20 Jahre antikapitalistische Bewegung

Am 30. November 2019 jährten sich die Proteste von Seattle zum 20. Mal. Der „Battle of Seattle“ gilt als Geburtsstunde der antikapitalistischen Bewegung, deren Wirkung bis heute zu spüren ist.
2. Dezember 2019 |

Vor Seattle schien es, konnte der neoliberale Kapitalismus uneingeschränkt die Welt nach seinen Vorstellungen umgestalten. Auf den großen Gipfeltreffen der globalen Finanzinstitutionen Weltbank und Welthandelsorganisation (WB und WTO), Weltwährungsfonds (IWF) und Weltwirtschaftsforum (WEF) versammelten sich die reichsten und mächtigsten Menschen der Welt und steckten den Rahmen ab, innerhalb dessen sie die Welt unter sich aufteilen wollten. Umweltschutz- und Menschenrechtsauflagen gelten als „Handelshemmnisse“ und können im Rahmen der Welthandels-Schiedsgerichte von Konzernen beklagt und gestoppt werden. Beinahe jeder dieser Gipfel war in den 1990er-Jahren von Protesten begleitet, die aber niemals bedrohlich wurden. Seit Seattle sind die Mächtigen die Gejagten und die Radikalisierung der Protestbewegungen schreitet unentwegt voran.

Was die Seattle-Proteste so erfolgreich gemacht hat, wurde unter Linken auf der ganzen Welt aufmerksam diskutiert. Alle träumten davon, den Herrschenden das Fürchten zu lehren und die Linke als Bewegung zu erneuern. In Seattle war einerseits das Zusammenkommen von radikalen Jugendlichen und der Gewerkschaftsbewegung entscheidend, andererseits die schieren Zahlen – 50.000 gingen auf die Straße.

Die jungen Demonstranten, oft aus Umweltschutzgründen in Seattle, wurden wegen diverser Verkleidungen „Turtles“ (Schildkröten) getauft. Die Turtles wurden am 30. November fürchterlich von der Polizei drangsaliert, mit Gummiknüppeln geschlagen und mit Tränengas niedergesprüht. Bis den „Teamsters“ (Gewerkschaftern) der Geduldsfaden riss und sie den Turtles zu Hilfe eilten. Gemeinsam bezwangen sie die Polizei und die Gipfelteilnehmer gerieten in Panik.

Neuer Aufschwung an Kämpfen

Seattle 1999 war so nicht nur ein Erfolg gegen die WTO, der Protest wurde zur Geburtsstunde der antikapitalistischen Bewegung. Die meisten Aktivist_innen der Klimagerechtigkeitsbewegung waren damals noch nicht auf der Welt und sind dennoch von den Ideen der Bewegung beeinflusst. In diesem Sinne sind wir – Aktivist_innen aus den verschiedensten Zusammenhängen – alle Kinder des „Battle of Seattle“.

Um das Ausmaß des Wendepunktes 1999 zu begreifen, müssen wir uns die Szene der Verheerung in Erinnerung rufen, die nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime 1989 bis 1991 herrschte. Zu dieser Zeit verkündete der berühmte US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das Ende der Geschichte. Der liberale Kapitalismus habe über alle Systemalternativen triumphiert und würde, es sei denn es käme zu einem unvorhersehbaren Rückfall in die Barbarei, für immer herrschen.

Sozialdemokratische Regierungen, die in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre auf einer Welle der allgemeinen Ablehnung des Neoliberalismus überall in Europa ins Amt gewählt wurden, setzten selbst neoliberale Politik um. Manche, wie New Labour unter Tony Blair in England und die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder in Deutschland, kürzten sogar radikaler als ihre konservativen Gegner.

Perry Anderson, Herausgeber der New Left Review, schrieb pessimistisch, die Vorherrschaft des Neoliberalismus sei nun so unangefochten, dass es „zum ersten Mal seit der Reformation keine bedeutende Opposition mehr gibt.“

Doch ein neuer Schwung für Rebellionen lag schon vor Seattle in der Luft. Der Aufstand der Zapatistas am 1. Jänner 1994 in Mexiko gegen das Inkrafttreten des NAFTA-Freihandelsabkommens setzte nicht nur einen wesentlichen Impuls für indigenen Widerstand in Lateinamerika, sondern beflügelte auch Widerständische weltweit.

In Frankreich erhoben die Gewerkschaften 1995 mit Massenstreiks im Öffentlichen Sektor wieder das Haupt. In Deutschland brachen die Metaller auch 1995 den Bann und läuteten mit ihrem Streik das Ende der Ära Kohl ein. In Seattle brach diese Bewegung 1999 auf die Straßen durch und schaffte die nötige Verallgemeinerung.

