Die IHRA-Definition von Antisemitismus – Von einer schlechten Definition und ihrem politischen Einsatz

Im Laufe des aktuellen Massakers in Gaza ist beinahe jede Kritikerin und jeder Kritiker von Israels Vorgehen schon einmal des Antisemitismus bezichtigt worden. Aber schon davor hat sich der Vorwurf des Antisemitismus inhaltlich verschoben und wird in der Praxis beinahe ausschließlich gegen Israelkritik eingesetzt. Die lange Zeit anerkannte Definition von Antisemitismus, in der Judenhass und Diskriminierung die zentrale Rolle gespielt haben, ist in den Hintergrund gerückt worden. Möglich gemacht wird das durch den missbräuchlichen Einsatz einer Neudefinierung, die als „IHRA-Definition von Antisemitismus“ bekannt wurde.
22. Juni 2024 |

Der Vorwurf des Antisemitismus hat durch seinen wahllosen Einsatz an Wucht und Ernsthaftigkeit verloren. Er trifft jeden gleich; den deutschnationalen FPÖ-Burschenschafter mit seinem unverblümten Judenhass, aber genauso den Vorsitzenden des Internationalen Strafgerichtshofs oder die Klimaschutzikone Greta Thunberg. Der eine spornt die nationalsozialistisch gesinnten Kameraden singend an, die siebte Million Juden zu vernichten, die anderen kritisieren Israel wegen seiner Verbrechen an der Palästinensischen Bevölkerung. Dass diese Vermengung von Vorwürfen dem Kampf gegen Antisemitismus keinen Gefallen getan hat, liegt auf der Hand.

So abscheulich wie Nazis?

Unter den EU-Staaten die bisher die IHRA-Arbeitsdefinition angenommen haben, ist Österreich möglicherweise am weitesten gegangen, indem es mit 1. Jänner 2024 die Gleichsetzung von Israelkritik mit nationalsozialistischen Aktivitäten beschlossen hat. Erschreckend ehrlich wird vom Justizministerium dargelegt, dass der Gesetzgeber den klassischen Antisemitismus von rechts nicht mehr ernst zu nehmen gewillt ist, es geht dem österreichischen Staat gezielt um die Kriminalisierung von Kritik am Staate Israel. „Der rassistische Antisemitismus – die ideologische Grundlage nationalsozialistischer Judenvernichtung – steht heute nur mehr vereinzelt im Vordergrund der Agitation. Im Zentrum stehen vielmehr der sekundäre und antiisraelische/antizionistische Antisemitismus.“ Ganz explizit nennt das Gesetz nicht, auf wen das Gesetz abzielt, man braucht aber auch nicht viel Phantasie, wer ins Visier genommen wurde: „Eine besondere Gefahr könnte von (Protest-)Kundgebungen ausgehen, die durch antisemitisch eingestellte Personen initiiert und organisiert werden.“ Nachdem die Neonaziproteste in den letzten Jahrzehnten nie antiisraelisch ausgerichtet waren, muss davon ausgegangen werden, dass die Proteste in Solidarität mit Palästina gemeint sind. Dass es sich tatsächlich um eine Gleichsetzung des nationalsozialistischen Terrors mit dem palästinensischen Widerstand gegen die Besatzung von Palästina oder gegen die Belagerung von Gaza handelt, demonstriert diese Passage aus den Erläuterungen des Innenministeriums: „Wer in Zukunft Abzeichen der NSDAP oder Symbole der Hamas öffentlich trägt, soll gleich streng bestraft werden“, und zwar mit einer Strafe von 10.000 Euro.

Man muss sich vergegenwärtigen, dass Mitglieder der aktuellen Bundesregierung, die diese Novelle vorangetrieben haben, wie Verfassungsministerin Edtstadler und Bundeskanzler Nehammer, gerade noch in einer Koalitionsregierung mit der FPÖ gesessen sind, und dass die ÖVP auch heute in drei Bundesländern mit der FPÖ koaliert, um sich die ganze Durchtriebenheit des neuen Verbotsgesetzes vor Augen zu halten.

