Als die Zivilbevölkerung im Krieg gegen die Habsburger rebellierte

Der erste Weltkrieg führte zu einer drastischen Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiter_innenklasse. Millionen Männer dienten an der Front als Kanonenfutter, während Frauen und Kinder zu Hungerlöhnen Schwerstarbeit verrichten mussten. In den Großstädten brach die Lebensmittelversorgung zusammen. Den Reichen und Mächtigen hingegen gelang es, aus dem Krieg Profite zu schlagen. Dies führte zu einer historisch einzigartigen Radikalisierung der Arbeiter_innenbewegung, welche die Geschichte Europas für immer veränderte.
24. April 2018 |

Die ersten zwei Kriegsjahre waren von einer relativen Passivität der Arbeiter_innenbewegung geprägt. Während es laut den offiziellen Streikstatistiken für die österreichische Reichshälfte der k.u.k. Monarchie im Jahr 1913 noch zu 438 Streiks mit insgesamt 39.814 Beteiligten kam, sank die Zahl im Jahr 1915 auf einen Tiefpunkt von 39 Streiks mit gerade einmal 7.951 Beteiligten. Auch das Jahr 1916 war von einer defensiven Haltung der Arbeiter_innenbewegung geprägt, obwohl die ökonomischen Auswirkungen des Krieges in diesem Jahr mit dem sogenannten „Hungerwinter 1916“ spürbar wurden. Insgesamt kam es zu 41 Streiks mit 14.841 Beteiligten.

Im Kontrast zu der relativen Ruhe in den Betrieben gingen die Frauen gegen die miserable Ernährungssituation auf die Straßen. Schon im Mai 1915 kam es zu ersten Plünderungen von Lebensmittelgeschäften und Protestaktionen vor Ämtern. Die ersten größeren Hungerkrawalle fanden am 11. Mai 1916 statt, ausgehend von Wien sprangen sie auf den Rest des Reiches über. Angeführt wurden diese Proteste von Frauen, die einen „politischen Risikofaktor“ darstellten, so ein Polizeibericht. Auch die von der Regierung verhängten Ausgangsperren führten nicht zu einer Beruhigung der Lage. Ende des Jahres 1916 griffen die Lebensmittelunruhen langsam auf die Betriebe über. Die Forderung nach einer besseren Lebensmittelversorgung wurde bei 70% aller Streiks ab 1916 erhoben.

Defensivität der Arbeiter

Eine Kombination aus drei Faktoren führte zu dieser Passivität der Arbeiter_innenbewegung in den Betrieben während der ersten Kriegsjahre. Erstens die Zustimmung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) zum Ersten Weltkrieg – die sogenannte „Burgfriedenspolitik“. Die SDAP stellte sich nicht aktiv gegen die Interessen des Kaiserreiches und der Kapitalisten, weshalb die Arbeiter_innenklasse sich von ihrer Partei im Stich gelassen fühlte.

Zweitens verschärfte der Eintritt in den Ersten Weltkrieg eine seit 1912 bestehende ökonomische Depression. Praktisch der gesamte Außenhandel brach durch den Krieg zusammen. Zwischen dem 1. August und dem 1. Oktober 1914 wurden mehr als 15.000 Betriebe geschlossen und in weiteren 7.000 wurde die Produktion zurückgefahren. Das führte zu weit über 200.000 Entlassungen. In den nicht kriegswichtigen Industrien, wie beispielsweise Porzellan und Textilproduktion, explodierte die Arbeitslosigkeit. Mehr als 2 Millionen Menschen wurden zum Militär gezwungen, die Zusammensetzung der Arbeiter_innenklasse veränderte sich drastisch. Frauen, Jugendliche und Kinder wurden vermehrt in die Produktion eingezogen, der Grad an gewerkschaftlicher Organisierung ging zurück.

Gewaltsame Unterdrückung

Der dritte ausschlaggebende Faktor war die Verschärfung der Repression. Durch das sogenannte „Kriegsleistungsgesetz“ wurde die gesamte wirtschaftliche Produktion unter Militärkontrolle gestellt. Durch dieses Gesetz wurden Streiks mit Strafandrohung von bis zu drei Jahren verboten und in den Betrieben wurde eine eiserne militärische Disziplin eingeführt.

Arbeiter_innendemonstration auf dem Weg zum Heldenplatz im November 1918. Foto:  Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung

 

Die Passivität lag keinesfalls an einer Zustimmung der Arbeiter_innen zum Krieg, obwohl manche Reaktionäre noch meinten, dass die Arbeiter_innen aus Liebe zum Kaiserreich und aus nationalen Gefühlen in den ersten Jahren ruhig blieben. Insbesondere dem Industrieproletariat war der Krieg verhasst, sie litten am stärksten unter dem „Kriegsleistungsgesetz“ und sahen, wie von ihnen erkämpfte Fortschritte, wie das Verbot der Kinderarbeit, wieder aufgehoben wurden.

