Anarchismus und Marxismus. Zwei Seiten derselben Medaille?
Auffallend viele Diskussionen zwischen Anarchisten und Marxisten laufen so ab: man wirft sich gegenseitig die schlechtesten Varianten der anderen Politik vor. Anarchisten kritisieren Marxisten für die Verbrechen Stalins, Marxisten kritisieren Anarchisten für die (teilweise antisemitisch motivierten) Gewaltexzesse der ukrainischen Machno-Bewegung. Einen deutlich intelligenteren Umgang mit dieser Diskussion schlug der französische Anarchist Daniel Guérin in seiner Geschichte des Anarchismus vor. Er argumentiert, dass trotz des sektiererischen Geschreis „Anarchismus eigentlich ein Synonym für Sozialismus ist.“ Ähnlich sieht es auch Noam Chomsky in seinem Werk Anarchism, Marxism and Hope for the Future: „Anarchismus vereint eine sozialistische Kritik des Kapitalismus mit einer liberalen Kritik des Sozialismus“.
Gemeinsamkeiten im Kampf
Ein revolutionärer Anarchismus, der auf die Zerschlagung des Staates durch die Arbeiter_innenklasse genauso wie auf eine Enteignung der herrschenden Klasse setzt, steht einem revolutionären Marxismus hundertmal näher als ein sozialdemokratischer Reformismus oder der Stalinismus. Wenn von revolutionärem Marxismus gesprochen wird, sollten wir das im Sinne des amerikanischen Marxisten Hal Drapers als „Sozialismus von unten“ verstehen. Gemeint ist ein Marxismus, der nicht darauf abzielt, durch Wahlen oder einen Putsch an die Macht zu kommen, sondern durch die Selbstaktivität der Arbeiter_innenklasse.
Anarchismus und Marxismus haben ihre Wurzeln in der Arbeiter_innenbewegung des 19. Jahrhunderts und ihrem Kampf für den Achtstundentag. Der Ursprung des 1. Mais als Kampftag der internationalen Arbeiter_innenbewegung geht auf den von Anarchisten mitorganisierten Generalstreik vom 1. Mai 1866 in den USA zurück. Nach mehrtägigen Demonstrationen warf am 3. Mai in Chicago eine unbekannte Person, vermutlich ein Polizeispitzel, eine Bombe auf die Polizeiketten. Sieben Anarchisten, u.a. Albert Parson, wurden in einem Schauprozess zum Tode verurteilt. Aus Solidarität mit den verurteilten Anarchisten wurde am Gründungskongress der marxistisch orientierten Zweiten Internationalen 1889 der 1. Mai zum Kampftag der Arbeiter_innenklasse bestimmt.
Direkte Aktion oder Propaganda der Tat
Der Anarchismus experimentierte mit unterschiedlichsten Strategien. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts unter dem Slogan „Propaganda der Tat“ mit dem Terrorismus. Anarchisten waren so fleißig in der Ermordung von Prinzen, Prinzessinnen, Königen, Polizeichefs und Kapitalisten, dass 1898 in Rom eine Konferenz zur „sozialen Verteidigung gegen die Anarchisten“ einberufen wurde. Auf dieser Konferenz trafen sich 54 Delegierte aus 21 Staaten und organisierten die erste weltweite polizeiliche Kooperation. Diese Kooperation war der Ursprung von Interpol.
Nicht nur Marxist_innen kritisierten die Strategie des Terrors. Auch Anarchist_innen lieferten eine ähnliche Kritik. Der italienische Anarchist Errico Malatesta wendete sich in seinem Text Gewalt als sozialer Faktor gegen die Strategie des Terrorismus. Nicht, weil er sie moralisch verurteilte, sondern weil er sah, dass sie dazu führte, dass der Anarchismus der Mehrheit der Arbeiter_innenklasse als gefährlich und irrational erschien.
Jahre später war Malatesta am Aufbau der Arditi del Popolo beteiligt, dem ersten antifaschistischen Bündnis aus Sozialist_innen, Kommunist_innen und Anarchist_innen, welches gegen Mussolinis Schwarzhemden kämpfte.