Neuer Antisemitismus und Israel

Bis Anfang der 2000er-Jahre herrschte weitgehend Einigkeit darüber, was Antisemitismus bedeutet: Antisemitismus war immer ein kultureller Code der Rechten. Shulamit Volkov von der Universität Tel Aviv hat die politische Wahrnehmung der Antisemiten gut beschrieben: „Wenn jemand antisemitisch ist, kann man sich sofort vorstellen, was jemand sonst noch ist: ein Monarchist, ein Antidemokrat, ein Imperialist. Und auch in kultureller Hinsicht könnte man Sie als jemanden identifizieren, der antimodern ist, als jemanden, der im Grunde genommen konservativ ist, aber auch ein radikales Element in sich trägt – ein gegen die Gegenwart gerichtetes Element.“ Das Konzept des „Neuen Antisemitismus“ versucht, diese wahrgenommenen Codes vergessen zu machen und Antisemitismus zu etwas Linkem zu machen. Das Label „antisemitisch“ sollte in erster Linie der Linken umgehängt werden, der internationalen Solidaritätsbewegung und der Dritten-Welt-Bewegung. Im Kern der Theorie des „Neuen Antisemitismus“ steht die Vorstellung, dass „Israel der kollektive Jude unter den Nationen“ sei und durch Boykottaufrufe delegitimiert werde. Wie Nathan Thrall kommentiert hat: Israels mächtigstes Instrument in der Kampagne gegen die Delegitimierung war es, die Kritiker des Landes des Antisemitismus zu bezichtigen. Dazu mussten die offiziellen Definitionen des Begriffs geändert werden. Diese Bemühungen begannen in den letzten Jahren der zweiten Intifada, in den Jahren 2003 und 2004, als noch bevor die Aufrufe der BDS-Bewegung zum Boykott und zu De-Investment von Israel an Fahrt gewannen. Die neue Definition kam zustande, als die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) auf einen Vorschlag des American Jewish Committee (AJC) reagierte und eine Gruppe einberief, die allesamt die antilinke Stoßrichtung der „neuen Definition“ unterstützten. Kenneth Stern, der Leiter der Antisemitismusforschung des AJC, hatte eine solche neue Definition bereits ausgearbeitet. Diese wurde mit einigen kleinen Änderungen als Arbeitsdefinition der EUMC veröffentlicht. Der Entwurf von Stern war insofern einzigartig, als er verschiedene Beispiele für Kritik an Israel und dem Zionismus auflistete, die als antisemitisch angesehen werden könnten. Die Definition und die Beispiele wurden dann von der EUMC im Jahr 2005 veröffentlicht. Von dort gelangte der Text wieder zurück an die IHRA und wurde mit kleinen Änderungen 2015 als die IHRA-Arbeitsdefinition vor allem an die EU und die USA herangetragen. Das Ergebnis dieses Prozesses war ein großer symbolischer Erfolg für Israel: Seine Selbstdarstellung als Vertreter aller Jüdinnen und Juden ist mit dem Begriff des „kollektiven Juden“ auf ein neues Niveau gehoben worden, und die Delegitimierung der Sicht der Palästinenser_innen wurde in der EU und den USA bereitwillig mitgetragen. Es passte sehr gut in das Konzept des Kriegs gegen Terror unter dessen Banner die Kriege in Afghanistan, Irak, Jemen, Somalia und anderen muslimischen Staaten geführt wurden.

Unter Generalverdacht

Der ursprüngliche IHRA-Text ist fürchterlich unpräzise, aber er lässt sich im Originalformat noch nicht für einen Angriff auf Israels Kritiker_innen missbrauchen.
Arbeitsdefinition von Antisemitismus:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“
Nur dieser 42 Wörter zählende Text ist die Arbeitsdefinition der IHRA, wie sie 2016 in Bukarest beschlossen wurde.

Dem Text wurden aber nachträglich Erläuterungen angehängt, die zur Veranschaulichung dienen „können“. In sieben der elf Fälle geht es um Kritik an Israel. Die nationalen Gesetzgeber beschließen meist nur die Arbeitsdefinition als Beilage zu Gesetzestexten, zitieren aber in der öffentlichen Kommunikation eines der nicht inkorporierten sieben Beispiele, die sich mit Israelkritik befassen.

