Wie sich Linke nicht zu Migration stellen sollten

Was von rechts als „Willkommenskultur“ verunglimpft werden sollte, ist viel mehr als eine karitative Bewegung. Sie stellt das gesamte System der staatlichen Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit infrage. Eine Antwort auf linke „Kritik der Migration“.
13. Januar 2020 |

Ist die antirassistische Bewegung einfach nur naiv und ein unbewusster Erfüllungsgehilfe der kapitalistischen Eliten? Spielt die Forderung nach offenen Grenzen nur der zynischen Lohndumping-Strategie unserer Herrschenden in die Hände? Sind wir Aktivistinnen und Aktivisten aus der Solidaritätsbewegung einfach nur blind gegenüber der zerstörerischen Wirkung von Migration? Das Buch „Kritik der Migration“ des linken Autors Hannes Hofbauer spart nicht mit provokanten Angriffen auf eine Bewegung, die mitnichten so blauäugig ist, wie der Autor sie offensichtlich wahrnimmt.

Migration als Problem?

Kapitalismus ist ein grausames Wirtschaftssystem und es zwingt Menschen auf vielfältige Weise dazu, ihre Heimat zu verlassen. Nur ein kleiner Prozentsatz der Menschen verlässt ohne Not ihre Heimat. Kapitalismus, und vor allem die mächtigsten Nationen in diesem globalen System, verursacht Kriege, Zerstörung, Ungleichheiten oder Disparitäten, die zu Wanderungsbewegungen in Richtung des kapitalistischen Zentrums führen. Soweit die Fakten, die wir als Teil der herrschenden Ordnung kritisieren müssen. Aber was ist die richtige politische Reaktion von Antikapitalist_innen auf diese Tatsachen?

Flüchtlinge bzw. Zuwanderer werden von den Kapitalisten als Lohndrücker eingesetzt. Und zwar gelingt ihnen das umso leichter, je weniger Rechte und Freiheiten die Zuwanderer genießen. Die aus Sicht der Unternehmer ideale Migrantin oder Migrant kommt dann ins Land, wenn sie, wie Gastarbeiter_innen in den 1960er-Jahren, für die Zwecke des Kapitals eingesetzt werden können, und wird wieder abgeschoben, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Als Lohndrücker wirken dabei nicht nur Migrantinnen, die ihre Arbeitskraft billiger verkaufen müssen als die vorhandene Arbeitskraft, sondern auch jene, die als Reservearmee von Arbeitslosen Druck auf die Löhne ausüben können. Diese Wirkung ist einer der Gründe, warum wir laut Hofbauer Migration als Problem verstehen und behandeln sollten.

Die weiteren von Hofbauer entwickelten Begründungen, auf die weiter unten noch eingegangen wird, sind:
Die sozialen Kosten für die Herkunftsländer.
Wir seien blind für den Import von kulturellen Konflikten.
Die Ankömmlinge sind mehrheitlich junge Männer, die von einer Kultur der Ehre geprägt seien. Die unwürdige Situation, in welche Einwanderer geworfen werden. Die Entstehung eines Überhangs an Arbeitskräften, der innovationshemmend wirken soll. Die Unterstützung für die herrschenden Eliten, welche die „Mobilitätsapologeten“ unbewusst leisten. Der Zusammenbruch des Bildungswesens in Ballungszentren mit hohem Migrantenanteil.

Argumente für die Falschen

Manchen Argumenten von Hofbauer kann man als in der Refugees-Welcome-Bewegung engagierter Mensch zustimmen, andere lassen einem die Haare zu Berge stehen, die größte Differenz ist eine politische: wie reagieren wir als Linke auf den Zuzug von Migranten, der ja schließlich eine Tatsache ist, vor die wir gestellt werden. Und wie wir reagieren, hängt natürlich stark davon ab, wie die verschiedenen politischen Kräfte damit umgehen, vor allem die organisierte Arbeiter_innenbewegung einerseits und die extreme Rechte andererseits.

Hofbauer zeigt sich nicht nur auf theoretischer Ebene migrationskritisch. Soll heißen, weil Migration meist die Folge von sozialen und politischen Verwerfungen ist, kann sie durchaus kritisch gesehen werden, ohne Migrant_innen abzulehnen. Er bezieht auch in den beherrschenden politischen Debatten über Flüchtlinge Stellung und schlägt sich nicht nur einmal auf die falsche Seite.

So unterstützt er etwa Karin Kneissl (parteilose Außenministerin unter Kurz und Strache) und ihre reaktionäre Sichtweise auf die arabischen Revolutionen und auf die Einwanderung junger muslimischer Männer. Das Testosteron junger Männer war nach Kneissl ein Motor für den arabischen Frühling. Die mehrheitlich männlichen und jungen Flüchtlinge, die 2015 die Grenzen überquert haben, hat sie wiederholt „Testosteronbomben“ genannt. „Als die Nahost-Expertin Karin Kneissl im Zusammenhang mit Migration das Wort Testosteron in den Mund nahm, zeigte sich die (links-) liberale österreichische Szene schockiert.“ Deshalb hätte sich die arme Missverstandene dann von der FPÖ umgarnen und zur Außenministerin küren lassen.

