Die Geschichte des Blues zwischen Afroamerikanischer Selbstermächtigung und Kultur-Imperialismus

Die Geschichte des Blues beginnt mit der Verschleppung der ersten Menschen aus Afrika auf die Plantagen Amerikas. Die Ära der „Reconstruction“ brachte eine erste Befreiung von der Sklaverei, diese wurde aber nur kurze Zeit später inoffiziell wieder eingeführt. Die stark unterdrückten Schwarzen fanden in der Musik eine Möglichkeit ihren Schmerz zu teilen. Der Blues erlangte internationale Bekanntheit ist bis heute eine der wichtigsten Musikrichtungen.
1. April 2022 |

Die Ursprünge des Blues gehen bis auf das 18. Jahrhundert zurück und liegen in den Worksongs der afroamerikanischen Sklaven. Die Musikausübung, vor allem das Trommeln, wurde ihnen durch die weißen Herren untersagt und so blieb ihnen alleine der Gesang übrig. Ihre Lieder waren sowohl Ausdruck einer kulturellen Identität wurden aber auch – vor allem in den Südstaaten der späteren USA – auf den Baumwoll-Feldern bei der Arbeit gesungen. Sie hatten wenige festgefügte Elemente wie den Call and Response: Ein Vorsänger gab eine spontan erfundene Melodielinie vor, und die arbeitende Gruppe antwortete unmittelbar darauf. Dadurch entstand ein starker Rhythmus, der den Arbeitsablauf leitete. Ein Beispiel für einen heute noch bekannten Worksong, der zum Schlager avancierte ist Harry Belafontes Banana Boat Song. Die Entwicklung des Blues geht somit einher mit dem erwachenden Selbstbewusstsein des „schwarzen“ Amerika und dem Kampf um Gleichberechtigung.

Reconstruction – Emanzipationsbewegung ehemaliger Sklaven

Reconstruction – Emanzipationsbewegung ehemaliger Sklaven


Der Amerikanische Sezessionskrieg (1861-1865) und die darauf folgende Phase der „Reconstruction“ waren zwar die Grundlage für die Befreiung der Afroamerikaner aus der Sklaverei, doch zugleich war es erklärtes Ziel der im Süden von den Demokraten dominierten Politik, den Süden so lange wie möglich wirtschaftlich auszubeuten, sodass dieser lange Zeit wirtschaftlich „rückständig“ blieb. Dies ist eine der wesentlichen Ursachen für die – in Wahrheit bis heute andauernde – Benachteiligung und Unterdrückung der afroamerikanischen Bevölkerung. Die Befreiung fand nämlich in Wahrheit nur auf dem Papier statt. Neu geschaffene Gesetze diskriminierten die Afroamerikaner, indem beispielsweise das Wahlrecht an die Fähigkeit des Lesens und Schreibens gebunden war – eine erschreckende Parallele zur aktuellen perfiden Politik republikanisch geführter US-Bundesstaaten, die mit eigens geschaffenen Bestimmungen bestimmte Bevölkerungsgruppen an der Wahlausübung hindern wollen.
Im frühen Blues war vorerst die lose Erzählform gängig.

Die Texte waren zumeist geprägt durch die Rassendiskriminierung und andere Herausforderungen des täglichen Lebens. Die Musik wurde sukzessive um Elemente afrikanischer, europäischer und amerikanischer Country-Musik bereichert. Frühe Blues-Formen sind bereits in den Vaudeville- und Minstrel-Shows des 19. Jahrhunderts dokumentiert. In diesen Shows wurde „das Leben der Sklaven auf den Plantagen“ in romantisierter Form dargestellt, anfänglich traten weiße Darsteller_innen mit geschwärzten Gesichtern auf, zunehmend jedoch organisierten schwarze Musiker_innen ihre eigenen Shows. In dieser Phase war der Blues nur ein Teil des Repertoires, er wurde ergänzt durch Tages-Schlager, Ragtime und Country-Songs. Um ca. 1910 hatte sich das Wort „Blues“ zum allgemeinen Sprachgebrauch entwickelt. Erst mit der einsetzenden Kommerzialisierung durch die Plattenlabels Anfang der 1920er Jahre erfolgte dann die Spezialisierung auf Blues-Songs. bzw. bildete sich um diese Zeit das heute zumeist verwendete 12-taktige „Blues-Schema“ heraus.