Die Schlüsselpassage der Arbeitsdefinition ist verwirrend ungenau und undefinitiv, das exakte Gegenteil einer Definition: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden“. Eine bestimmte – welche? Eine „die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann.“ Das heißt, eine nicht näher definierte Wahrnehmung kann oder kann auch nicht, sich als Hass (oder eine andere Haltung) gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken. Die Arbeitsdefinition ist simpel gesagt als Definition völlig unbrauchbar und ohne ergänzende Erläuterungen nicht zu verwenden. Die ergänzenden Erläuterungen wiederum konzentrieren sich ganz offensichtlich auf Kritik an Israel. Einige der Punkte sind vernünftig, einige nicht. Entscheidend ist die Gesamtwirkung; Die Fallbeispiele sollen angeblich aufklären, welche Formen der Kritik an Israel und dem Zionismus als antisemitisch gelten sollten, in der Praxis legt sie den Kritikern Israels die Bürde auf, zu beweisen, dass sie nicht antisemitisch sind. Diese Liste an Erläuterungen wurde von Kenneth Stern auf Vorschlag des American Jewish Committee (AJC) ausgearbeitet und schon im Jahr 2005 veröffentlicht.

Durchaus nachvollziehbar ist folgendes Beispiel aus den Erläuterungen von Antisemitismus im öffentlichen Leben:

  • Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z.B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben.

    Bei dieser Erläuterung geht es völlig unzweifelhaft um antisemitische Propaganda! Dem Kampf gegen Antisemitismus weniger dienlich sind z.B. die zwei Punkte, die sich auf Staatlichkeit und Selbstbestimmung beziehen:
  • Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.
  • Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird.

    Wem die Debatte um die jüdische Nation neu ist, erkennt womöglich nicht sofort, was diese zwei Erläuterungen bewirken. Sie erklären das palästinensische Erleben von Gewalt als Null und nichtig. Sie beenden jegliche Debatte um die jüdische Identität (die Juden sind ein Volk, und Punkt), und sie stellen den jüdischen Staat auf dieselbe Ebene wie westliche Nationen anstatt auf die Ebene anderer kolonialer Siedlerstaaten, wie Algerien, Südafrika oder Rhodesien.

    Zum ersten Punkt der Ist das Recht eines jeden Volkes auf Selbstbestimmung in jedem Fall zu unterstützen? David Harris, Leiter des AJC formulierte es so: „Dem jüdischen Volk von allen Völkern der Erde das Recht auf Selbstbestimmung zu verweigern, ist sicherlich diskriminierend.“ Dies ist ein starkes und emotionales Argument, dem man vordergründig nur schwer widersprechen kann. Israel wurde nach dem Massenmord der Nazis an den Juden während des Zweiten Weltkriegs gegründet. Es versprach allen jüdischen Menschen einen sicheren Zufluchtsort. Unterstützung für diese Fluchtbewegung der Verzweifelten gibt es von einer viel breiteren Schicht von Menschen, als es Unterstützung für die konkrete Politik Israels gegenüber der ansässigen Bevölkerung gibt. Wie können also Linke, die stets daran erinnern, dass sich das Grauen des Holocausts nie wiederholen darf, sich gegen das Selbstbestimmungsrecht des jüdischen Volkes stellen? Das ist mehr oder weniger die Stoßrichtung, in die die Debatte über Antisemitismus geführt wird, wenn man die IHRA-Fallbeispiele heranzieht. Ein in sich geschlossenes Gebäude von Argumenten, das erst ins Wanken gerät, wenn man ein paar Grundannahmen infrage stellt.

    Wie steht es um das Selbstbestimmungsrecht der Völker? Kein Volk verwirklicht dieses Recht in einem luftleerem (oder völkerleerem) Raum, sondern in einer Beziehung mit anderen Völkern. Viele oder die meisten der 6-7000 Sprachgruppen der Welt leben in Staaten, die ein Amalgam aus gemischten Ethnien darstellen. Aus dem Vergleich mit „jedem anderen Volk“ lässt sich der Anspruch Israels als jüdischen Staat also nicht ableiten. Die Fürsprecher Israels argumentieren aber auch damit, dass das jüdische Volk ein besonderes Schutzbedürfnis hat, und sich daraus das Recht auf ein eigenes Staatsgebiet ableiten lässt. Es müsse ein „jüdischer Staat“ sein, damit es ein sicheres Heimatland sein kann. In diesem muss das jüdische Volk eine garantierte Mehrheit haben und daher besondere Privilegien genießen.

