Gesundheit als Vorwand für autoritäre Maßnahmen
Seit dem 1. Mai wurden in Österreich die seit dem 16. März bestehenden coronabedingten Ausgangsbeschränkungen gelockert, so dürfen etwa öffentliche Veranstaltungen mit maximal zehn Teilnehmer_innen wieder abgehalten werden. Schrittweise sollen weitere Maßnahmen, wie Restaurantschließungen, zurückgenommen werden. Ein Grund zur Freude – allerdings stellte Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) gleich klar: „Wir können jederzeit Stopp sagen.“ Dieser Satz bringt die Regierungsstrategie auf den Punkt: sie machen die Verordnungen, wir müssen uns daran halten, wenn wir nicht bestraft werden, oder auch – wie ÖVP- Innenminister Karl Nehammer es bezeichnet – „Lebensgefährder“ sein wollen. Und Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) kündigte gleich am Anfang an, dass etwa Sportvereine, die sich nicht an die Beschränkungen halten, „sich einmal jahrelang von Förderungen verabschieden“ können.
Die Braven werden belohnt, die Unfolgsamen bestraft. Diese Zuckerbrot und Peitsche-Strategie, gepaart mit gezielten Falschmeldungen und unklaren Vorgaben an die Exekutive, entspricht nicht dem Vorgehen, wie man es von einem demokratischen Rechtsstaat erwarten würde. Auch nicht während einer Krise.
Eingriff in Privatrechte
Dass die Regierung sich in der Ischgl-Affäre – die fahrlässige Aufrechterhaltung des Ski-Tourismus hat maßgeblich zur Verbreitung des Corona-Virus in Europa beigetragen (hier gehts zum Bericht von Linkswende jetzt) – aus der Verantwortung ziehen wollte, ist bekannt. Ebenso bekannt ist die Tatsache, dass die Regierung falsche beziehungsweise irreführende Informationen zu den Ausgangsbeschränkungen herausgab.
Auf der Website des Gesundheitsministeriums findet sich in der Rubrik „Häufig gestellte Fragen“ folgender Eintrag: „Wann enden die Ausgangsbeschränkungen? Wann sind Besuche bei Familienmitgliedern oder Freunden wieder erlaubt?“ Als Antwort war zu lesen: „Die Ausgangsbeschränkungen wurden bis Ende April verlängert. Am Ende des Monats erfolgt eine Evaluierung.“ Das legt nahe, dass Besuche grundsätzlich nicht erlaubt seien. Tatsächlich gibt es aber keine gesetzliche Grundlage, die den Zugriff auf private Wohnungen erlauben würde. Laut dem Menschenrechtsexperten Manfred Nowak wäre „mit einer unverhältnismäßigen Regelung des Grundrechts auf Privat- und Familienleben eine rote Linie überschritten“. Erst nach Kritik ergänzte das Ministerium seine Antwort: „Die genannten Verkehrsbeschränkungen beziehen sich auf das Betreten öffentlicher Orte zum Zwecke der fünf in der Verordnung dargelegten Ausnahmen. Der private Bereich ist davon nicht umfasst. Es wird allerdings wie bisher empfohlen, soziale Kontakte zu reduzieren und damit ein neuerliches Ansteigen der Infektionszahlen zu verhindern.“ Die Frage ist jedoch unverändert stehengeblieben.
Falschinformationen an Flüchtlinge
Noch schwerwiegender sind die Falschmeldungen, die vonseiten des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) und des Innenministeriums an Migrant_innen geleitet wurden. Recherchen des Journalisten Michael Bonvalot zufolge schickte der ÖIF eine Nachricht über SMS, Email usw. aus, in der es hieß: „Sie dürfen das Haus nur verlassen, um arbeiten zu gehen oder für dringende Einkäufe oder Arztbesuche. Bei Verstößen drohen hohe Strafen!“ Auf der Homepage des Integrationsfonds stand außerdem, dass öffentliche Plätze gänzlich geschlossen wären. Wieder wurden die falschen Behauptungen erst nach Medienkritik geändert. Ähnlich verhielt sich das Innenministerium. Als Gründe, das Haus zu verlassen, hieß es: eine unmittelbare Gefahr für Leben, Körper oder Eigentum, notwendige Einkäufe, Arztbesuche oder Begräbnisse. Am Ende heißt es „etc.“ – unterschlagen wird also, dass auch Spaziergänge erlaubt sind. Diese eindeutig falschen Informationen des Innenministeriums mussten Geflüchtete sogar als „erhalten und verstanden“ unterschreiben. Im Schreiben werden auch Strafen bei Nichteinhaltung angedroht, z.B. die Streichung der Grundversorgung. Eine Flüchtlingshelferin berichtete, einem afghanischen Mann sei gedroht worden: „Wenn wir nach draußen gehen und die Polizei sieht uns, bekommen wir eine Strafe“.