Kein Ende der Geschichte

Seattle wurde zum Kristallisationspunkt der neuen Stimmung und repräsentiert bis heute die Wiederkehr des radikalen Widerstands nach den historischen Niederlagen der Arbeiter_innenbewegung in den 1970er- und 1980er-Jahren. Das Bewusstsein, dass Kapitalismus selbst der Fehler ist, unterschied die antikapitalistische Bewegung von früheren Single-Issue-Kampagnen, welche sich um einzelne Themen und Missstände drehten. Diese Bewegung vereinte Rinnsale zu einem gewaltigen Fluss und wurde daher als die „Bewegung der Bewegungen“ gefeiert.

Zum ersten Mal seit langen Jahren, in denen sich die Linke in der Defensive befunden hatte, bewegten sich massenhaft Leute nach links. Es ist aber wichtig zu verstehen, dass dies alles nicht heißt, jeder Kampf, der irgendwo auf der Welt stattfand, sei ein Ausdruck jener antikapitalistischen Stimmung.

Der ehemalige polnische Finanzminister Grzegorz Kolodko verglich im Buch Meine Globalisierung die Ereignisse von Seattle mit den Arbeiterprotesten in Polen 1976, die trotz ihrer brutalen Unterdrückung zum Vorboten der großen Solidarnosc-Bewegung wurden. Die Politikwissenschaftlerin und Schriftstellerin Susan George jubelte: „Seit dem Vietnamkrieg hat es nicht solch ein Wiederaufleben aktivistischer Energie gegeben.“

Mit dem Bestseller No Logo! griff Naomi Klein im Jahr 2000 die Praktiken der Konzerne an. Die Zeitschrift The Times kürte sie zur „einflussreichsten Person unter 35 Jahren“.

Kapitalismuskritik

Seattle radikalisierte eine ganze Generation, nicht nur in den USA. Im September 2000 fand ein Gipfeltreffen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank erstmal im ehemaligen Ostblock statt. Unter dem Motto „Mach Prag zu Seattle“ wurden 15.000 Demonstrierende, NGOs und Linke in die Hauptstadt Tschechiens mobilisiert.

Trotz Repression feierten wir den ersten wichtigen Erfolg in Europa. Die mächtigsten Entscheidungsträger zitterten angesichts der Straßenschlachten und beendeten das Treffen einen Tag früher als geplant. Der International Herald Tribune titelte: „Der Globalisierungsdrive des Westens hat sich als massiver Fehlschlag erwiesen.“

Carlo Giuliani wurde von der italienischen Polizei bei den Protesten gegen den G8 Gipfel in Genua erschossen. © gemeinfrei


Massive Polizeibrutalität, die bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua im Juli 2001 in der Ermordung von Carlo Giuliani durch Polizisten gipfelte, konnte das Anwachsen des Widerstands nicht bremsen. Als die Einschüchterung durch Staatsgewalt, Kriminalisierung und Medien ihr Ziel verfehlten, versuchten Politiker prominente Kritiker als Feigenblätter einzubinden. Weiterhin begleiteten Massenproteste jedes Gipfeltreffen der kapitalistischen Institutionen und ihrer Politiker. Die Mächtigen mussten sich schließlich aus den Städten auf einsame Inseln und Berge, in Wüsten und verlässliche Diktaturen zurückziehen.

Antikriegsbewegung

Die Terroranschläge am 11. September 2001 in den USA stellten die junge Bewegung vor eine große Herausforderung, die sie hervorragend meisterte. Die USA griffen Afghanistan im Oktober 2001 und Irak am 15. Februar 2003 an. Die Netzwerke und Organisationen der globalen antikapitalistischen Bewegung stellten ihre Aktivitäten um und initiierten die größten Antikriegsproteste der Geschichte.

Bis zu 30 Millionen, so die Schätzungen, gingen im Februar 2003 gegen die US-Invasionen auf die Straße, 3 Millionen in Rom, 1,5 Millionen in Madrid, 2 Millionen in London und immerhin 30.000 in Wien. Mit Slogans wie „Kein Blut für Öl“ und „ExxonMobil, BP, Shell – take your war and go to hell!“ zeigte die Antikriegsbewegung ihren antikapitalistischen Charakter. Das waren nicht bloß Märsche für Frieden, es waren antiimperialistische Proteste gegen Kriege, die aus kapitalistischer Machtlogik geführt wurden.

Antikapitalistische Gipfeltreffen

Unzählige dürsteten nach einer echten Diskussion darüber, wie die Bewegung sich weiter entwickeln sollte, um Krieg und Neoliberalismus zu stoppen. Immer mehr beteiligten sich an den international organisierten Debatten. Beim Weltsozialforum (WSF) von Porto Alegre in Brasilien gab es heftige Strategie-Debatten zwischen verschiedenen Flügeln. Die einen wollten einen „Dialog“ mit dem IWF und der Weltbank und andere wollten die Krise der Legitimation dieser Institutionen verstärken.

