Grenzen.Gleichzeitig explodiert die Nachfrage nach diesen Masken, sodass die Produktion nicht mithalten kann. Die Marktlogik verschlimmert dieses Problem, der Preis dieser Atemschutzmasken stieg innerhalb von drei Tagen (25.-27. Februar) um fast 600%, von 2 Euro auf 13,52 Euro. Olaf Berse, Geschäftsführer von Clinicpartner, eine deutsche Einkaufsgemeinschaft für Krankenhäuser, erklärte: „Es ist Wildwest. Jeder versucht jetzt, sich zu bereichern, die Not der Krankenhäuser auszunutzen”.
Marktlogik außer Kraft setzen
Eine Gruppe aus Krankenhausarbeiter_innnen und Ärztinnen aus der italienischen Stadt Bergamo, die besonders stark von dem Coronavirus betroffen ist, erklärte in einem Statement: „Westliche Gesundheitssysteme basieren auf dem Konzept der patientenzentrierten Versorgung, aber eine Epidemie erfordert einen Perspektivwechsel hin zu einem Konzept der gemeinschaftszentrierten (community-zentrierten) Versorgung“.
Die Ärzte betonen in ihrem Statement die Bedrohung, dass sich gerade Krankenhäuser zu Verteilzentren des Coronavirus verwandeln. Eine Maßnahme dagegen muss zu allererst der kompromisslose Schutz des Gesundheitspersonals sein. Wenn die notwendigen Masken nicht erworben werden können, braucht es Pläne, wie die Produktion von österreichischen Unternehmen auf die Herstellung solcher Masken umgerüstet werden könnte. Stellenweise sind Krankenhäuser in Italien gezwungen, handelsübliche Tauchermasken zur Beatmung von Patient_innen zu verwenden, was zumindest beim aktuellen Stand der Forschung als Notmaßnahme funktioniert.
Es bräuchte eine sofortige Kollektivierung aller Betriebe, die auf die Produktion der nötigen Geräte umgestellt werden können. Insgesamt fordern die Ärzt_innen aus Bergamo, dass Gesundheitsvorsorge stärker außerhalb der Krankenhäuser stattfinden muss, und nur absolut lebensbedrohliche Fälle in Krankenhäusern behandelt werden sollten. Um diesen Vorschlag in die Tat umzusetzen, müssten sofort zehntausende Menschen in der Krankenversorgung ausgebildet werden, genauso wie Schutzausrüstung für diese Personen produziert werden müsste.
Kurz’ Selbstinszenierung als Retter Österreichs vor der Epidemie ist eine widerliche Schmierenkomödie. Seine Partei war die treibende Kraft hinter dem Umbau des österreichischen Gesundheitssystem und der Abschaffung der Krisenvorsorge. Wir müssen ihn dafür zur Verantwortung ziehen.