Selbstbestimmungsrecht der Völker

Wichtig ist, wie die Begriffe „Volk“ und „Selbstbestimmung“ bei der Anwendung der neuen Definition ausgelegt werden. In sämtlichen offiziellen Texten zu der Problematik von Antisemitismus oder Israelkritik ist wie selbstverständlich die Rede von einem jüdischen Volk und seinen Rechten. Aber diese Idee ist ziemlich neu und wurde erst vor 130 Jahren durch den Wiener Journalisten Theodor Herzl populär gemacht. Aus seinem Werk Der Judenstaat stammt die berühmte Beschwörung: „Wir sind ein Volk, ein Volk.“ Nur, dass viele Vertreter und Vertreterinnen der radikalen Strömung im Judentum das vollkommen in Abrede stellen würden. Man muss sich ernsthaft die Fragen stellen. Was macht ein Volk aus? Woher schöpfen seine Mitglieder ihre kommunale Zusammengehörigkeit. Das Volk oder die Nation sind schließlich keine biologischen Einheiten. Was natürlich erscheint, ist nichts dergleichen. Wo Grenzen gezogen wurden oder wer sich als Mitglied einer Nation identifiziert (und welche), sind politische und individuelle Entscheidungen. Heute ist man sich einig, dass Volk ein soziales Konstrukt ist, das Ergebnis einer Fremd- und Selbstzuschreibung. In der Wissenschaft spricht man statt von Volk heute von Ethnogenese, vom dynamischen Geschehen der Herausbildung einer Ethnie.
Ein bedeutender Weggefährte und Konkurrent von Herzl, der genauso bemüht war, eine jüdische Nation zu formieren, war Simon Dubnow. Dubnow war Diaspora-Nationalist, wie die Mehrheit der jüdischen Nationalisten damals. Er glaubte im Gegensatz zu den Zionisten nicht, dass Jüdinnen und Juden ein eigenes Territorium benötigten. Laut Dubnow war Nation oder Volk etwas, in das man hineingeboren sein musste: „Mitglieder einer Nation werden nicht gemacht, sondern geboren (nascuntur, von natio, nativus)… es ist nur möglich, sich selbst zum Mitglied einer organischen Gruppe, eines Stammes oder einer Nation zu machen… indem man physisch mit dieser Gruppe verschmilzt… Um Mitglied der französischen Nation zu sein, muss man von den Galliern oder einer verwandten Rasse abstammen oder sich im Laufe mehrerer Generationen den Franzosen so weit angenähert haben, dass man bestimmte, im Laufe der Evolution entstandene Merkmale übernommen hat. … Unter allen Umständen bleibt dieser Jude ein französischer Bürger jüdischer Nationalität.“

Jüdische Emanzipation und Identität

Dubnow und Herzl waren völlig gefangen in dem völkischen Denken ihrer Zeit. Herzl musste die jüdische Gemeinschaft als Volk definieren, und daraus Rechte für dieses Volk ableiten, weil er sich an Politiker wandte, die ebenso völkisch dachten. Sie folgten einem Weltbild, in dem gewisse Völker über anderen standen und sich wie die Briten das Recht nahmen andere Völker zu unterwerfen. Deutschland und andere Nachzügler auf dem imperialistischen Parkett beanspruchten dieselben Privilegien für sich, und Herzl wollte für das jüdische Volk ebenfalls einen Platz an der Sonne. Es mag im Nachhinein überraschen, weil israelische Politiker heute so firm auftreten und gar keinen Zweifel an einem jüdischen Volk und seinen angestammten Rechten aufkommen lassen. Aber, was die über die ganze Welt verstreut lebenden Jüdinnen und Juden zu einem Volk oder einer Nation machen sollte, war Herzl selbst völlig unklar und wie es scheint, auch egal. Derek Penslar zitiert die Aussagen von Herzl: „Er schrieb, dass Jüdischsein von der Religion herrührt, behauptete aber einen Monat später, dass Jüdischsein ‚nichts mit Religion zu tun hat‘ und dass alle Juden ‚derselben Rasse angehören.‘ Vier Monate später schien er sich erneut zu widersprechen. ‚Wir sind eine historische Einheit, eine Nation. Keine Nation hat eine einheitliche Rasse.‘“
Aber wie schon gesagt ist Volk ein soziales Konstrukt, man kann es unmöglich natürlich und logisch kohärent herleiten. Viele Gemeinsamkeiten der jüdischen Gemeinden lösten sich mit der Emanzipation auf. Die Amerikanische und die Französische Revolution beschleunigten die jüdische Emanzipation und befreite die jüdische Bevölkerung aus den Ghettos. Sie begann 1763 bzw. 1791 in den USA und Frankreich und erreichte zwischen 1808 und 1813 auch mehrere deutsche Staaten. In Europa kamen Griechenland und Belgien (1830), Holland (1834), Dänemark (1849), die Schweiz (1856), Großbritannien (1858), Italien (1861), das österreichische Kaiserreich (1867), Deutschland (1871) und so weiter hinzu. Mit der Emanzipation endete die ökonomische, sprachliche und soziale Isolation. Jiddisch und Hebräisch waren bis dahin die wichtigsten jüdischen Sprachen, wobei letztere weitgehend nur zum Beten verwendet wurde (ähnlich wie Latein). Die Befreiung aus der Isolation veränderte die Kommunikation: In West- und Mitteleuropa vollzog sich dieser Sprachwandel in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, in Ostdeutschland einige Jahrzehnte später, und das Jiddische verschwand völlig. Ähnliche Veränderungen vollzogen sich in Frankreich, Holland, England, Italien und den magyarischen Teilen Ungarns. Das letzte Element der bröckelnden Isolation war die Religion. Bis 1945 hielt nur ein Viertel der jüdischen Arbeiter an der Lower East Side in New York den Sabbat ein, und 60 Prozent der jüdischen Geschäfte blieben geöffnet. Bereits 1916 gehörten nur 12 Prozent der amerikanischen Juden einer Synagoge an, und das American Hebrew Magazine beklagte sich weiterhin bitter über den Nichtbesuch in New York, beschreiben Donny Gluckstein und Janey Stone die Entwicklungen in dem 2024 erschienen „The Radical Jewish Tradition“. Die „jüdische Persona“ war seit der Emanzipation im Wandel begriffen, und was sich daraus entwickeln würde, war eine offene Frage. Trotz der formalen Emanzipation war der Einfluss der Vergangenheit nicht verschwunden, ebenso wenig wie der feindliche Druck. Von den russischen Pogromen 1881 bis zum Holocaust gab es einen dramatischen und erschreckenden Aufschwung der antijüdischen Gewalt. Die Flucht war immer noch möglich, aber nicht mehr notwendigerweise von einem Ghetto in ein anderes, sondern in die weite Welt.