Die Bewegung beschloss, sich in zusätzlichen regionalen Sozialforen zusammenzufinden um noch mehr Menschen einzubinden. Zum ersten europäischen Sozialforum in Florenz im Jahr 2002 „Für ein anderes Europa – in einer anderen Welt“ reisten wir aus Österreich mit einem Zug an, der von den gegen die Privatisierung streikenden Eisenbahn-gewerkschafter_innen organisiert wurde. Zum ESF-Abschluss protestierten etwa eine Million Menschen gegen den bevorstehenden Irak-Krieg.

Revolutionäres Lateinamerika

Gleichzeitig mit dieser dynamischen Bewegung spitzten sich die Widersprüche zwischen den Kapitalisten zu. Die Ostasienkrise entwickelte sich zur globalen Finanzkrise. Der Aufstand in Argentinien Ende 2001 zeigte, wie eine Wirtschaftskrise plötzlich eine potentiell revolutionäre Lage schaffen kann. In Argentinien jagten die Menschen innerhalb von zwei Wochen vier Präsidenten aus dem Amt.

In Ecuador stürzten ebenfalls Massenaufstände drei Präsidenten. Ein Volksaufstand in Bolivien führte im Jahr 2006 zur Wahl von Evo Morales, dem Anführer der Partei Movimiento al Socialismo und der Bewegung für die Rechte der Coca-Bauern.

In Venezuela, dem abtrünnigen „Hinterhof der USA“, verkündete Hugo Chávez die „bolivarische Revolution“ in Lateinamerika. Die Begeisterung über die Möglichkeit zur Rückkehr der Revolutionen griff international um sich. Am 12. Mai 2006 versammelten sich tausende Menschen in und vor der Wiener Arena um von Hugo Chávez selbst über den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ zu hören.

Bewegung in Österreich

In Österreich konnte die antikapitalistische Bewegung leicht Fuß fassen, weil im Frühjahr 2000 Massenproteste gegen die erste schwarz-blaue Koalitionsregierung das Land aufgerüttelt hatten. 300.000 gingen am 19. Februar gegen die ÖVP-FPÖ Koalition auf die Straße. Danach gab es wöchentliche Donnerstagsdemos.

Die erste antikapitalistische Mobilisierung ging dann im September 2000 zum Gipfel von Weltbank und Weltwährungsfonds nach Prag. Ab Prag wurden die Proteste gegen das für Salzburg geplante Gipfeltreffen des internationalen Weltwirtschaftsforums (WEF) im Juli 2001 vorbereitet. Nicht nur, dass das WEF das neoliberale Programm der ersten ÖVP-FPÖ-Regierung Regierung lobte. In Salzburg stand die Aufteilung der Reichtümer Osteuropas auf der Tagesordnung.

Die Regierung dachte damals noch, sie könnte den Spuk mittels massiver Repression loswerden. Über die ganze Stadt wurde ein Demonstrationsverbot verhängt. Die Demonstrantinnen wurden monatelang als gewaltbereite Chaoten verteufelt. Aber all das konnte die Bewegung nicht aufhalten.

Rund 5.000 Aktivist_innen folgten trotzdem dem Demoaufruf. Sie durchbrachen die Polizeisperren und zogen mit einer lautstarken Demonstration durch die Mozartstadt. Am Ende kesselte die Polizei etwa 900 Menschen über 6 Stunden lang ein, prügelte auf sie und verhaftete wahllos junge Leute.

Die Eingekesselten blieben entschlossen, ließen sich nicht zermürben. Der antikapitalistische Protest wurde das stärkste Lebenszeichen des politischen Widerstandes seit den 70er-Jahren oder der Hainburg-Besetzung. Im Folgejahr gelang der Linken auf dieser Basis ein riesiges Aktionsbündnis und das WEF zog beleidigt und frustriert aus Salzburg ab.

Klimagerechtigkeit

An der inhaltlichen Ausrichtung und an der Dynamik der Klimagerechtigkeitsbewegung erkennt man ganz deutlich den antikapitalistischen Einfluss der vorangegangenen Radikalisierung. Wieder heißt es „Menschen vor Profite“ oder „Kapitalismus tötet“, wieder verweigern sich die Aktivist_innen, angeführt von Greta Thunberg, der Vereinnahmung durch die Mächtigen.

Egal, ob organisiert oder nicht, jede_r sollte 20 Jahre nach dem Kampf in Seattle aufstehen und die Zukunft nicht jenen überlassen, welche den Planeten zerstören. Die Lösung für die Klimakrise sind wir, die Ausgebeuteten selbst, mit unserer kollektiven Fähigkeit zu rebellieren, zu widerstehen und zur solidarischen Zusammenarbeit!