Erklärung der Internationalen Sozialistischen Strömung zum Sturz des Assad-Regimes in Syrien

Erklärung der Internationalen Sozialistischen Strömung zum Sturz des Assad-Regimes in Syrien
16. Dezember 2024 |

1. Wir begrüßen den Sturz des Regimes von Bashar al-Assad in Syrien. Wir beglückwünschen die syrische Bevölkerung zur endgültigen Niederlage einer Diktatur, die sie über 50 Jahre lang brutal beherrscht, Hunderttausende von Menschen getötet, Millionen verarmt und vertrieben und das Land zerstört hat. Die demokratische Massenrevolution vom März 2011 hat am Ende recht behalten.

2. Das syrische Volk ist eine unendlich schwere Last losgeworden. Der Sturz Assads ist eine Chance für sie, unabhängig von Religion oder ethnischer Zugehörigkeit ein neues, freies und unabhängiges Syrien auf den Ruinen dieser mörderischen Diktatur aufzubauen.

3. Das Regime reagierte auf die Revolution mit der Entfesselung eines schrecklichen Krieges, der Syrien im vergangenen Jahrzehnt verwüstet hat. Mit Hilfe seiner Verbündeten, Russland, Iran und der Hisbollah, gelang es Assad, die revolutionären Kräfte militärisch zu zerstören. Dennoch wurde das Regime im Laufe der Zeit durch den Widerstand der Bevölkerung so sehr geschwächt, dass niemand mehr bereit war, es zu verteidigen, als Hay’at Tahrir al-Scham (HTS) seine Offensive startete.

4. Der Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Regimes wurde durch sich überschneidende interne und externe Faktoren bestimmt. Dazu gehörten Russlands Ablenkung durch den Angriffskrieg auf die Ukraine, die Schwächung des Irans und der Hisbollah durch die israelische Offensive seit September, die Weigerung des Regimes, die Beziehungen zur Türkei zu normalisieren, seine Ablehnung einer politischen Verhandlungslösung, sowie der Verfall und Zusammenbruch seiner Institutionen, insbesondere der Armee.

5. Der Vormarsch der HTS und anderer oppositioneller Milizen wäre ohne die Zustimmung und Unterstützung der Türkei nicht möglich gewesen. Größere Konfrontationen mit den Truppen des Regimes waren selten, und die Städte fielen außergewöhnlich schnell. Damaskus wurde nur 12 Tage nach Beginn der Offensive eingenommen. Die Streitkräfte des Regimes, darunter einfache Soldaten und junge Offiziere, weigerten sich, die Stadt mit Waffen zu verteidigen. Die Truppen desertierten und kehrten in ihre Dörfer und Städte zurück. Als die Masse der Bevölkerung begriff, dass sich die Truppen des Assad-Regimes zurückzogen, strömte sie auf die Straßen und forderte in Sprechchören den endgültigen Sturz des Regimes und Befreiung. Erst nach diesen Ereignissen zogen die Kräfte der HTS durch die Städte.

6. Der Krieg hatte es ausländischen Mächten bereits ermöglicht, sich Einflussbereiche in Syrien zu schaffen. Das geht trotz der Flucht der Assad-Dynastie weiter. Die Türkei hat nun den dominierenden Einfluss. Obwohl die Vereinigten Staaten und Israel es wahrscheinlich vorgezogen hätten, ein geschwächtes Assad-Regime in Damaskus zu behalten, sehen sie dessen Sturz als Teil eines Prozesses der „Neuordnung des Nahen Ostens“, der mit der Offensive gegen den Libanon begonnen hat. Israel hat nach Assads Sturz massive Bombardements durchgeführt um die militärischen Kapazitäten Syriens zu zerstören, seine Kontrolle über die Golanhöhen gefestigt und neue Gebiete besetzt. Israel verfolgt das Ziel, Syrien, mit dem es drei Kriege geführt hat, zu einem entmilitarisierten Staat zu machen, unabhängig von seiner künftigen Regierungsform. Auch die USA haben bereits zahlreiche Luftangriffe durchgeführt und unterhalten eine eigene Enklave in Syrien. All das sind große Bedrohungen für die neue Freiheit des syrischen Volkes.

7. Die HTS kontrolliert nun die Regierung in Damaskus. Es handelte sich um eine dschihadistische Organisation, die zwar diszipliniert und effektiv ist, aber in Idlib eine repressive und gesellschaftlich konservative Politik verfolgt. Sie hat kaum eine soziale Basis und wird sich bemühen, ein Gleichgewicht zwischen ihren eigenen Ambitionen und den Interessen der rivalisierenden politischen Kräfte in Syrien und den Forderungen der ausländischen Mächte herzustellen. Dies ist ein Rezept für weitere Instabilität und Konflikte.