Starke Frauen machten Blues berühmt


Zur Popularität des Blues trugen in den Anfangstagen vor allem Frauen bei, die Initialzündung erfolgte durch eine Sängerin namens Gertrude „Ma“ Rainey, die im Jahr 1886 in Alabama geboren wurde und schon in jungen Jahren in Minstrel-Shows auftrat. 1902 hörte sie in einer kleinen Stadt in Missouri ein Mädchen ein Lied über das Verlassen werden singen, das sie später als „fremdartig und ergreifend“ beschrieb. Sie nahm das Stück in ihr Repertoire auf und hatte damit die früheste Form des Blues entdeckt, und dieser bildete von nun an den Schwerpunkt ihres Repertoires – so weit die Legende…

Auch wenn heute die Stimmen des Protests vor allem im Rap und im Hip-Hop beheimatet sind bleibt der Blues eine der treibenden Kräfte afroamerikanischer Selbstermächtigung.


Fest steht, dass Ma Rainey, die mit ihrem Mann, Pa Rainey, und einer „Kompanie“ durch die Südstaaten der USA tourte – die Auftritte fanden oft in Zelten statt – zunehmend auch ein weißes Publikum begeisterte – natürlich waren deren Sitzplätze strikt von denen der schwarzen Zuhörer_innen getrennt…


Ma Rainey und ihre Kolleginnen der frühen Blues-Ära, wie Bessie Smith oder Alberta Hunter wurden vorwiegend von Tanzorchestern oder „klassischen“ Jazz-Bands begleitet. Kleines Detail dazu am Rande: Während die meisten Sängerinnen und Tänzerinnen für ihre Ansagen ein Megaphon zu Hilfe nahmen – Mikrophone und Verstärkeranlagen gab es noch nicht – schaffte es Ma Rainey Smith mit ihrer gewaltigen Stimme locker, die Instrumente zu übertönen.


Als erste Blues-Schallplatte eines „schwarzen“ Interpreten gilt That Thing Called Love von Mamie Smith (1920). Ma Rainey erhielt erst im Jahre 1923 einen Plattenvertrag bei Paramount Records, wo die „Mutter des Blues“ bis 1928 über 90 Aufnahmen machte. Ihr größter Hit gelang ihr 1925 mit dem See See Rider Blues, bei dem sie von Louis Armstrong und Buster Bailey begleitet wurde.

Auf Plantagen und in Gefangenenlagern haben die sogenannten Worksongs ihren Ursprung Foto: Library of Congress


Zum einen ist hier schon zu erahnen, wie oft sich im Laufe der Jahre die Genres Blues und Jazz und deren Exponenten noch begegnen würden, zum anderen ist an diesem Lied, mit dem Ma Rainey unsterblich wurde, die Magie und Wirkung des Blues auf viele folgende Generationen erkennbar. Es existieren davon vermutlich weltweit über 100 Versionen, von Ella Fitzgerald, The Animals und Jerry Lee Lewis (CC Rider).


Im Text geht es um eine betrogene Frau, die den Verlust nicht hinnimmt, sondern auf Gegenwehr sinnt. So heißt es: „Seeee see, rider, See what you done done… I’m gonna buy me a pistol, just as long as I am tall… gonna kill my man and catch the Cannonball.“ Da sang eine Frau selbstbewusst davon, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nahm und nicht länger Unterdrückung hinnehmen wollte – für die Entstehungszeit durchaus revolutionär!

Kommerzialisierung und Ausbeutung


Mit Ma Rainey beginnt nicht nur die Popularität des Blues sondern auch die Ausbeutung schwarzer Künstler_innen durch weiße Produzenten. Rainey selbst konnte sich dieser „Opferrolle“ entziehen und entwickelte mit ihrem selbstbewussten Auftreten so etwas wie eine Vorbildwirkung. Sie steht damit stellvertretend für eine Zeit des Erwachens der afroamerikanischen Identität, die natürlich in der Folge mehrfach auf dem Prüfstand stehen sollte. Der kulturelle Backlash ausgelöst durch die „Great Depression“ nach dem großen Börsenkrach gehört hier ebenso dazu wie die nach wie vor geltenden, nach Jim Crow benannten, Gesetze der Rassentrennung, ganz zu Schweigen von den stetigen Drohungen und Lynchmorden des Ku-Klux-Klans. Letztere sind eindrucksvoll in dem Song Strange Fruit der Jazz-Sängerin Billie Holiday beschrieben, welcher auch von zahllosen Blues-Musiker_innen interpretiert wurde, u.a. von Nina Simone oder in neuerer Zeit beispielsweise von Beth Hart.