Der entscheidende Punkt an der Diskussion darüber, was ein Volk ausmacht, ist der: es scheint natürlich, von einem jüdischen Volk auszugehen, während der Gedanke erstens relativ jung und zweitens zurecht völlig umstritten ist. Die Zionisten und ihre Unterstützer haben die Existenz eines jüdischen Volkes als de facto Ergebnis einer Fremd- und Selbstzuschreibung eines Teils der jüdischen Bevölkerung etabliert. Aber wir sind Sozialist:innen, wir kämpfen für eine Welt ohne Grenzen, für internationale Solidarität. Wir sollten uns den mit Mitteln des Krieges geschaffenen Fakten nicht beugen und schon gar nicht das Recht eines „Volkes“ daraus ableiten, ein Territorium für sich zu beanspruchen, das von einem anderen „Volk“ bewohnt und dessen Boden von anderen Menschen bearbeitet wird. Genau das bewirken aber die ergänzenden Erläuterungen zur Arbeitsdefinition von Antisemitismus der IHRA.

Das konstruierte Volk

Theodor Herzl, der Gründervater des Zionismus, war ein konservativer Wiener Journalist. Konservativ wird hier deshalb erwähnt, weil gezeigt werden soll, wie politisch die Konstruktion eines jüdischen Volkes war. Wir kennen den Umgang mit Dissidenten in Israel, also mit jüdischen Persönlichkeiten, die Israel kritisieren: sie werden als selbsthassende Juden gebrandmarkt, die nicht mehr wirklich jüdisch seien, und deren Kritik deshalb auch nicht als jüdische Kritik an Israel zitiert werden dürfe. Schon Herzl hat genau diesen Kunstgriff angewandt, als er sich mit hoffnungsvolleren Reaktionen auf Antisemitismus als seine auseinandersetzen musste. Herzl hat 1894 über den Prozess gegen den jüdischen Offizier Dreyfus in Paris, der von einer antisemitischen Hetzjagd begleitet war, berichtet. Auf die Dreyfus-Affäre reagierte Herzl so verzweifelt, dass er meinte, Antisemitismus sei unbesiegbar und es sei auch sinnlos dagegen zu kämpfen, Juden und Jüdinnen brauchten einen separaten Staat. Aber im Gegensatz zu ihm kämpften viele Jüdinnen und Juden mit dem Sozialistenführer Jean Jaurès, der sich für Dreyfus‘ Sache einsetzte. Herzl notierte in seinem Tagebuch: „Offensichtlich ist den französischen Juden nicht zu helfen… Sie suchen Schutz bei den Sozialisten und den Zerstörern der gegenwärtigen bürgerlichen Ordnung… Fürwahr, sie sind keine Juden mehr. Sie sind ganz bestimmt auch keine Franzosen mehr. Sie sind wahrscheinlich die zukünftigen Führer des europäischen Anarchismus. Linke Jüdinnen und Juden gelten dann nicht mehr als Mitglieder des jüdischen Volks, wenn sie sich zusammen mit Nichtjuden gegen Antisemitismus stemmen, anstatt vor dem Antisemitismus zu kapitulieren und den Weg des konservativen Journalisten Herzl zu beschreiten. Wenn das kein gutes Argument gegen den jüdischen Staat ist!