Über einen Kamm geschert

Das ist durchaus kein Ausrutscher von Hofbauer, das Buch ist gespickt mit rücksichtsloser Kritik an der linken und antirassistischen Szene und nicht nur an liberalen Wortführern, wie es im Klappentext heißt. Wir sind in seinen Augen „Mobilitätsapologeten“ oder „die unbedarft wirkenden Ideologen der Willkommenskultur“.

Es macht ihm ganz augenscheinlich Freude, sich Feinde in der Solidaritätsbewegung zu machen. Das macht ihn zwar nicht zum Rassisten, er ist aber voll von Verachtung für alle, die laut seinem Geschichtsbild den Herrschenden auf den Leim gehen. Und die orchestrieren die großen Migrationsströme ganz in ihrem Sinne. Im Sommer 2015 waren es nach seiner Sicht Merkel und die deutschen Unternehmer, die bewusst einen Lockruf („Wir schaffen das!“) an die Millionen Vertriebenen gesandt haben und Österreichs Regierung angewiesen hätten, die Grenzen zu öffnen.

Kein Wort vom Druck der Massen auf beiden Seiten der Grenze auf die Regierenden. Kein Wort von der ideologischen und politischen Schlacht, die seit dem Frühling 2015 zwischen Solidarischen und Flüchtlingen einerseits und der Regierung und der FPÖ andererseits getobt hat.

Druck von rechts

Die spontane Reaktion der Millionen (!) Menschen in Griechenland, Österreich, Deutschland und anderen EU-Staaten auf die Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Irak und Nordafrika im Jahr 2015 war politisch weitaus reifer. Schon im Frühsommer 2015, noch vor dem großen Ansturm auf die Grenzen, behauptete die Regierung, die Aufnahmekapazitäten seien erschöpft. Zur Untermauerung ließ sie die Zustände in den Flüchtlingslagern Traiskirchen und Thalheim ins Katastrophale abgleiten und begann, geschlossene Zeltlager zu errichten.

Das war natürlich eine gute Grundlage für Angstmache und um weiter eine ausländerfeindliche Stimmung zu schüren. In solcher Stimmungslage hätte die Regierung mit den Ankommenden verfahren können, wie es ihr beliebte. Und sie hätte sie keineswegs allesamt oder auch nur größtenteils als Lohndrücker eingesetzt. Seit dem Ende der 1990er-Jahre ist es immer schwieriger geworden, Asyl oder ein anderes Aufenthaltsrecht zu erlangen. Dabei würden wir Hofbauer ja insoweit Recht geben, dass die Kapitalisten tatsächlich eine Reservearmee von Arbeitslosen und Zuwanderern schätzen, um sie als Lohndrücker einzusetzen oder als Puffer „zwecks Krisenabfederung“, wie er in einem der guten Kapitel schreibt.

Der richtige Umgang mit der Situation ist es aber immer noch, sie willkommen zu heißen und darauf zu beharren, dass sie alle Rechte und gleiche Löhne bekommen, um den Kapitalisten einen Strich durch die Rechnung zu machen. Auffällig ist, dass die herrschenden Eliten heute mit der restriktiven Einwanderungspolitik oftmals gegen ihre ökonomischen Interessen agieren. Der Grund dafür ist ein politischer. Die extreme Rechte ist mit wenigen Ausnahmen wie Portugal und Griechenland quer durch die EU die bestimmende oppositionelle Kraft. Dass sie so stark ist, hat verschiedene Gründe; die rassistische Einwanderungspolitik der EU-Staaten in Zusammenwirkung mit der seit Jahrzehnten krisenhaften Wirtschaftsentwicklung sind auf alle Fälle mitverantwortlich.

Grenzen der Macht

An diesem Punkt muss man wieder die offensive Vorgehensweise der Solidaritätsbewegung loben. Sie hat, im Gegensatz zu den alten „Zentrumsparteien“ SPÖ und ÖVP, sich nie dem Druck von ganz rechts gebeugt und ist solidarisch mit Flüchtlingen geblieben, egal wie stark die Kampagnen der Gegenseite ausfielen und egal wie verloren die Sache angesichts der sich verschärfenden Gesetzeslage geworden scheint.

Schon bevor die Masse der Flüchtlinge mit Unterstützung von unserer Seite die Öffnung der Grenzen erzwungen hat, hat sich diese Standhaftigkeit bewährt. Rund um die großen Asylwerberheime kam es im Laufe des Frühjahrs und Sommers 2015 zu ähnlichen Szenen: Menschen aus ganz Österreich kamen mit Wagenladungen voll Hilfsgütern um dort auszuhelfen, wo der Staat kläglich „versagt“ bzw. bewusst eine Krise erzeugt hatte. Polizisten bedrohten die Hilfswilligen mit Ordnungsstrafen und Anzeigen, die ließen sich aber davon meist nicht beeindrucken. Und dass die Grenzbalken schlussendlich hochgezogen wurden, hat viel mehr mit diesem politischen Druck vonseiten der Flüchtlingsbewegung und von links zu tun, als mit dem Druck vonseiten der Unternehmerschaft, die sich Lohndrücker ins Land holen wollte.