Mit Ma Rainey beginnt nicht nur die Popularität des Blues sondern auch die Ausbeutung schwarzer Künstler_innen durch weiße Produzenten.


Dass Ma Rainey in der Folge für Jahrzehnte in Vergessenheit geriet war zum Teil dem Bankrott von Paramount Records (1932, als Folge der Great Depression) geschuldet (ihre Platten wurden erst ab den 1960er-Jahren wieder neu aufgelegt), zum anderen zog sie sich auf dem Höhepunkt ihres Ruhms bis an ihr Lebensende ins Privatleben zurück. Ma Rainey war mehrere Male verheiratet, galt jedoch als bisexuell, ebenso wie die Sängerin Bessie Smith, deren Mentorin sie wurde, und die in den folgenden Jahren als „Kaiserin des Blues“ in die Geschichte eingehen sollte. Das Œuvre von Bessie Smith ist deutlich besser mit Tonträgern dokumentiert, was auch an der besseren Aufnahmetechnik lag. Ihr Downhearted Blues wurde von der Rock and Roll Hall of Fame als einer jener Songs bezeichnet, die maßgebend für die Entwicklung des Rock ’n’ Roll waren.


Gegen Ende der 1920er Jahre änderten sich die Bedingungen für die Blues Musiker_innen nachhaltig. Die Erfindung des Tonfilms besiegelte das Ende der Minstrel-Shows und die Kommerzialisierung durch große Plattenfirmen vereinnahmte die Künstler_innen zusehends. Der Musikgeschmack des Publikums änderte sich, im Norden Amerikas wurde der Swing populär.
Um diese Zeit entstand auch die erste Schallplatte von Big Bill Broonzy die wegweisend für den gitarrenlastigen, reduzierten Folkblues der folgenden Jahre werden sollte und der vor allem in den Südstaaten beliebt war. Neben Blind Lemon Jefferson, Tampa Red und Blind Blake gilt heute vielfach Robert Johnson als wichtigste Gestalt dieses archaischen Country- oder Delta-Blues, eines Stils, in dem viele den Ursprung des Blues sehen, der in Wahrheit aber eben schon Jahrzehnte zuvor erfunden worden war.

Robert Johnson war jedoch innerhalb des Delta-Blues eine nicht so bedeutende Figur, sein Ruhm gründet vor allem in der Phase der Wiederentdeckung des Blues durch das weiße Publikum in den 1950er und 1960er Jahren und durch Guitar-Heroes wie beispielsweise Eric Clapton, die den Blues „elektrifizierten“ und mit Pyrotechnik anreicherten – doch das ist eine andere, ambivalente Geschichte, angesiedelt irgendwo zwischen Verehrung, Adaption und Aneignung. In diesem Zusammenhang von „Kultur-Imperialismus“ zu sprechen ist jedoch nur die halbe Wahrheit, denn manche weiße Musiker_innen gingen durchaus respektvoll mit ihren schwarzen Kolleg_innen um und nahmen – entgegen den in jener Zeit üblichen Gepflogenheiten – sogar mit diesen gemeinsam auf…

Weiterentwicklung und Nachwirkung


Aufgrund der Migration vieler Afroamerikaner_innen aus dem Süden in den Norden der USA, vor allem in die großen Städte wie Chicago und Detroit, wurde in den 1940er und 1950er Jahren der dort populäre Jazz durch den „Urban Blues“ entscheidend geprägt und erweitert.
Zu den stilistischen Weiterentwicklungen, wie z.B. zum Rhythm and Blues, führte auch der Einsatz von elektrischen Gitarren und Verstärkern, der für Künstler wie Muddy Waters, John Lee Hooker und Howlin’ Wolf charakteristisch war und ihren Aufstieg zu „Solo-Künstlern mit Begleitband“ begründete. Ein bekannter Vertreter des Rhythm and Blues wurde in den 1960ern Lee Dorsey, sein Hit Working in the Coal Mine knüpft an die alte Worksong-Tradition an.


