Wirtschaftspolitik ist dumm und gemein
Inflation bedeutet, dass Preise steigen, weil an irgendeiner Stelle der Produktionskette Knappheit entstanden ist, beispielsweise in Containerhäfen oder bei Gaslieferungen aus Russland, oder weil die Nachfrage das Angebot übersteigt und so relativer Mangel entsteht. Knappheit bedeutet in einer Klassengesellschaft in weiterer Folge aber nicht, dass alle weniger haben, sondern dass die ausgebeuteten Klassen mehr Mangel leiden als die Ausbeuter. Inflation ist damit eine Verteilungsfrage, oder wie der Pariser Ökonom Patrick Artus ausdrückt „das Ergebnis eines Konflikts um die Einkommensverteilung“ – wem wird mehr Last aufgebürdet – der Seite des Kapitals oder der Arbeit. Je schlechter es um die Kampfbereitschaft der Arbeiter:innenklasse bestellt ist, desto mehr werden ihnen die herrschenden Eliten aufbürden. Noch einfacher gesagt, halsen uns die Bosse die Kosten für ihre Krisen auf, indem sie die Preise steigen lassen.
Patient verstümmelt
Ein Zyniker würde den Herrschenden zu der gelungenen Schandtat gratulieren, aber der große Witz der Geschichte ist, dass sie sich selbst die Profitgrundlagen zerstören: Zinserhöhungen, die von allen Zentralbanken angewandte Medizin gegen Inflation, belasten zwar in erster Linie die Lohnabhängigen, richten aber in der Weltwirtschaft gewaltigen Schaden an. Zinserhöhungen drücken die Nachfrage nach den teurer werdenden Gütern und Dienstleistungen. Gegen Verknappung des Angebots wirken sie nur, wenn sie die Nachfrage soweit abgewürgt haben, dass sich die Angebotsseite wieder neu ordnen und erholen kann. Es ist so, als würden sie einem Herzpatienten, anstatt sein Herz zu stärken, die Gliedmaßen amputieren, damit er mit seinem niedrigen Blutdruck wenigsten den restlichen Körper durchbluten kann. Die Schäden für die Weltwirtschaft sind enorm und sie werden zu ernsten Konflikte in den obersten Etagen führen. Die anhaltend hohen Zinssätze der Fed und anderer Zentralbanken werden zwangsweise zu einem erheblichen Rückgang der Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie der Innovation führen werden. Bei jeder Erhöhung des Zinssatzes um 1 Prozent würden die Forschungs- und Entwicklungs-Ausgaben in den nächsten Jahren um etwa 1 bis 3 Prozent und die Zahl neuer Patente um bis zu 9 Prozent zurückgehen, so die Berechnungen der Zentralbank von Kansas.
Die Energie- und Lebensmittelpreise sind „angebotsseitig“, also aufgrund des Zusammenbruchs der internationalen Versorgungsketten in die Höhe geschnellt, das Produktivitätswachstum ist seither sehr gering und seit dem Ende der Pandemie gehen qualifizierte Arbeitskräfte verloren
Trotz alle dem hat Jay Powell, der Chef der US-Notenbank, bei einem Treffen der Notenbanken Ende August in Jackson Hole angekündigt, dass die Zinsen bis 2025 so hoch bleiben könnten. Warum der Notenbankchef so stur an den hohen Zinsen festhält, bleibt teilweise ein Rätsel und natürlich ein Grund zur Spekulation. Seine Begründung, die „exzessive Nachfrage“ nach Krediten für Ausgaben oder Investitionen könnten so runtergebremst werden, klingt zwar überzeugend, aber so dumm kann er gar nicht sein.
Schadet den Lohnabhängigen
Powell meinte in seiner Eröffnungsansprache, bei der aktuellen Inflation handele sich um eine Kombination aus „übermäßiger Nachfrage“ und „schwachem Angebot.“ Das ist so offensichtlich, wie der Spruch, dass es zwei zum Streiten braucht. Nur dass damit noch nicht geklärt ist, wer den Streit begonnen hat und wer dafür hauptverantwortlich ist. Natürlich stellt sich die Nachfrage als übermäßig dar, wenn das Angebot zu knapp ist. Noch einmal: Die Energie- und Lebensmittelpreise sind „angebotsseitig“, also aufgrund des Zusammenbruchs der internationalen Versorgungsketten in die Höhe geschnellt, das Produktivitätswachstum ist seither sehr gering und seit dem Ende der Pandemie gehen qualifizierte Arbeitskräfte verloren.