Heutzutage wird der Begriff „Direkte Aktion“ mit Anarchismus in Verbindung gebracht. Dieser bedeutet nicht einfach Angriff auf die Unterdrückungsorgane des Staates, sondern: eingreifen in ökonomische und politische Prozesse, ohne auf Legalität oder legitimierte Interessensvertreter (Gewerkschaften) Rücksicht zu nehmen. Demnach kann ein Angriff auf eine Polizeistation, eine Sabotage von Maschinen genauso wie ein Streik, der ohne gewerkschaftliche Führung durchgeführt wird, als direkte Aktion bezeichnet werden. Revolutionäre Marxist_innen würden keine dieser Taktiken verurteilen. Der Unterschied ist, dass revolutionärer Marxismus auf eine Diversität von Taktiken setzt. Legale Mittel des Klassenkampfes, Beteiligung an Wahlen, Demonstrationen oder gewerkschaftliche Streiks prinzipiell abzulehnen, führt zu einer ultra-sektiererischen Haltung.
Klassenbewusstsein und Reformismus
In nicht-revolutionären Zeiten tendiert der Großteil der Arbeiter_innenklasse zu reformistischen Massenorganisationen: Sozialdemokratie und Gewerkschaften. Marx schreibt dazu: „die herrschenden Ideen sind immer die Ideen der herrschenden Klasse“. Diese herrschenden Ideen vermitteln uns, dass wir die Gesellschaft und ihre Ungerechtigkeiten – Armut, Flucht, Rassismus, Sexismus, Klimawandel usw. – als natürlich und unveränderlich wahrnehmen. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist es naheliegend, an einer Reformierung der herrschenden Verhältnisse zu arbeiten.
Der ultra-radikale anarchistische Zugang tendiert dazu, diese Menschen zu ignorieren oder, im schlimmsten Fall, zu verachten. Wir können das bspw. daran beobachten, dass Anarchist_innen Gewerkschaften oder Sozialdemokratie oft zum Hauptfeind ernennen. Dagegen zielt revolutionärer Marxismus darauf ab, die Mehrheit der Arbeiter_innenklasse zu erreichen. Menschen, die noch nicht von der Notwendigkeit einer Revolution überzeugt sind, werden sich schneller an einer legalen Demonstration, legalen Wahl oder einem gewerkschaftlich organisierten Streik beteiligen, als an direkter Aktion.
Revolutionäre Partei oder Dezentralismus
Eine revolutionäre Partei ist für die meisten Anarchist_innen nur ein zukünftiges Unterdrückungsorgan. Doch hier ist wichtig festzuhalten, dass weder Marx noch Lenin in der Partei einfach einen Erzieher der passiven Massen sehen. Viel eher muss zwischen revolutionärer Partei und Arbeiter_innenklasse ein wechselseitiges Verhältnis des gegenseitigen Lernens bestehen. Ähnlich wie Marx von den Arbeiter_innen der Pariser Kommune lernte, lernte auch Lenin die Ideen der Arbeiter_innenräte von den russischen Arbeiter_innen. Die Aufgabe der Partei war es, diese ersten Erfahrungen mit Rätestrukturen zu zentralisieren und zu verallgemeinern. Für solch eine Wechselwirkung zwischen Partei und Klasse ist es notwendig, die Partei demokratisch zu organisieren und freie Diskussionen zu garantieren. Eine solche Partei zeichnet sich dadurch aus, dass sie demokratischer ist als die kleinen dezentralen Zirkel der Anarchisten. In diesen entstehen undemokratische Führungsstrukturen und sei es nur, dass die erfahrensten Straßenkämpfer_innen bestimmen, wann und ob die Konfrontation mit der Polizei gesucht wird.
Pariser Kommune
Anarchist_innen und Marxist_innen beziehen sich beide positiv auf die Pariser Kommune. Nachdem die französische Regierung Paris der deutschen Armee überlassen wollte, verbündeten sich am 18. März 1871 revolutionäre Soldaten mit der Bevölkerung von Paris, setzten die Regierung ab und verkündeten die Pariser Kommune. Angeführt wurde der Aufstand von der Anarchistin Louise Michel.
