Wir verstehen nicht, was geschieht – Ein Roman von Viktor Funk
Der Historiker Alexander List reist nach Moskau, um den ehemaligen Gulaghäftling Lew Mischenko zu interviewen.
„Warum interessieren Sie sich für den Gulag?“, fragte Lew. „Ich interessiere mich für Sie, für Menschen, die ein Lager überlebt haben. Das Lagersystem ist einigermaßen gut erforscht, aber was es aus den Menschen macht…“
Lew will aber nicht einfach nur reden: Er bittet Alexander, ihn an den Standort des ehemaligen Gulags zu begleiten, nach Petschora, ein Ort im Norden Russlands, an dem es im Winter minus 47 Grad haben kann. Ein Ort, der nur existiert, weil es dort das Lager gab. Infrastruktur wurde benötigt, einige der ehemaligen Häftlinge sind dort geblieben, haben Familien gegründet. Einer von ihnen ist ein Freund und Mithäftling Lews. Auf der 32-stündigen Zugfahrt nach Petschora erzählt Lew von seinem Leben, unterbrochen von immer wiederkehrenden Schwächeanfällen. Das Leben hat ihm viel abverlangt.
Historisches Vorbild
Die Figur des Lew ist angelehnt an den Physiker Lew Mischtschenko. Als sowjetischer Soldat geriet dieser 1941 in Deutschland in Kriegsgefangenschaft, wofür er nach Kriegsende in seiner Heimat als Verräter und Kollaborateur zu Zwangsarbeit im Gulag verurteilt wurde. Kein Einzelschicksal. Wir kennen Lews Geschichte, weil er überlebt hat. Als Physiker konnte er sich in der Lagerindustrie nützlich machen. Andere konnten nicht auf das Glück einer guten Ausbildung zurückgreifen: Niemand wird je die Namen der unzähligen Analphabeten erfahren, die sich als austauschbares Menschenmaterial zu Tode geschuftet haben und irgendwo in Massengräbern verscharrt wurden. Sie schrieben keine Briefe, nichts blieb, um zu erzählen, dass es sie gab. Zu wissen, dass da draußen jemand auf dich wartet: ein weiterer Grund für Lews Überleben. Über Umwege erfuhr er, dass seine große Liebe Swetlana den Krieg überlebt hat. Das gibt ihm die notwendige Hoffnung und einen Grund, warum er es schaffen MUSS.
Auch den Angehörigen halfen die Lebenszeichen aus den Lagern, durchzuhalten. Es gab kaum eine Familie, die verschont blieb: mindestens 18 Millionen Menschen waren unter Stalin im Gulag, viele wurden direkt hingerichtet. Die Menschen sollten eingeschüchtert und Unbequeme aus dem Weg geräumt werden. Dazu gehörten auch die aktiven Zeug_innen der Oktoberrevolution.
Russland behindert Erinnerungsarbeit
Mithäftlinge setzen ihr eigenes Leben aufs Spiel, um Lews und Swetlanas Briefe durch Zäune hindurch zu schmuggeln. Einmal kann sie ihn sogar besuchen. Nach Lews Entlassung gelingt ihnen das Unmögliche: sie heiraten, gründen eine Familie, werden alt. Kurz nach Swetlanas Tod finden im Roman die Gespräche mit List statt. Der Historiker arbeitet mit Organisationen zusammen, die sich der Aufarbeitung der stalinistischen Säuberungen widmen und etwa ehemalige Zwangsarbeiter:innen und ihre Angehörigen unterstützen, wie z.B. Memorial. Die Menschenrechtsorganisation wurde 2021 durch die russischen Behörden aufgelöst (außerhalb Russlands führt sie ihre Arbeit fort) und ist damit ein Beispiel für die repressive Politik Russlands, auch und gerade im Umgang mit der Vergangenheit. Wie der Autor im Nachwort schreibt, sei die Recherche zum Thema bereits zur Entstehungszeit schwierig gewesen, heute jedoch beinahe unmöglich (der Roman erschien 2022). Die Originalbriefe des Paares wurden 2012 veröffentlicht: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors von Orlando Figes. Funk änderte den Wortlaut stark ab, verkürzt vieles, die überschwängliche Romantik in ihren Zeilen verschwindet bei ihm. Das mag auf der einen Seite schade sein. Andererseits aber passt diese Versachlichung zu Funks literarischem Arbeiten: Er tastet sich an das Grauen heran; sein Erzähler List lernt Lews Geschichte langsam durch ihre Gespräche kennen, stellt Fragen, entdeckt nach und nach. Die Briefe wird er erst später vollständig lesen, die Leser_innen sind hier nicht mehr dabei. Diesen Teil können sie selbst bei Figes nachholen.