„Diese Explosion bedeutet, dass wir alles ändern müssen“– Augenzeuge aus Beirut
„Wir haben lange gegen das System gekämpft, aber jetzt hat unsere Wut so überhandgenommen, dass sie über alles Bisherige hinausgeht, denn die Explosion im Hafen bedeutet, dass wir alles ändern müssen. Am Samstag haben wir das Außenministerium, das Wirtschaftsministerium, das Energieministerium und den Bankenverband besetzt. Das Bankgebäude haben wir angezündet. Einige unserer Revolutionäre haben einen großen Kran mitgebracht, um eine Barrikade niederzureißen, die zur Verteidigung des Parlaments aufgestellt wurde.“
Das sind die Worte von Rasha aus Beirut im Libanon. Er gehört zu den vielen Tausenden von Demonstranten, die am Samstag trotz Tränengas, Massenverhaftungen und Gewaltübergriffen den Sturz der Regierung und des politischen Systems gefordert haben.
Regierung trägt Schuld an Explosion
Ihre Proteste folgten einer gewaltigen Explosion im Hafengebiet der Stadt, bei der über 150 Menschen ums Leben kamen.
Rund 2.750 Tonnen hochexplosives Ammoniumnitrat wurden mehr als sechs Jahre lang im Hafen gelagert. Libanesische Zollbeamte schrieben zwischen 2014 und 2017 mindestens sechs Mal Briefe an das Gericht, um Anweisungen zur Entsorgung des Materials zu erhalten. Nichts geschah.
Noch vor sechs Monaten warnten Beamte, die den Sprengstoff inspizierten, dass „ganz Beirut hochgehen würde“, wenn er nicht wegtransportiert wird.
Und am vierten August kam es dann zur Explosion. „Die Explosion war ein richtiges Massaker. Man kann nicht sagen, dass es ein Unfall war“, sagte Rasha der Zeitung Socialist Worker.
„Sie ist ein Symbol und eine Folge der Korruption der Menschen in der Regierung und eines politischen Regimes, das für die Mächtigen, aber nicht für die Armen arbeitet. Es war nicht irgendein externer Feind, sondern ein Angriff von innen. Es war das Ergebnis einer Regierung, die Krieg gegen ihr eigenes Volk führt.“
Politiker am Galgen
In weiten Teilen des Stadtzentrums fanden Proteste statt, bei denen Menschen die Barrikaden der Sicherheitskräfte umwarfen und „Revolution! Revolution!“ schrien.
Hunderte von Menschen übernahmen für mehrere Stunden das Gebäude des Außenministeriums. Sie hängten rote Transparente mit erhobener Faust an das Gebäude, das bei der Explosion beschädigt worden war, und ernannten Beirut zur „entwaffneten“ Stadt.
Tausende von Menschen versammelten sich auf dem zentralen Märtyrerplatz. Sie errichteten Galgen und führten symbolische Hinrichtungen von Nachbildungen von Politikern durch, darunter Präsident Michel Aoun, Parlamentspräsident Nabih Berri, und Hisbollah-Führer Hasan Nasrallah.
„Ermordete, nicht Märtyrer“, lautete das Schild eines Demonstranten. „Verschwindet, ihr Abfall“, ein anderes. Die Zeitung New York Times berichtet: „Die Demonstranten riefen ‚die Menschen wollen den Sturz des Regimes‘ und hielten Plakate mit der Aufschrift ‚verschwindet, ihr seid alle Mörder‘“.
„Wir wollen eine Zukunft mit Würde, wir wollen nicht, dass das Blut der Opfer der Explosion umsonst war“, sagte Rose Sirour, eine der Demonstrant_innen. „Niemand auf den Straßen legt Wert darauf, dass die Regierung verspricht, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.“
Rückkehr der arabischen Revolution?
Der Libanon befand sich bereits vor der Explosion in der Krise.
Die Wirtschaft befindet sich im freien Fall, die Banken haben den Menschen den Zugang zu ihrem Geld verweigert, und Arbeitslosigkeit und Inflation sind rasant gestiegen.
Die Zahl der gemeldeten Coronavirus-Fälle stieg täglich, und in vielen Teilen des Landes kam es zu langanhaltenden Stromausfällen. „Revolution“ war der Slogan der Proteste im Libanon im vergangenen Oktober, die ein Ende der Ungleichheit, der Korruption und des sektiererischen politischen Systems forderten.
Die Slogans auf den Straßen Beiruts ähneln heute denen, die vor fast einem Jahrzehnt im gesamten Nahen Osten zu hören waren und zum Sturz der Regime in Tunesien und Ägypten geführt haben.
Das Ausmaß der Proteste hat Premierminister Hassan Diab nun gezwungen, vorgezogene Wahlen zu versprechen.
Diab sagte, er würde ein Gesetz einführen, das vorgezogene Wahlen fordert, und dass er noch zwei Monate lang in der Regierung bleiben würde, bis die großen Parteien eine Einigung erzielen können.
Am zehnten August trat die gesamte Regierung zurück.
Radikale Veränderungen notwendig
Aber für viele Demonstranten ist das nicht genug. „Wir wollen nicht nur, dass die Mächtigen untereinander ein paar Stühle verrücken“, sagt Rasha. „Es kann nicht bei kleinen Veränderungen bleiben. Diese Verbrecher haben unsere Häuser gesprengt und uns die Hoffnung genommen.“
„Dieses sektiererische Stellvertreter-System führt zu Korruption und Inkompetenz“, so Sami Atallah, Direktor des Libanesischen Zentrums für politische Studien. Und: die alte libanesische Führung versuche, „die Schuld auf die Regierung abzuwälzen und deren Sturz hinzunehmen, und so die Schuld von ihnen oder ihren Kumpanen abzulenken“.
Politiker_innen, die in der Öffentlichkeit aufgetreten sind, darunter der ehemalige Premierminister Saad Hariri, wurden angegriffen. Verärgerte Demonstranten machten Hariri klar: „Denken Sie nicht einmal daran, zurück an die Macht zu kommen.“
Justizministerin Marie-Claude Najm wurde am vergangenen Donnerstag durch die Straßen des Gemmayzeh-Viertels von Beirut verfolgt und mit Wasserflaschen beworfen. Die Demonstrant_innen sind auch wütend auf die Polizei und die Armee für ihre brutale Behandlung derjenigen, die auf die Straße gehen.
„Die Krise im Libanon ist so tief, dass nur eine grundlegende Veränderung von oben bis unten eine Chance hat, uns zu retten“, so Rasha.
Der Artikel erschien zuerst auf der britischen Webseite socialistworker.co.uk. Übersetzt aus dem englischen Martin Völkl