Am 26. März organisierten die Revolutionär_innen eine Wahl für das unabhängig gewordene Paris. In den 72 Tagen der Pariser Kommune wurden bahnbrechende Reformen durchgeführt: die Trennung von Staat und Kirche, Abschaffung des stehenden Heeres und Einführung der Volksbewaffnung, Abschaffung von Mietschulden, Rückgabe von gepfändeten Gegenständen. Kindern von im Dienste der Revolution gefallenen Soldaten wurde eine lebenslange Pension ermöglicht, unabhängig davon, ob es sich um eheliche oder uneheliche Kinder handelte. Die Obergrenze für Regierungsgehälter lag bei 6.000 Francs, soviel wie ein „fleißiger Arbeiter in einem guten Beruf“ verdiente. Dieser erste Arbeiter_innenstaat wurde von konterrevolutionären Truppen blutig niedergemetzelt. Mindestens 30.000 Revolutionär_innen wurden in den „blutigen Maiwochen“ ermordet.
Marx und die Pariser Kommune
Marx feierte und diskutierte die Pariser Kommune in seiner Schrift Der Bürgerkrieg in Frankreich. Aus ihr zog er die Konsequenz: „Die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen“, sondern sie muss sie zerschlagen. Diese Schrift zeigt, dass die oft gezogene Differenz zwischen Anarchismus und Marxismus – ersterer als prinzipieller Feind des Staates, zweiterer als Versuch den Staat in seine Dienste zu stellen – Unsinn ist.
Bakunin und die Pariser Kommune
Auch der Anarchist Bakunin erklärte in seinem lesenswerten Text Die Pariser Kommune und die Idee des Staates: „Ich bin ein Anhänger der Pariser Kommune, hauptsächlich deshalb, weil sie eine mutige, entschiedene Verneinung des Staates war“. Hier steht der selbsterklärte Feind „jeder Regierung und jeder Staatsmacht“ vor einem Widerspruch. Er beantworte die Frage nicht, auf welche Art und Weise sich Arbeiter_innen in der Pariser Kommune organisieren sollten. Offensichtlich gab es in der Pariser Kommune Autoritäten: die Bewaffnung des Volkes ist gar nicht anders durchzuführen. Insofern, wenn wir den Staat, anknüpfend an Lenin, als „Formation bewaffneter Menschen“ verstehen, dann handelte es sich bei der Pariser Kommune eindeutig um einen demokratisch organisierten Arbeiter_innenstaat. Dieser Staat unterscheidet sich vom bürgerlichen dadurch, dass all seine Organe auf der Wahl und Abwahl der Delegierten beruhen.
Bündnis zwischen Anarchismus und Marxismus
Die anarchosyndikalistische Gewerkschaft CNT (Confederación Nacional del Trabajo) war mit rund zwei Millionen Mitgliedern die erfolgreichste anarchistische Organisation der Geschichte. Die CNT war mächtig genug, um eine echte Solidarität mit der russischen Oktoberrevolution von 1917 aufzubauen. Anarchistische Arbeiter_innen beschlagnahmten Waffenlieferungen an antikommunistische Kräfte in Russland. Kurzzeitig schien es sogar so, als könnte angetrieben durch die Hoffnung auf die Weltrevolution ein Bündnis zwischen revolutionärem Marxismus und revolutionärem Anarchismus bestehen. 1919 trat die CNT der Kommunistischen Internationalen (Komintern) bei. 1921 zerbrach dieses Bündnis, die CNT verließ die Komintern.
Spanischer Bürgerkriegs-Anarchismus
Millionen Arbeiter_innen gingen gegen den faschistischen Putsch von Franco in Spanien 1936 auf die Straße. Die CNT sah sich an der Spitze einer revolutionären Bewegung, welche gleichzeitig auch noch einen Bürgerkrieg gewinnen musste. In dieser schwierigen Situation beging sie aus anarchistischer Perspektive Hochverrat. Sie beteiligte sich an der Einheitsregierung aus Sozialdemokraten, Kommunisten und Liberalen. Wiederum wurde der Anarchismus von den objektiven Umständen zur Aufgabe seiner Fundamentalkritik des Staates gezwungen.