Großen Einfluss auf den wachsenden Bekanntheitsgrad des Blues in Europa hatte das American Folk Blues Festival, bei dem Größen wie John Lee Hooker, T-Bone Walker und Jimmy Reed auftraten, und das ab 1962 jährlich in mehreren europäischen Städten stattfand. Europäische Bands wie die Yardbirds fungierten hier oftmals als Begleitband für die amerikanischen Blues-Stars und wurden so von diesen inspiriert. Die Rolling Stones leiteten gar ihren Bandnamen aus einem Muddy-Waters-Song ab und traten später auch mit diesem gemeinsam auf.


Aber der elektrische Blues wurde seit Mitte der 1940er Jahre auch in den USA von Radio-DJs in ihren Sendungen gespielt und erreichte so weiße Jugendliche, die ihn sonst aufgrund der Segregation nicht zu hören bekommen hätten. Elvis Presley und Gene Vincent gehörten zu den ersten weißen Musikern, die den „schwarzen“ Blues verehrten und weiterentwickelten und gemeinsam mit Afroamerikanern wie Chuck Berry begründeten sie durch eine Verschmelzung mit raueren Spielformen des Country schließlich den Rock ’n’ Roll. Daraus entstanden im Laufe der Jahrzehnte alle modernen Spielarten der Rock- und Popmusik bis hin zu aktuellen Stilrichtungen wie Soul, Hip-Hop und R&B.


Wie schon erwähnt waren die Künstler_innen, die Musik komponierten und interpretierten auf der einen Seite, die Verwertung erfolgte jedoch in der Regel durch andere, nämlich in der Regel weiße Bosse von Plattenfirmen und Konzertagenturen. Dies begann sich im Laufe der 1960er Jahre, nicht zuletzt ausgelöst durch die Bürgerrechtsbewegung, zu ändern. Plattenlabels wie Motown und Stax-Records machten „schwarze“ Musik einer noch breiteren Masse zugänglich. Der Blues war zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr das alleinige Ausdrucksmittel der Afroamerikaner_innen. Festivals wie das „Harlem Culture Festival“ 1969 (auch als „Black Woodstock“ bekannt) boten beispielsweise den damals neuen Stars des Funk wie Sly and the Familiy Stone ebenso eine Bühne wie den Blues-Veteranen, so z.B. BB King. Eines seiner trademarks lautete Why I Sing the Blues: Jeder wolle wissen, warum er den Blues sänge, heißt es darin. Er sei eben schon länger mit dabei und habe allen Grund dazu – und er meint damit nicht nur sich als Person, sondern alle US-Bürger_innen schwarzer Hautfarbe: „When I first got the Blues / They brought me over on a Ship / Men were standing over me / And a lot more with a whip.“ Und hier schließt sich der Kreis wieder: die Geschichte des Blues ist untrennbar mit der Geschichte des Aufbegehrens gegen Sklaverei, Rassendiskriminierung und Unterdrückung verbunden, und sie ist im 21. Jahrhundert noch immer nicht zu Ende.


Auch wenn heute die Stimmen des Protests vor allem im Rap und im Hip-Hop beheimatet sind bleibt der Blues eine der treibenden Kräfte afroamerikanischer Selbstermächtigung.


Afroamerikanische Blues-Musiker_innen unserer Zeit wie beispielsweise Rhiannon Giddens oder Gary Clark jr. (aktuelles Album This Land, 2019) geben kräftige Lebenszeichen einer Szene von sich, deren kreatives Potential noch lange nicht erschöpft ist, und die sich weiterhin mit unzähligen anderen Musik-Genres im gegenseitigen Austausch befindet. Dieser musikalische Austausch, unabhängig von Hautfarbe, Religion und Geschlecht ist das Sinnbild für die Irrationalität rassischer Vorurteile, und in einer Zeit zunehmend rassistisch motivierter Politik notwendiger denn je.