Wir sind mitten im Kampf unseres Lebens – um unser Leben zu retten
„Die Geschichte hat die Menschheit auf einen Gipfel geführt, auf dem ihre totale Vernichtung endlich zu einer praktischen Möglichkeit geworden ist“, schrieb der radikale Gelehrte Norman O. Brown. „In dieser geschichtlichen Stunde müssen die Freunde des Lebenstriebes warnen, da der Sieg des Todes auf keinen Fall unmöglich ist.“ Brown schrieb 1959 und identifizierte den „Sieg des Todes“ mit einem Atomkrieg. Nun aber wurden wir an das erinnert, was unsere Vorfahren nur allzu gut wussten – dass Tod auch aufgrund von Krankheit siegen kann.
Leben gegen den Tod (Life Against Death, dt. Zukunft im Zeichen des Eros) , so der Titel von Browns Buch, hat mich in den letzten Wochen sehr beschäftigt. Aber der Tod ist keine Abstraktion oder eine mythische Figur, wie in Das siebte Siegel, Ingmar Bergmans großartigem Film über den Schwarzen Tod des 14. Jahrhunderts, der ein Drittel der europäischen Bevölkerung tötete.
Vorerkrankungen
Der Tod, der die Welt verfolgt, ist ein Klassentod. Er hat einige der wichtigsten Finanzzentren des globalen Kapitalismus erfasst – Mailand, London, New York. Aber er holt die Armen und Unterdrückten. Die Zahlen sind erschreckend. In New York sterben Schwarze und Latinos doppelt so häufig an COVID-19 wie Weiße. In Chicago machen Afroamerikaner 72 Prozent der durch die Krankheit Getöteten aus.
Wie ein Besitzer eines Lebensmittelladens in New Orleans gegenüber der Washington Post sagte: „Das Leben in dieser Nachbarschaft ist eine Vorerkrankung: harte Arbeit, lange Arbeitszeiten, schlechte Bezahlung, keine Krankenversicherung, kein Geld, schlechte Ernährung.“ Die Working Poor (also Menschen, die trotz Arbeit von Armut betroffen sind) können nicht von zu Hause aus arbeiten und haben nicht den Platz zur Isolation. Viele ihrer Arbeitsplätze haben sich im Lockdown in Luft aufgelöst, so dass sie und ihre Familien dem Hungertod nahe sind.
Großbritannien hat immer noch eine Art Sozialstaat. Aber die Zeitung Financial Times zitierte am 11. April aus einem Bericht der Food Foundation. „Sechs Prozent der befragten Erwachsenen, das entspricht drei Millionen Menschen, gaben an, dass Lebensmittelmangel jemanden in ihrem Haushalt dazu gezwungen habe, in den letzten drei Wochen ohne Essen auszukommen“, hieß es darin.
Lockerung des Lockdowns
Und es wird noch schlimmer werden. Auf beiden Seiten des Atlantiks wächst der Druck des Großkapitals und rechter Politiker, den Lockdown zu beenden. Und das, obwohl eine Lockerung des Lockdowns in Ermangelung eines Impfstoffs wahrscheinlich zu neuen Infektionswellen und vermeidbaren Todesfällen führen wird.
Fraser Nelson, Herausgeber des rechten Magazins The Spectator, gab einen interessanten Einblick. „Die von COVID-19 verursachten Todesfälle sind schockierend“, schrieb er. „Aber auch die Auswirkungen des Lockdowns. ‚Unsere Botschaft sollte lauten: Arbeitet weiter, aber wenn möglich von zu Hause aus‘, sagte ein Minister. Aber diese Botschaft hört man nicht mehr. Das Finanzministerium erwartete drei Millionen Antragsteller für sein Programm zur ‚Arbeitsplatzerhaltung‘. Jetzt werden neun Millionen erwartet. Der Plan sah vor, dass rund jeder fünfte Schüler in einer Klasse bleiben sollte – nicht nur die Kinder von Schlüsselarbeitskräften, sondern auch diejenigen, die als gefährdet oder mit besonderen Bedürfnissen gelten. Stattdessen, so scheint es, erschienen nur zwei Prozent der Schüler.“
Das Problem besteht also nicht darin, dass die Menschen die soziale Distanz nicht einhalten und in den Parks feiern. Im Gegenteil, wir sind gehen mit unserem Leben und dem unserer Familien zu vorsichtig um. Nelson wiederholt auch das widerliche Argument, es gebe „Kompromisse“ zwischen der Rettung von Leben durch den Lockdown und dem wirtschaftlichen Schaden, der dadurch verursacht werde.
Leben gegen Profit
Nelson zitiert stark umstrittene Berechnungen, wonach die sich entwickelnde Rezession 150.000 zusätzliche Todesopfer verursachen wird. Selbst das Sprachrohr der freien Marktwirtschaft, The Economist, hält sich damit nicht länger auf. „Detaillierte Untersuchungen über die gesundheitlichen Auswirkungen von wirtschaftlichen Abschwüngen lassen vermuten, dass sie nicht annähernd so negativ sind, wie man denken könnte, besonders wenn es um den Tod geht“, heißt es darin. „Die wirtschaftlichen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass die Sterblichkeit in Zeiten des Wirtschaftswachstums ansteigt und in Abschwungphasen abnimmt.“
Leben gegen Tod – Leben gegen Profit. Noch nie in unserem Leben haben wir so deutlich erlebt, dass der Kapitalismus ein todbringendes System ist. Das ist seit jeher wahr, von der Abhängigkeit des Frühkapitalismus vom Sklavenhandel und von Kinderarbeit. Jetzt hat dieses System die Bedingungen für Pandemien wie COVID-19 geschaffen, indem es in die noch verbliebenen unberührten Teile der Welt eindrang, und es lässt die arbeitenden Menschen dafür bezahlen, viele mit ihrem Leben.
Dies ist der Kampf unseres Lebens – der Kampf um unser Leben.
Der Artikel ist zuerst in der britischen Zeitschrift Socialist Worker erschienen. Übersetzung aus dem Englischen von David Albrich.