Beweise vernichten und Zeugen einschüchtern: Hintergründe der Erstürmung des Palästina-Kongress in Berlin
Die Deutsche Polizei hat vergangene Woche den Palästina-Kongress in Berlin gestürmt. Sie hat den britisch-palästinensischen Chirurgen Ghassan Abu-Sittah, einen wichtigen Zeugen im Völkermordprozess gegen Israel, festgesetzt und anschließend ausgewiesen, und ein Einreise- sowie Betätigungsverbot für Yanis Varoufakis, den ehemaligen griechischen Finanzminister ausgesprochen. Die Maßnahmen gegen Varoufakis haben etwas ungewollt Komisches, wenn man sich daran erinnert, wie hysterisch EU-Politiker, allen voran der kürzlich verstorbene deutsche Finanzminister Schäuble, während des griechischen Referendums im Sommer 2015 auf Varoufakis reagiert haben. Rachegelüste dürften bei den Repressionsmaßnahmen durchaus mit eine Rolle gespielt haben. Aber es hat nichts Lustiges an sich, beobachten zu müssen, wie schnell sich die westlichen Demokratien von ihren eigenen Werten verabschieden und sich zu illiberalen Demokratien mit Sprech- und Denkverboten wandeln, so wie eine FPÖ sie nach dem Vorbild Ungarns schon länger herbeisehnt.
Das Recht des Stärkeren
Der Berliner Bürgermeister Kai Wegner erklärt das Vorgehen vordergründig so: „Wir haben klar gemacht, dass Israel-Hass in Berlin kein Platz hat. Wer sich nicht daran hält, wird die Konsequenzen spüren.“ Natürlich, nach neuester staatlicher Definition wird Israel-Kritik mit Antisemitismus gleichgesetzt. Die Repression durch den deutschen oder auch österreichischen Staat ist demnach nur eine konsequente Fortsetzung einer von Haus aus sehr falschen Zuschreibung. Aber Israel-Kritik kann theoretisch nur dann antisemitisch sein, wenn man Judentum und Israel gleichsetzen würde, eine Position, die Israel schon seit seiner Gründung forciert, die aber einfach unhaltbar ist.
Israel wird von keinem der Redner kritisiert oder auch gehasst, weil es ein jüdischer Staat ist, sondern weil es unfassbar grausame Verbrechen an der einheimischen Bevölkerung in Palästina begeht und weil es dabei von westlichen Staaten (und wenigen anderen wie Indien) gedeckt und aktiv unterstützt wird. Mehr noch, die Kritiker behaupten zurecht, dass Israel in seiner derzeitigen Form nur existieren kann, wenn es die palästinensische Bevölkerung straffrei unterdrücken, vertreiben oder ermorden kann. Israel genießt dabei keine jüdischen Sonderrechte, diese Behauptung wäre tatsächlich antisemitisch, sondern dieselben Sonderrechte des Stärkeren, wie etwa die USA sie für sich reklamieren. Auch die USA verstoßen auf das Gröbste gegen internationales Recht, wenn sie mit ihren Drohnen Zivilisten töten, in den Irak einmarschieren, und ähnliches. Die harten Reaktionen mancher Regierungen auf Israelkritik hat also wirklich nichts mit dem Kampf gegen Antisemitismus zu tun, sondern ist ein Kampf gegen zunehmenden Widerstand gegen diese brutale Weltordnung!
Traumatische Antikriegsproteste
Israel ist im Fokus antiimperialistischer Kritik, weil sich in seiner Unterstützung die ganze Verkommenheit der imperialistischen Weltordnung zuspitzt. Aber Israel ist keine Obsession der antiimperialistischen Bewegung, diese hat sich bei anderen Anlässen noch entschlossener gezeigt. Die herrschende Klasse der USA ist immer noch traumatisiert von der Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg in den 1960er und 1970er-Jahren und der Irakkrieg der USA und seiner Verbündeten von 2003 bis 2011 hat viel stärkeren Widerstand erlebt, als der Krieg in Gaza. Aber diese Kriege konnte man formell beenden, während man Israel nicht so einfach fallen lassen kann. Das wäre ein Rückschlag epochalen Ausmaßes für die USA, der mit großem Machtverlust in der gesamten Region und darüber hinaus einhergehen würde.
