IST-Stellungnahme zum neuen Krieg im Nahen Osten

Eine Erklärung der Internationalen Sozialistischen Strömung, der Linkswende jetzt angehört, zu Israels Krieg gegen Gaza
2. November 2023 |

  • Die Angriffe der Hamas und anderer Widerstandsorganisationen am 7. Oktober waren eine Warnung, dass es im Nahen Osten keinen Frieden geben kann, solange die palästinensische Frage nicht gelöst ist. Israel und seine westlichen Verbündeten, allen voran die Vereinigten Staaten, reagierten jedoch mit einem neuen imperialistischen Krieg. Der Angriff der israelischen Streitkräfte auf den Gazastreifen hat bereits Tausende von zivilen Todesopfern und enorme Verwüstungen gefordert und macht das Leben der einfachen Menschen zu einer täglichen Tortur.
  • Zu viele in der liberalen und reformistischen Linken sind ihren Regierungen bei der Verurteilung der Hamas und der Bekräftigung von Israels Recht auf Selbstverteidigung gefolgt. Die Flut an medialen Berichten über die Gräueltaten hat den Blick darauf verstellt, was am 7. Oktober tatsächlich geschah. Aber wenn Unterdrücker und Unterdrückte aufeinandertreffen, kann es keine Neutralität oder Gleichwertigkeit geben. Wir unterstützen das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes und sein Recht, einen bewaffneten Kampf gegen den israelischen Siedlerstaat zu führen.
  • Die korrupte rechtsextreme Regierung von Benjamin Netanjahu hatte mit Unterstützung der Biden-Administration darauf hingearbeitet, die Beziehungen zu Saudi-Arabien zu normalisieren“, nachdem 2020 die „Abraham-Abkommen“ mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain geschlossen worden waren. Netanjahu versuchte, die Palästinenser:innen an den Rand zu drängen, indem er die Hamas gegen die Palästinensische Autonomiebehörde ausspielte, während zionistische Siedler und die IDF weiterhin Palästinenser:innen im Westjordanland und in Ostjerusalem enteigneten und vertrieben.
  • Die Anschläge vom 7. Oktober haben auf brutale Weise gezeigt, dass die Palästinenser:innen nicht ignoriert oder an den Rand gedrängt werden können. Sie haben auch das israelische Militär- und Sicherheitsestablishment gedemütigt, das die Angriffe nicht vorausgesehen und nur langsam abgewehrt hat. Für die rassistischen Machthaber Israels muss diese Niederlage mit einer spektakulären Racheaktion bestraft werden.
  • Die israelische extreme Rechte, deren Einfluss unter Netanjahu enorm zugenommen hat, sieht in dem neuen Krieg auch eine Gelegenheit, ihren Traum vom „Transfer“ zu verwirklichen – der Massenvertreibung der Palästinenser:innen aus den besetzten Gebieten. Die Anweisung der IDF an die Palästinenser:innen im Gazastreifen, sich nach Süden in Richtung der ägyptischen Grenze zu bewegen, wird weithin als ein erster Schritt zur Verwirklichung dieses Ziels angesehen, indem sie die Palästinenser:innen in die Wüste Sinai treibt. Die USA haben versucht, Druck auf die ägyptische Regierung auszuüben, damit sie die Grenze öffnet, und Netanjahu hat sich bei der EU dafür eingesetzt, dass sie dasselbe tut. In der Zwischenzeit haben die Siedler die Vertreibung von Beduinenhirten aus dem Westjordanland intensiviert. Die Regierungen des Nahen Ostens müssen sowohl Israel als auch die westlichen Mächte davor warnen, dass eine zweite Nakba zu einem allgemeinen Krieg in der Region führen würde.
  • Die USA, die Europäische Union und die führenden westeuropäischen Staaten stehen Israel nicht nur mit Worten, sondern auch mit militärischer Unterstützung – im Falle der USA mit zwei Flugzeugträgerverbänden, 2000 Marinesoldaten und Luftabwehrsystemen – zur Seite. Die Regierung Biden hat die Hamas und Putin als Feinde der „Demokratie“ miteinander in Verbindung gebracht. Für den Rest der Welt hat dies lediglich die Heuchelei unterstrichen, mit der die USA und die NATO ihren Stellvertreterkrieg mit Russland führen. Sie unterstützen das Recht der Ukrainer:innen auf Selbstverteidigung gegen Moskaus Invasion und prangern Angriffe auf ukrainische Zivilist:innen und die Infrastruktur an, während sie den Palästinenser:innen das gleiche Recht verweigern und bei Israels Gräueltaten ein Auge zudrücken.
  • Tatsächlich befinden sich Israel und seine westlichen imperialistischen Unterstützer in einer verwundbaren Position. Wenn der Iran und die Hisbollah im Libanon in den Krieg eintreten würden, wäre die IDF in Bedrängnis. Die USA haben es eilig, ihre eigenen Truppen und Stützpunkte in der Region zu schützen, obwohl ihre Angriffe, z. B. auf Ziele in Syrien und im Jemen, den größeren Krieg auslösen könnten, den sie vermeiden wollen. Washington hat auch Mühe seine Beziehungen zu China zu managen, dessen wirtschaftlicher und politischer Einfluss im Nahen Osten rapide zunimmt. Eine militärische Eskalation in der Region könnte die wachsenden zwischenimperialistischen Rivalitäten im Weltmaßstab noch verschärfen. Daher der wachsende Druck der USA und vieler anderer Regierungen auf Israel, „humanitäre“ Maßnahmen zu ergreifen, um das Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza zu lindern.