© Seebrücke Wien (Facebook)
Noch unglaubwürdiger wird die Aussage des Innenministeriums, wenn man sich die tatsächliche Lage in den Flüchtlingsunterkünften ansieht. 611 Asylwerber durften das Areal des Erstaufnahmezentrums Traiskirchen seit dem 24. März nicht verlassen – nicht einmal, um in den Supermarkt zu gehen. Sie wurden sogar von der Polizei aktiv am Verlassen des Geländes gehindert. Dagegen gehen jetzt zwei der Bewohner gerichtlich vor. Ihr Anwalt, Clemens Lahner, kritisiert, dass „eine Gruppe von Personen pauschal und ohne gesetzliche Grundlage eingesperrt“ wird. Das Betretungsverbot, mit dem die Behörden den Freiheitsentzug rechtfertigten, gilt hier auch gar nicht. Es erlaubt nur, Personen auszusperren (z.B. von Spielplätzen), aber nicht, sie einzusperren. Das ist ein Verstoß gegen das Grundrecht – und die gelten für alle Menschen, nicht nur für Österreicher_innen. Die Unterbringung in Massenlagern ist gerade im Hinblick auf Corona einfach unverantwortlich, wie v.a. die griechischen Lager aber auch österreichische Beispiele zeigen. Kürzlich musste in Wien-Erdberg eine Flüchtlingsunterkunft geräumt werden, da sich das Virus dort leicht ausbreiten konnte.
Alles ein Missverständnis?
Die Kritik richtet sich vor allem an Kanzler Kurz. Der appellierte Anfang April an Jurist_innen, „nachsichtig“ zu sein; sie sollen nicht überinterpretieren – im Zweifelsfall würden die Höchstgerichte hinzugezogen. Nur: ein Individualantrag beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) würde zu nichts mehr führen, da die Verordnung während der kommenden Sitzung, die im Juni stattfindet, gar nicht mehr in Kraft ist. Lahner dazu: „Der Kanzler mag das als ‚juristische Spitzfindigkeiten‘ abtun, ich nenne es Grundrechtsschutz. Und die Grundrechte gehen uns alle etwas an“.
Dass sich Kurz ständig auf die Situation der Krise rausredet und darauf hinweist, dass es sich nur um temporäre Verordnungen handle, dürfen wir nicht einfach hinnehmen. Die Juristin Brigitte Hornyik betonte in einem ORF-Beitrag, dass Grundrechte generell auch im Ausnahmezustand gelten. Aber auch abgesehen von der juristischen Legitimität ist die Vorgehensweise der Regierung sehr fragwürdig und weder transparent noch verhältnismäßig. Die unklaren Angaben über Verbote sind nicht nur ein Fehler oder Missverständnis. Die Regierung hat vielmehr ein konkretes Interesse an dieser durch Unsicherheit erzwungenen Regierungshörigkeit in der Bevölkerung, wie nicht zuletzt kürzlich geleakte Sitzungsprotokolle zeigen. Dort heißt es etwa: „Kurz verdeutlicht, dass die Menschen vor einer Ansteckung Angst haben sollen bzw. Angst davor, dass Eltern/Großeltern sterben.“ Die Furcht vor Ansteckung brachte in Österreich ein neues Denunziantentum hervor: Corona-Partys und spazierende „Lebensgefährder“ wurden zu den aktuellen „Most Wanted“. Gezielt Angst verbreiten zu wollen, um die Rechte der Bevölkerung einzuschränken – das klingt nicht nach Missverständnis.