Zeuge, nicht Verbrecher
Es geht also um mehr als die Verteidigung eines europäischen Siedlerstaats im Nahen Osten, sie verteidigen ihr ganzes Herrschaftsmodell. Und weil sie für ihre Herrschaft den Konsens, zumindest die passive Duldung der Bevölkerung brauchen, bekämpfen sie die Kritiker Israels und die Zeugen seiner Verbrechen so vehement, denn der Konsens hat tiefe Risse. Der am Berliner Flughafen festgenommene Chirurg Dr. Ghassan Abu-Sittah war Augenzeuge der unfassbaren Gräueltaten Israels an zwei Kliniken in Gaza, und wurde von Südafrika in seiner Völkermord-Klage gegen Israel als Zeuge aufgeführt und zitiert. Dr. Abu-Sittah erklärte nach seiner Freilassung: „Indem ein Zeuge des Völkermords vor dem Internationalen Gerichtshof zum Schweigen gebracht wird, macht sich Deutschland mitschuldig an dem anhaltenden Massaker.“
Weiters sagte er im Interview: „Sie werden uns niemals zum Schweigen bringen. Sie wollten uns dazu bringen, das, was wir gesehen haben, nicht zu sehen. Das ist genau das, was Komplizen bei einem Verbrechen tun. Sie begraben die Beweise und bringen die Zeugen zum Schweigen, schikanieren sie oder schüchtern sie ein“, sagte er. Vor dem Internationalen Gerichtshof wurde folgender Bericht des Augenzeugen Abu-Sittah vorgetragen: „Da war ein Mädchen, das am ganzen Körper mit Granatsplittern übersät war. Sie war neun Jahre alt, und ich musste die Wunden auswechseln und säubern, ohne Narkose und ohne Schmerzmittel. Es gelang mir, etwas intravenöses Paracetamol zu finden, das ich ihr geben konnte … ihr Vater weinte, ich weinte, und das arme Kind schrie.“
Grundrecht auf Meinungsfreiheit
Das Rufen des Slogans „From the River to the Sea – Palestine will be free“ auf einer Demonstration hat inzwischen straffrechtliche Konsequenzen. Niemand darf sich öffentlich die Befreiung Palästinas von israelischer Besatzung wünschen, oder es der palästinensischen Bevölkerung gönnen. Alleine Israels Vorgehen eine Besatzung zu nennen, fällt unter Denkverbot. Wahrscheinlich ist dieses Verbot unhaltbar, sollte es zu einem Verfahren dagegen kommen. Aber, dass es so nebenbei ausgesprochen wird, spricht Bände über den Zustand unserer Demokratien.
In funktionierenden Demokratien sind Behörden rechenschaftspflichtig, die Bürgerinnen müssen sich vor Willkür sicher fühlen können, das ist zumindest in der Theorie ein wesentlicher Unterschied zu Autokratien. Aber die Bereitschaft unserer Eliten die Grundrechte aufzugeben, nimmt spürbar zu. Am schlimmsten bekommen es natürlich Randgruppen zu spüren. Fragen sie Flüchtlinge, ob sie gerne zur Polizei gehen, oder Transpersonen, oder Obdachlose, oder migrantische Jugendliche. Sie können schon länger bezeugen, dass die Willkürakte zu-, und die Grundrechte abnehmen. Der flapsige Umgang der europäischen Regierungen mit dem 2023 von der griechischen Küstenwache und Frontex nachweislich verübten Massenmord im Mittelmeer, gehört zur neuen Norm. Überlebende werden angeklagt, Täter bleiben unbehelligt oder gehen in die Politik, so wie der frühere Frontex-Chef, Fabrice Leggeri, der für Le Pen bei den EU-Wahlen antritt.