Wenn sich die Inflation zwischenzeitlich abmildert, dann weil stückweise einzelne Flaschenhälse in den Lieferketten wieder durchgängig werden, und die Energie wieder fließt, kurz gesagt, wenn das Chaos auf der Angebotsseite etwas aufgeräumt wird. Aber Feiern wird man die Zinserhöhungen. Sie waren schmerzhaft, aber wirksam, wird man sagen! Natürlich kann man über den Umweg einer brutalen Senkung der Nachfrage, einen Rückstau auf der Angebotsseite mildern, aber wozu der Umweg, der so viel Schaden anrichtet? Der Grund mag sich, wie in der Argentinischen Schuldenkrise 2001, in der „inner-imperialistischen Konkurrenz“ verstecken. Damals ließ man das überschuldete Argentinien in den Bankrott schlittern, was sowohl den US-amerikanischen Banken, als auch den europäischen und asiatischen Banken Milliardenverluste bescherte. Die US-Notenbank bzw. die US-Regierung setzte damals den Schritt, weil sie ganz nüchtern kalkulierte, dass zwar alle Beteiligten unnötig leiden würden, aber die Banken der USA würden relativ weniger leiden als ihre Konkurrenz, also unter dem Strich als Sieger dastehen. Die USA hat damit Argentinien stellvertretend für alle kreditabhängigen Länder im globalen Süden diszipliniert, sie hat ihren Konkurrenzvorteil als führende Weltmacht ausgebaut und gleichzeitig die Dominanz des US-Dollars als die bestimmende Weltwährung gefestigt. Der Chef der US-Notenbank hat machtpolitisch unmissverständliche Fakten gesetzt! Ähnliche, nicht öffentlich geäußerte Überlegungen, könnten auch heute hinter den fortgesetzten Zinserhöhungen stecken.
Denn dass nicht nur die Lohnabhängigen gewaltig leiden, sondern die weltweite Konjunktur davon gebremst wird, liegt offen auf dem Tisch. Schauen wir uns wieder an, wer mehr leidet, wenn alle leiden. „Alle“ stimmt natürlich nicht, manche Wirtschaftssektoren haben Profite kassiert wie noch nie – der Einzelhandel und die Energiewirtschaft etwa, um nur die zwei offensichtlichsten zu nennen. Im ewigen Krieg zwischen Arbeit und Kapital ist es ganz klar, wer mehr gelitten hat: die Verbraucherpreise sind seit Ende der Pandemie weltweit um 17 – 19 Prozent gestiegen, die Löhne hinken dem aber weit hinterher, eigentlich ein Triumph für das Kapital.
Imperialistischer Konflikt mit China
Wie sieht es mit der Konkurrenz des US-amerikanischen Kapitals aus? Leidet das mehr als das Amerikanische? Ein Motiv dürfte China sein. Die USA unter Präsident Biden verfolgen gegenüber China eine noch härtere Politik als unter Trump. Die Turbulenzen während und nach der Pandemie haben die USA genutzt, um die Abhängigkeit der weltweiten Lieferketten von chinesischer Produktion abzumildern. Man sollte bei der Betrachtung auch nicht ausblenden, dass um Taiwan sehr bald ein Krieg entbrennen kann, wie um die Ukraine. Natürlich bereiten sich die USA nicht nur militärisch darauf vor.
Aber der Preis für die Isolierung Chinas könnte sehr hoch werden. Ein weiteres Dokument aus Jackson Hole 2023 kommentiert, es ist „unklar, ob diese Maßnahmen die Abhängigkeit der USA von den mit China verbundenen Lieferketten verringern werden, und es gibt außerdem bereits Anzeichen dafür, dass die Preise für Einfuhren aus Vietnam und Mexiko steigen“. Die Isolierung Chinas könnte also dem globalen Wachstum schaden. Powell gibt sogar selbst zu, dass er nicht mehr weiß, wohin die Reise geht: „er navigiere bei bewölktem Himmel nach den Sternen!“ Anders gesagt, der Kapitän weiß nicht, ob sein Schiff je wieder einen Hafen anlaufen wird.
Wir, die Lohnabhängigen, oder die Arbeiter:innenklasse, wären ganz schön blöd, wenn wir uns den Kopf der Kapitalisten zerbrechen würden. Aber wir untersuchen die Motive und die Wirkung der Entscheidungen des Kapitals, weil wir nicht gemeinsam mit ihnen untergehen wollen. Beobachtet man Powell, Biden und Co. wird klar, dass sie die Zeichen der Zeit kein bisschen verstanden haben. Wir werden die Weltwirtschaft niemals mehr in einem gesunden Zustand erleben, weil sie Teil der Katastrophe ist, in die wir gerade hineinschlittern. Wir müssen im Gegenteil die Wirtschaft in die eigenen Hände nehmen und die Produktion so steuern, dass sie dem Planeten und den Menschen dient, und nicht den Kräften, die den Planeten zerstören.