Hier rächte sich das dezentrale Konzept des Anarchismus. Sie hatten es zu Beginn der Revolution verabsäumt, die entstehenden Arbeiter_innenräte zu einer zentralisierten Macht aufzubauen. Viel eher hatten sie sich darauf konzentriert ihre eigene kleine Revolution zu machen. Anstatt alle Kräfte auf den Krieg gegen Francos Truppen zu konzentrieren, beispielsweise die Umstellung der Industrieproduktion auf Rüstungswirtschaft voranzutreiben, konnte jeder anarchistisch dominierte Betrieb tun und lassen, was seine Belegschaft wollte. Ihre Kämpferinnen und Kämpfer waren ausgesprochen tapfer, aber oft allein gelassen.
Den Todesstoß versetzten ihnen sozialdemokratische und liberale Regierungen der ganzen Welt, die sich weigerten dem republikanischen Spanien Waffen für den Krieg gegen Franco zu liefern. Beides führte dazu, dass die Anarchist_innen mit Gewehren aus dem ersten Weltkrieg gegen die von Deutschland und Italien mit Panzern ausgerüsteten Faschisten kämpfen mussten. Das trieb die spanische Republik in die Arme von Stalins Russland, dem einzigen Staat, der moderne Waffen lieferte.
Stalin nutzte seinen Einfluss aus, um die Kommunistische Partei Spaniens in den einzigen Machtblock der Linken zu verwandeln. Anarchist_innen und antistalinistisch eingestellte Kommunist_innen wurden von Stalins Agenten eingesperrt oder ermordet. Auch wenn sich die CNT in einer schwierigen Lage befand, die Niederlage ihrer Revolution war keine ausgemachte Sache. Zum Vergleich dazu: Auch die russische Oktoberrevolution musste sich gegen konterrevolutionäre Verbände, die von ausländischen Mächten unterstützt wurden, wehren. Doch den Bolschewiki gelang es den Bürgerkrieg zu gewinnen.
Russische Revolution revolutionärer Marxismus
Den Bolschewiki gelang es die Revolution zum Sieg zu führen, weil sie konsequent an ihrem Prinzip der „Selbstbefreiung der Arbeiterklasse“ festhielten. Sie bestanden immer darauf, dass die neu gebildeten Vertretungen der Arbeiter_innen, die Sowjets, die Macht ausüben sollten, auch als die Bolschewiki innerhalb der Räte nur eine kleine Minderheit waren. Ihre Gegner, die Liberalen und Sozialdemokraten dagegen verstanden die Sowjets als Störenfriede, die es zugunsten einer bürgerlichen parlamentarischen Regierung zu entmachten galt. In dieser zentralen Streitfrage stellten sich die Anarchisten auf die Seite Lenins und der Bolschewiki. Auch in der Frage der Enteignung der Großgrundbesitzer zogen beide an einem Strang. Entzweit haben sie sich über die Frage der Zentralisierung der Sowjetregierung. Weil das revolutionäre Russland sofort von konterrevolutionären Armeen angegriffen wurde, konnte es nur durch eine stehende Armee mit einer zentralisierten Führung verteidigt werden – für die staatsfeindlichen Anarchisten war das die Ursünde. Aber das revolutionäre Russland siegte so über seine Feinde.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Der Anarchismus ist eine Bewegung, die wie der Marxismus eine vollständige Befreiung der Unterdrückten und Ausgebeuteten zum Ziel hat. Aber sein Ultra-Radikalismus, seine dogmatische Ablehnung eines (Arbeiter)-Staates und einer zentralisierten Kampforganisation lässt ihn an den kritischen Punkten einer Revolution scheitern. Eine Revolution zu Ende führen kann nur der revolutionäre Marxismus.