Normalisierung von Repression
In Frankreich hat Innenminister Darmanin alle Pro-Palästinensischen Proteste untersagt und aufgerufen, Organisatoren und Störenfriede zu verhaften. Selbst gegen die friedlichsten und kleinsten Proteste geht die Polizei mit Schlagstöcken vor.
In Ungarn hat die Regierung mehrfach Mahnwachen für die zivilen Toten in Gaza untersagt, nicht aufgrund irgendwelcher Fakten, sondern aufgrund der Erwartung von Israelkritik.
Im Vereinigten Königreich hat die inzwischen zurückgetretene Innenministerin Suella Braverman die Polizei aufgerufen, mit aller Härte gegen Menschen vorzugehen, die die Palästinaflagge tragen. Dort hat die Protestbewegung allerdings das Recht auf Freie Meinungsäußerung mit „Gewalt“ durchgesetzt. Bis zu 800.000 Menschen gingen beinahe wöchentlich auf die Straßen und tauchen die Straßen seither in ein Meer von Palästinafahnen.
In Deutschland hat die Polizei ebenfalls Leute festgesetzt, die nur die Palästinafahne getragen haben. In Berlin und Frankfurt werden Proteste in Solidarität mit Palästina untersagt. In Berlin soll das Hochschulgesetz dahingehend verändert werden, dass Studierende wegen Gewalt exmatrikuliert werden können. Darunter fallen dann auch Hörsaalbesetzungen. Das Bezirksamt Friedrichhain-Kreuzberg, geführt von einem ehemaligen Polizisten, hat Mitte April die Schließung der Mädchenzentren Alia und Phantalisa bekanntgegeben, weil Vorstandsmitglieder sich an Mahnwachen beteiligt haben und am Palästinakongress teilnehmen wollten.
In Österreich wurde eine Demonstration aufgelöst, weil der Slogan „From the River to the Sea“ zu hören war. Die Stadt Wien hat einen BDS-Aktivisten angezeigt, nachdem er „Visit Apartheid – Free Palestine“ in Verbindung mit dem Stadtwappen gezeigt hat.
Die Liste ließe sich lange fortsetzen: In den USA haben zahlreiche Akademiker ihre Jobs an Universitäten verloren. Nicht gezählt werden die vielen Ablehnungen oder Benachteiligungen die Menschen bei Jobbewerbungen erfahren, vor allem an öffentlichen Einrichtungen, wie Universitäten oder Medien.
Welt im Krisenmodus
Es ist sicherlich kein Zufall, dass wir eingangs der Klimakatastrophe diese Angriffe auf unsere Grundrechte erleben, jene Grundrechte, die scheinbar nur wir im zivilisierten Westen so richtig zu schätzen wissen, und deren Verteidigung sich unsere Regierungen irgendwann einmal auf die Fahnen geschrieben haben. Die geschilderten Katastrophen, bzw. der offizielle Umgang damit, erinnern immer stärker an dystopische Science-Fiction Geschichten von George Orwell oder Philip K. Dick. In diesen Geschichten hat der Widerstand versagt, die herrschenden Eliten kontrollieren inmitten einer tödlich chaotischen Welt das Leben ihrer Untertanen. Wir steuern auf eine Katastrophe unbekannten Ausmaßes zu und wir müssen uns dafür rüsten.
Dazu gehört aktiven Klimaschutz zu betreiben, die vorhandenen Ressourcen gerecht zu verteilen oder Millionen von Klimaflüchtlingen neu anzusiedeln – alles Maßnahmen gegen die sich die Herrschenden mit Händen und Füßen, bzw. mit Krieg und Massenmord wehren. Sie fühlen sich zurecht bedroht, denn wir müssen ihre Herrschaft und ihre Weltordnung brechen, wenn wir eine lebbare Welt wollen. Geht es nach ihnen, dann werden noch weitere unliebsame Gruppen von Menschen ein so grausames Schicksal erleiden, wie die Bootsflüchtlinge oder die Bevölkerung von Gaza. Geht es nach uns, dann wird alles Menschenmögliche getan werden, um in der Katastrophe menschenwürdig zu überleben. Wir stehen vor der Wahl: Sozialismus oder Barbarei.