Lesetipp: Alia Trabucco Zéran – Die Differenz

Der Debütroman der chilenischen Autorin Alia Trabucco Zéran nimmt uns mit auf einen Roadtrip nicht nur über die Anden, sondern auch in die Zeit der chilenischen Pinochet-Diktatur.
2. April 2022 |

Der Roadtrip als Metapher für die Überschreitung menschlicher, oft jugendlicher Entwicklungsstufen ist in der Literatur an sich nichts Ungewöhnliches. Ein Roadtrip im Leichenwagen über die Anden hingegen schon. Auf diese Reise – von Santiago de Chile nach Mendoza in Argentinien – schickt die chilenische Autorin Alia Trabucco Zéran ihre drei Protagonist_innen Iquela, Felipe und Paloma (alle drei Kinder von Widerständigen gegen die Diktatur Pinochets) in ihrem Debütroman Die Differenz.

Pinochet putschte (mit Unterstützung der USA) 1973 gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende und regierte Chile bis 1990 als Diktator. Sein Regime ließ zehntausende Menschen foltern und ermorden.

Liste der Toten

Zunächst ein wichtiger Punkt: der Leichenwagen ist leer. Ziel des Roadtrips ist es, den Sarg von Palomas Mutter Ingrid – eine Kampfgenossin der Eltern Iquelas und Felipes, die seit Pinochets Machtergreifung in Berlin lebte – aus Argentinien abzuholen, wo er auf dem Flug von Deutschland nach Chile gestrandet ist.

Der Roman ist aus zwei Perspektiven erzählt. Einmal von Felipe, dessen Gedanken im Stil des Bewusstseinsstroms fließen und so seine Erinnerungen ebenso wie sein aktuelles Erleben direkt an die Leser_innen herangetragen werden. Trotz schier endlos scheinender Sätze, die sich auch mal über zwei Seiten ziehen können, büßen diese Passagen nichts an Klarheit ein. Zéran beherrscht dieses Stilmittel perfekt.

Das spanische Original erschien 2014 mit dem Titel La Resta (die Subtraktion im mathematischen Sinne). Das Subtrahieren und Addieren der Toten ist Filipes Obsession. Sie begegnen ihm überall, er führt Listen mit den Toten, den Lebenden – und den Untoten, die ihm regelmäßig die Rechnung durcheinander bringen.

Die zweite Perspektive ist Iquelas, die chronologisch durch das Geschehen führt. Nach der Ermordung seiner Eltern lebt Felipe zunächst bei seiner Großmutter und nach deren Tod bei Iquelas Familie. Immer wieder schleichen sich Erinnerungen an die Kindheit in die Erzählung, durch die Augen der Kinder sehen wir geheime Untergrundversammlungen, erfahren vom Tod des Vaters, vom Verrat eines Freundes.

Ein Streuner namens Pinochet

Diese Vergangenheit kann Belastung bedeuten, das Trauma wird von Generation zu Generation weitergegeben. Das spürt Iquela bei den immer wiederkehrenden Erzählungen der Mutter, „das Gewicht all dieser Dinge drückten meinen Blick zurück Richtung Boden.“

Dieses Erbe bringt andererseits auch einen Stolz mit sich. Felipe erinnert sich an eine Nacht, die er als Kind im Gefängnis verbringt, weil er nachts draußen aufgegriffen wird. Er lacht über das Gesicht der Polizisten – er trägt den gleichen Namen wie sein Vater, von dem sie doch wissen, dass er tot ist. Dem Kind folgt ein streunender Hund. Auf die Fragen der Wachen nennt er ihnen seinen Namen: Augusto José Ramón, die Vornamen Pinochets.

Dieses ironische Spiel mit „sprechenden“ Namen schlägt auch in die andere Richtung aus, ein kleiner schmunzelnder Seitenhieb auf die Revolutionsromantik, die immer mal wieder auftaucht: Felipe als Name ist schon in Ordnung, „wenn man bedenkt, dass ich auch in der Gruppe der ganzen Vladimirs, Ernestos oder Fidel hätte landen können.“

Mit Humor genommen

Der Begriff Metapher ist beinahe schon ein zu ausgelutschtes Wort, um die bildliche Gewalt zu beschreiben, die Zéran mit ihrem Schreiben schafft. Es sind keine bloßen Metaphern, sie schafft es, eine unbeschreibliche Beklemmung auszulösen, durch die Erinnerungen, gerade auch an die Kindheit, die noch mitten in der Diktatur und im Widerstand der Eltern angesiedelt ist, eine Gefangenschaft in der Vergangenheit von der sich die eigene Existenz, die Gegenwart, nie lösen kann.

Zéran schafft wunderbare, bedeutungsaufgeladene Bilder: die Reise beginnt im Ascheregen, der als Folge eines Vulkanausbruchs über der Stadt niedergeht. Als sie endlich beim Hangar des Flughafens, an dem Ingrid sich befinden soll, ankommen, müssen sie ihn unter unzähligen Särgen, die dort scheinbar vergessen lagern, suchen. Unzählige tote Namen, die aber ebenso gleich wieder vergessen werden, weil man ja nach der eigenen Toten sucht.

Dieser ebenso herrliche wie schreckliche schwarze Humor zieht sich durch. Während der Fahrt spielen sie Stadt-Land-Fluss. Kategorien: Vulkannamen, Friedhöfe in Chile, Arten zu Sterben oder jemanden umzubringen. Wer sonst als ein Wiener Verlag wäre passender für die Veröffentlichung dieses Romans? Die Gelsen und Mistkübel lassen auch keinen Zweifel daran, wo die Heimat des Übersetzers ist. Benjamin Loy hat es geschafft, die Sprachmelodie aus dem Spanischen ins Deutsche zu holen – Lesenswert!