Meinungs- und Redefreiheit

Die Schwächen der IHRA-Argumentation sind eklatant: Juden und Jüdinnen sind ein Volk mit einem Recht auf einen Staat, der ungeachtet der geografischen Realitäten das Recht auf ein eigenes Territorium hat, in welchem Juden und Jüdinnen die Mehrheit stellen. Aber die Vertreter dieses Staates schließen jene jüdischen Menschen von der Staatszugehörigkeit aus, wenn deren politische Haltung nicht mit der der jeweils politischen Elite konform geht. Was für ein Staat soll das sein?

Und noch wichtiger: die IHRA-Definition ist keine theoretische Übung in Begriffsdefinition, sondern wurde im politischen Umfeld eines sehr öffentlichen Konflikts geschrieben: Israel gegen die Palästinensische Bevölkerung. In diesem Konflikt wird der unterlegenen Seite nicht zugestanden, ihre Sichtweise darzustellen, ihre Hoffnungen zu artikulieren, ihre Anklage und Kritik öffentlich zu äußern. Man nehme nur die Passage, es sei antisemitisch zu behaupten: „die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.“ Aus Sicht der Palästinenser_innen ist es das ganz einfach und nach den Kriterien, die wir als antirassistische Organisation anlegen, trifft das unzweifelhaft zu. Ohne die Palästinenser:innen rassistisch abzuwerten, kann man unmöglich deren Vertreibung und die Gründung des Staates Israel rechtfertigen. Unbestreitbar war schon die Staatsgründung, und alleine die Diskussion darüber, wie viele Menschen vertrieben werden sollen, ohne die Betroffenen auch nur anzuhören, ein zutiefst rassistisches Vorgehen.
Oder das Verbot des Slogans „From the River to the Sea – Palestine will be free!“ (vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer wird Palästina frei sein) Die Palästinenser_innen haben die Hoffnung, dass eines Tages Palästina wieder frei von Besatzung sein wird – man hätte lieber, dass sie aufgeben, aber die Hoffnung lebt.

Wir sollten uns den mit Mitteln des Krieges geschaffenen Fakten nicht beugen und schon gar nicht das Recht eines „Volkes“ daraus ableiten, ein Territorium für sich zu beanspruchen, das von einem anderen „Volk“ bewohnt und dessen Boden von anderen Menschen bearbeitet wird.

Egal, was Unterstützer Israels davon halten, es muss möglich sein, diese Hoffnungen oder Einschätzung des politischen Charakters des israelischen Staates öffentlich zu äußern. Es liegt nicht in der direkten Verantwortung des Autors der IHRA-Antisemitismusdefinition, was aus ihr gemacht wurde. Kenneth Stern hat sich kürzlich bei einer Anhörung im US-Kongress deutlich dagegen verwehrt: Sie „wurde nicht als Instrument entworfen und war auch nie dazu gedacht, die Meinungsäußerung auf einem College-Campus zu unterbinden,“ so Stern. „Keiner von uns hat damit gerechnet, dass es als so stumpfes Instrument zur Unterdrückung pro-palästinensischer Äußerungen eingesetzt werden würde.“ Aber tatsächlich haben hunderte Menschen ihre Arbeitsplätze an US-Universitäten verloren, werden Vorlesungen an der UNI-Wien vom Rektor untersagt, und kommen in Österreich Menschen vor Gericht, weil die IHRA-Definition von den Regierungen und internationalen Instituten so missbräuchlich eingesetzt wird. Um das wieder zurechtzurücken wird es einiges an politischer Courage und Durchhaltevermögen brauchen.