Weder die Unternehmer, noch die Regierungen der mächtigsten EU-Staaten sind so allmächtig, wie Hofbauer sie darstellt – obwohl sie zweifellos völlig skrupellos sind und offenen Auges das viele Elend und die vielen toten Migrant_innen in Kauf nehmen.

Vorurteile abbauen

Aber er sieht nicht, wie die antirassistische Bewegung aktiv und bewusst auf Vorstöße der Regierungen und der rechtsextremen Parteien reagiert, und wie sie selbst Akzente setzt, die politikbestimmend wirken. Ja, wir sitzen am kürzeren Ast, solange nicht die gesamte Arbeiter_innenklasse geeint gegen die herrschenden Verhältnisse ankämpft, aber wir haben dieses Ziel als der sozialistische Flügel der Protestbewegung klar vor Augen. Die Mobilisierung der Gewerkschaften im Sinne der internationalen Solidarität ist der entscheidende Schritt, um die Kräfteverhältnisse in Richtung der Arbeiter_innen zu entscheiden.

Deshalb sollten Linke sich völlig anders gegenüber Migration positionieren, als das Buch „Kritik der Migration“ uns vorschlägt. Wir müssen aktiv darum kämpfen, die Arbeiter_innen mehr und mehr in die antirassistische Bewegung zu ziehen. In sozialdemokratischer Tradition stehend, verstehen die Gewerkschaften sich heute als Verteidiger der nationalen Arbeiterklasse, die Arbeiter_innen sind aber Teil einer internationalen Klasse. Anstatt die Anliegen von zugewanderten Arbeiter_innen denen einer heimischen gegenüberzustellen, gilt es einen gemeinsamen Kampf beider gegen die herrschenden Verhältnisse zu organisieren.

Für Lenin, den Anführer der russischen Revolution, war Zuwanderung etwas rundweg Progressives. „Es besteht kein Zweifel, daß nur äußerstes Elend die Menschen veranlaßt, die Heimat zu verlassen, und daß die Kapitalisten die eingewanderten Arbeiter in gewissenlosester Weise ausbeuten. Doch nur Reaktionäre können vor der fortschrittlichen Bedeutung dieser modernen Völkerwanderung die Augen verschließen.“ Und an anderer Stelle: „Nur wenn sie (die Arbeiterklasse) sich von allen barbarischen und dummen nationalen Vorurteilen befreit, nur wenn sie die Arbeiter aller Nationen in einem Verband zusammenschließt, kann die Arbeiterklasse zu einer Macht werden, dem Kapital widerstehen und eine ernste Verbesserung ihres Lebens erkämpfen.“

Widerspruch ist Politik

Um dorthin zu kommen, dass sich die Werktätigen verschiedener Nationen zu einer gemeinsamen Bewegung zusammenschließen, braucht es natürlich heute einen aktiven Kampf gegen rassistische Einwanderungskontrollen und gegen die rassistische Propaganda und Praxis der rechtsextremen Parteien. Und nichts anderes tun die von Hofbauer so heftig kritisierten Vertreter der „Willkommenskultur“.

Wenn die Herrschenden sagen, Flüchtlinge sollen in ihren Lagern bleiben oder zusehen, wie sie überleben, dann sagen wir, sie sollen zu uns kommen, es ist genug für alle da. Wenn die Herrschenden sagen, „schließt die Grenzen“, dann sagen wir, „öffnet sie“: Jeder Mensch soll sich dorthin bewegen können, wo er will. Es gilt den rassistischen Vorurteilen, wie sie von der FPÖ oder von einer Karin Kneissl geschürt werden, heftigst zu widersprechen und Flüchtlinge zu verteidigen. Hofbauers Buch liefert auf der einen Seite eine Unmenge wichtiger Fakten über die Geschichte der Migration, über den Umgang mit Gastarbeiter_innen, über den Werdegang der rassistischen EU-Zuwanderungspolitik. Er schreibt sehr eindrucksvoll über die Zerstörung der Lebensgrundlage afrikanischer Kleinbauern und Fischer oder über die Veränderung der Arbeitswelt infolge der Liberalisierung des Arbeitsmarktes in Osteuropa und innerhalb der EU.

Beeindruckend ist die Schilderung der Folgen von Auswanderung für die Herkunftsländer. Als Handlungsanleitung weist es den Leser oder die Leserin aber in die verkehrte Richtung. Zwar würden wir unterschreiben, was der von Hofbauer zitierte Slavoj Žižek als Reaktion auf die Flüchtlingsbewegung (auch) geschrieben hat: Es geht um die Durchsetzung eines „radikalen ökonomischen Wandels, der die Verhältnisse abschaffen sollte, die zu den Flüchtlingsströmen führen.“ Jeder solidarische Mensch, der Flüchtlinge willkommen geheißen hat, auch ohne das aus klassenkämpferischen Motiven zu tun, oder ohne dem Bewusstsein über im Kapitalismus liegenden Fluchtursachen, trägt mehr zur Entstehung einer internationalistischen Bewegung bei, als diese Form von linker Migrationskritik.