Polizei bedroht Jogger mit Waffe auf Donauinsel (Screenshot: Youtube)
Und auch nicht, dass die Bevölkerung in verschiedene Gruppen eingeteilt wird, für die jeweils andere Gesetze gelten sollen. Im Falle der Flüchtlinge ist eindeutig Rassismus im Spiel, und als solchen sollten wir den Umgang der Regierung mit nichtösterreichischen Menschen auch anprangern. Mit Corona wird nun eine weitere Gruppe abgesondert: die älteren Menschen. Ein im Falter veröffentlichter Leserinnenbrief schildert die Situation in einem Wiener Heim für Pensionist_innen. Die Bewohner_innen dürfen seit Wochen nicht einmal das Haus verlassen, keine Spaziergänge machen, nicht die Zeitung vom drei Meter entfernten Zeitungsständer holen. Niemand bestreitet, dass gewisse Personen einen angemessenen Schutz verdienen. Aber diese Menschen werden entmündigt und eingesperrt. Ähnlich verhält es sich in Heimen für Menschen mit Behinderung. Dort wurden teilweise die Türgriffe abmontiert. „Alles zum eigenen Schutz. Alles ohne gesetzliche Grundlage“, wie Florian Klenk im Falter zynisch feststellt.
Versammlungsfreiheit ausgesetzt
Zu den Grundrechten gehört auch die Versammlungsfreiheit – in den letzten Wochen wurde die aber zu einem Versammlungsverbot. Während weiterhin Menschen auf engstem Raum zusammenarbeiten sollen, waren politische Proteste untersagt. Das führte vor allem zu einem: die Polizei hat Narrenfreiheit. So wurden beispielsweise in Berlin im Rahmen eines Aktionstages der Seebrücke Schuhe vor dem Brandenburger Tor niedergelegt; zum einen als Symbol für die Menschen, die in den griechischen Lagern eingesperrt sind, zum anderen für die Menschen, denen ein gemeinsamer Protest verboten ist. Die Polizei drangsalierte dabei nicht nur Journalist_innen, sondern nahm auch von zahlreichen Menschen, die Schuhe niederlegten und weitergehen wollten, die Personalien auf – sie hätten gegen das Versammlungsverbot verstoßen. Weitere Vorfälle sind z.B. auf der Homepage der neu gegründeten Initiative Coview nachzulesen bzw. zu melden. Genehmigt wurde hingegen eine Kundgebung der rechtsextremen Pegida in Dresden.
Es geht hier eindeutig darum, unter dem Deckmantel des Gesundheitsschutzes politische Botschaften im öffentlichen Raum zu verhindern. Und die Regierungen testen nicht erst jetzt, wie weit sie dabei gehen können. Erst 2017 wollte der damalige ÖVP-Innenminister Sobotka das Versammlungsrecht drastisch einschränken, z.B. sollten Veranstalter_innen von Demonstrationen für entstandene Schäden haftbar gemacht werden. Ihm „verdanken“ wir auch die 48-Stunden-Anmeldefrist und die „Schutzzonen“.
„Gesundheit“ das neue „Sicherheit“?
Hier soll keineswegs bestritten werden, dass es Maßnahmen gegen das Coronavirus braucht. Das darf jedoch kein Grund sein, Grundrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit derart einzuschränken, oder Themen wie die Situation in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln beiseite zu schieben bzw. Proteste dagegen zu kriminalisieren. Die Regierungen tun so, als würden sie uns großzügig unsere Rechte gewähren. Dabei sind sie lediglich dazu da, uns die Ausübung dieser Rechte zu gewährleisten. Und dass Ausreden, wie „die Einschränkungen seien nur befristet“, eben nur Ausreden sind, zeigt ein Blick etwa nach Frankreich.
Dort wurde nach islamistischen Anschlägen im November 2015 der Ausnahmezustand verhängt – und nie mehr ganz zurückgenommen. Ebenso in den USA: Nach den Anschlägen am 11. September 2001 trat der sogenannte USA PATRIOT Act in Kraft; das Ausnahmeregelungspaket erlaubt z.B. Hausdurchsuchungen, ohne die betroffenen Personen zu benachrichtigen. Auch das wurde nie zurückgenommen. Der „Krieg gegen den Terror“ erhob „Sicherheit“ zur besten Entschuldigung für Staaten, rassistische und autoritäre Verordnungen zu Gesetzen zu machen. Mit Corona droht sich nun „Gesundheit“ zur „Sicherheit“ zu gesellen.
Dahinter steckt das gleiche Spiel mit der Angst der Bevölkerung. Nicht die einzelnen Menschen liegen dem Staat am Herzen, sondern ihre Fähigkeit zu arbeiten und zu konsumieren. Ebenso wie die Angst vor Terror lässt sich die Angst vor Gesundheitskrisen nicht zeitlich eingrenzen. Es liegt daher an der Bevölkerung, den Ausnahmezustand nicht zur neuen Normalität werden zu lassen.