  • Die Belagerung des Gazastreifens hat eine große weltweite Bewegung der Solidarität mit Palästina ausgelöst, selbst in Ländern, in denen die Unterdrückung stark ist. Diese Bewegung hat sich trotz der offiziellen Kampagnen entwickelt, die sich in den letzten Jahren verstärkt haben, um Antizionismus als Antisemitismus zu brandmarken, und trotz der Bemühungen, insbesondere in Europa, die Solidarität mit Palästina zu kriminalisieren. In einigen Ländern wird die Eskalation und die wachsende Solidaritätsbewegung mit Palästina von einer neuen Welle der Repression und des antimuslimischen Rassismus begleitet. Wir wenden uns gegen die Demonstrationsverbote und die rassistischen Angriffe gegen die palästinensische und muslimische Bevölkerung, gegen den Vorwurf des Antisemitismus und gegen die Verweigerung des Demonstrationsrechts. Zu den Demonstrierenden auf der ganzen Welt gehören auch immer mehr jüdische Menschen, die sich weigern, Israel in ihrem Namen sprechen zu lassen. Wir von der Internationalen Sozialistischen Strömung haben uns aktiv am Aufbau der Massendemonstrationen beteiligt und wir verpflichten uns, dies auch weiterhin zu tun. Sozialisten müssen im Zentrum der Bewegung stehen, denn sie birgt in verschiedenen Ländern ein echtes Potenzial, um die revolutionäre Linke qualitativ zu stärken.
  • Die aktuelle Solidaritätsbewegung mit Palästina drückt einen beeindruckenden Aufschwung an öffentlichem Internationalismus aus, und hat der tiefen Wut gegen unsere herrschenden Klassen, die sich so schamlos auf die Seite des Zionismus geschlagen haben, eine Stimme gegeben. Es ist wichtig, Druck auf unsere Regierungen auszuüben. Der Schwerpunkt wird von Land zu Land unterschiedlich sein, aber Forderungen wie die nach der Ausweisung des israelischen Botschafters können ein konkretes Mittel sein, um die Regierungen zum Umdenken zu zwingen.
  • Die Solidarität muss nicht nur auf der Straße zum Ausdruck kommen. Massendemonstrationen müssen durch direkte und gemeinschaftliche Aktionen und durch die Durchsetzung der organisierten Arbeitermacht verstärkt werden. Die Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS) ist in den letzten Jahren zunehmend unter staatlichen Beschuss geraten. Die Bemühungen, sie aufzubauen, müssen intensiviert werden. Die Solidarität mit Palästina innerhalb der Gewerkschaften ist besonders wichtig. Während der Intifada der Einheit im Jahr 2021 haben Hafenarbeiter in der ganzen Welt, von Italien bis Südafrika und den Vereinigten Staaten, Waffenlieferungen an Israel blockiert. Wir müssen auf diesem Beispiel aufbauen. Die Unterstützung für die Befreiung der Palästinenser:innen ist an den Universitäten wieder aufgetaucht, und militante Aktionen zur Unterstützung von BDS können zum Wiederaufbau einer starken radikalen Studentenbewegung beitragen. Aktivisten können BDS auch in ihrem lokalen Umfeld fördern, indem sie zum Beispiel dazu aufrufen, israelische Waren aus Supermärkten zu entfernen.
  • Es kann keine Lösung für die palästinensische Frage geben, solange der zionistische koloniale Siedlerstaat Israel existiert. Er basiert strukturell auf der Enteignung und Unterdrückung der Palästinenser:innen. Er kann nicht friedlich mit ihnen koexistieren, sondern muss entweder einen ständigen Krieg gegen die Palästinenser:innen führen oder sie, wie die extreme Rechte fordert, ausrotten oder vertreiben. Die Anschläge vom 7. Oktober haben darüber hinaus gezeigt, dass dieser Staat nicht einmal die Sicherheit seiner eigenen jüdischen Bürger garantieren kann – das historische Ziel des Zionismus. Wir unterstützen die ursprüngliche Vision der palästinensischen Nationalbewegung von einem säkularen demokratischen Staat auf dem Gebiet Israels und der besetzten Gebiete, in dem Araber und Juden, Muslime, Christen und Religionslose gleichberechtigt und friedlich zusammenleben können. Wir halten das Aufkommen einer neuen Generation radikaler Kämpfer in Palästina, die der gescheiterten Zweistaaten-Lösung und den korrupten Ausverkauf der Palästinensischen Autonomiebehörde ablehnen und den Massenwiderstand früherer Intifadas wieder aufleben lassen wollen, für sehr wichtig.
  • Der palästinensische Widerstand ist eine wesentliche Voraussetzung für die Verwirklichung dieses Staates. Aber die Macht der gesamten arabischen Welt muss mobilisiert werden, um den westlichen imperialistischen Wachhund, den Israel darstellt, zu besiegen. Die bestehenden arabischen Regime – korrupt, unterdrückerisch und eng mit dem Imperialismus verbunden – haben sich längst als unfähig erwiesen, diesen Kampf zu führen. Eine sozialistische Revolution im arabischen Osten, bei der die Arbeiter, städtischen Armen und Bauern diese Regime stürzen, würde die Voraussetzungen für einen Sieg über Israel schaffen. Die Aufstände von 2011 und in jüngster Zeit in Algerien und im Sudan haben uns einen Einblick in das Potenzial für eine Revolution im Nahen Osten und in Nordafrika gegeben. Der brutale Rachefeldzug Israels gegen die Palästinenser:innen birgt für den westlichen Imperialismus nicht zuletzt die Gefahr, dass er die arabischen Massen wieder auf die Straße bringt. Wie Tony Cliff, der Gründer unserer Strömung, zu sagen pflegte, führt der Weg nach Jerusalem durch Kairo.

Die Koordination der Internationalen Sozialistischen Strömung, 31. Oktober 2023