8. Wir unterstützen alle Aktionen, die darauf abzielen, die Möglichkeiten der Organisierung der Arbeiterklasse und der breiteren Massen gegen den syrischen Kapitalismus und gegen die imperialistischen und regionalen Räuberbanden zu vergrößern und zu stärken. Wir unterstützen die Forderungen unserer Genoss:innen, der Revolutionären Linken Strömung, für den raschen Aufbau eines demokratischen Syriens:

  1. Schutz der öffentlichen und individuellen Freiheiten: Die Freiheiten, die sich die Syrer:innen unter großen Opfern erkämpft haben, müssen gewahrt werden. Wir fordern die Belebung politischer, gewerkschaftlicher und sozialer Aktivitäten sowie die Freiheit, Parteien, Vereinigungen und Gewerkschaften zu gründen und zu betreiben. Auch die Meinungs-, Medien-, Organisations- und Protestfreiheit muss hergestellt werden.
  2. Eine inklusive Übergangsregierung: Eine solche Regierung muss diese Freiheiten gewährleisten und schützen, den Bürger:innen Sicherheit bieten, Sektierertum und Rassismus zurückweisen und den Militär- und Sicherheitsapparat so umstrukturieren, dass er sich ausschließlich auf den Schutz der nationalen Souveränität und der Grenzen konzentriert. Diese Übergangsregierung wird zwei Hauptaufgaben haben:
    1. Vorbereitung der Bedingungen für die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung, die eine neue demokratische Verfassung ausarbeiten soll.
    2. Organisation von freien und fairen Parlamentswahlen auf der Grundlage des Verhältniswahlrechts.
  3. Linken und demokratische Bewegungen in Syrien vereinen: Die syrischen Massen sind begierig auf alle Formen des Aktivismus und lehnen sowohl eine Rückkehr zum alten Regime als auch ein neues sektiererisches autoritäres System ab. Die Linke muss sich an diesem Kampf beteiligen und ihre Bemühungen zum Wohle der Arbeiterklasse und aller Syrer:innen koordinieren, um ein demokratisches, nicht-sektiererisches System aufzubauen, das soziale Gerechtigkeit und Gleichheit gewährleisten kann.
  4. Beendigung aller ausländischen Okkupationen: Arbeitet an der Ausweisung aller ausländischen Streitkräfte aus Syrien und an der Befreiung der besetzten Gebiete, einschließlich der Golanhöhen.
  5. Widerstand gegen die israelische Besatzung: Widerstand gegen die anhaltenden Aggressionen Israels und Bekräftigung der revolutionären und prinzipiellen Unterstützung für die palästinensischen Anliegen.

9. Die Türkei muss alle ihre militärischen Operationen, ihre militärische Präsenz und ihre Politik in Syrien beenden, die Spannungen und Konflikte zwischen den syrischen Oppositionskräften und der kurdischen Opposition in Syrien hervorrufen. Ein Konflikt zwischen Kurd:innen und anderen Bevölkerungsgruppen in Syrien könnte zu einem weiteren Bürgerkrieg führen und zu einem schweren Angriff auf das Existenz- und Lebensrecht des kurdischen Volkes in Syrien werden. Es müssen Bedingungen geschaffen werden, unter denen das kurdische Volk, wie alle Völker Syriens, frei über sein eigenes Schicksal bestimmen kann, und die Türkei darf sich nicht in diese Entwicklungen einmischen.

10. Mainstream-Politiker und die extreme Rechte in Europa und der Türkei haben auf den Sturz Assads mit der Forderung reagiert, syrische Flüchtlinge nach Hause zu schicken. Österreich hat Pläne zur Abschiebung von Syrer:innen angekündigt, während auch Belgien, Großbritannien, Frankreich, Griechenland und Deutschland Asylanträge von Syrer:innen aussetzen. Syrische Geflüchtete sind Opfer der Unterdrückung durch Assad und des Rassismus gegen Migrant:innen. Sie haben das Recht, in ihre Heimat zurückzukehren, wenn sie es wollen, und sie haben auch das Recht, in den Ländern zu bleiben, in denen sie sich ein neues Leben aufgebaut haben. Es ist verachtenswert, dass ein großer demokratischer Sieg für noch mehr rassistische Sündenbockpolitik benutzt wird. Wir heißen Migrant:innen und Flüchtlinge willkommen und lehnen jegliche Einwanderungskontrollen ab.

Die Koordination der Internationalen Sozialistischen Strömung

(International Socialist Tendency – IST)