Ernährungssituation

Das Habsburgerreich beruhte auf einer industrialisierten österreichischen Reichshälfte und einer ökonomisch rückständigeren, von Agrarproduktion geprägten ungarischen Reichshälfte. In Friedenszeiten funktionierte das Konzept: die österreichische Reichshälfte exportierte Industrieprodukte und importierte Lebensmittel aus Ungarn. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges kollabierte diese Strategie. 1917 kamen die Lieferungen von Lebensmitteln zum Erliegen. Gerade einmal 2,5% der Vorkriegsmenge an Mehl und Getreide wurden noch aus Ungarn nach Österreich geliefert.

Der Ökonom und im Jahr 1917 Staatssekretär für Volksernährung, Löwenfeld-Russ, stellt in seinem Buch über Die Regelung der Volksernährung im Kriege fest: „Während die Monarchie nach außen als ein ganzes Krieg führte, mangelte im Inneren die unentbehrliche, einheitliche Organisation: Beide Staaten wirtschafteten unabhängig nebeneinander, und zwischen ihnen wie ein dritter Staat im Staat, die Heeresverwaltung.“

Schlafentzug

Die Konsequenzen aus diesem Versagen waren Krankheit, Hunger und Schlange stehen. Der Psychiater Viktor Frankl erinnert sich, wie er als Kind morgens von 2 Uhr bis 7 Uhr vor Lebensmittelgeschäften stand, und dann seine Mutter den Platz in der Schlange übernahm. Frauen aus der Arbeiter_innenklasse mussten sich zur Nachtarbeit melden, damit sie tagsüber für Essen anstehen konnten.

Emmy Freundlich schätzt in ihrem Buch Die Frauenarbeit im Kriege, dass Arbeiter_innen über Monate hinweg nicht mehr als 2 bis 3 Stunden Schlaf pro Tag erhielten. Durch die chronische Übermüdung kam es vermehrt zu Arbeitsunfällen. Das Kapital nutzte die Zwangslage der Frauen aus. Während Männer in der Metallverarbeitung zwischen 42 und 54 Heller pro Stunde verdienten, waren es bei Frauen nur 20 bis 30. Bedingt durch die Unterernährung griffen Infektionskrankheiten um sich, die „spanische Grippe“ kostete mehr als 4.000 Wiener_innen das Leben.

Gegenwehr

Das unfassbare Elend der Arbeiter_innenklasse machte Gegenwehr zu einer Frage des Überlebens. Die russische Februarrevolution 1917 und der Sturz des Zaren inspirierten die österreichische Arbeiter_innenbewegung. Während die SDAP in den Jahren 1915/16 auf die Abhaltung der traditionellen Demonstrationen am 1. Mai verzichtet hatte, legten die Arbeiter_innen am 1. Mai 1917 selbständig die Arbeit nieder. In den folgenden Monaten streikten an die 200.000 Arbeiter_innen gegen die Zumutungen der Kriegsindustrie.

Plakat der Kommunistischen Partei während der Nationalratswahlen 1920. Foto: DÖW

Während Streiks in den Jahren 1914-16 oft nur wenige Stunden, vielleicht einen Tag dauerten, betrug 1917 die durchschnittliche Dauer schon fünf Tage. Die Arbeiter_innenbewegung kam zunehmend in eine offensive Position. Hans Hautmann stellte in seiner Doktorarbeit Geschichte der Rätebewegung 1918-1924 fest, dass weit über 80% der Streiks im Jahre 1917 mit vollen oder teilweisen Erfolgen endeten. Das bedeutendste Element der Streikwellen des Jahres 1917 war aber die Entstehung von „Fabriksausschüssen“ oder „Arbeiterausschüssen“. Arbeiter_innen wählten im Zuge von Streiks Delegierte, welche für die Koordinierung und Ausformulierung der Streiks zuständig waren.

Diese „Fabriksausschüsse“ entstanden spontan und ohne Zutun der SDAP und der Gewerkschaften. Im Gegensatz zu den im Zuge des Jännerstreiks entstehenden Arbeiter_innenräten waren die „Fabriksausschüsse“ nur vereinzelt vorhanden und konzentrierten sich ausschließlich auf ökonomische Forderungen. Die Ausweitung des Klassenkampfes auf politisches Gebiet, beispielsweise durch die Forderung nach Beendigung des Krieges, kam erst 1918.

Rätebewegung

Der Jännerstreik 1918 war der erste Höhepunkt mehrerer revolutionärer Wellen, die Österreich zwischen 1917 und 1920 erschütterten. Er führte zur Entstehung von Arbeiter_innenräten in der gesamten Monarchie. Die Räte verschwanden nach dem Abklingen des Jännerstreiks nicht einfach, um dann – wie es im November 1918 mit den Räten in Deutschland der Fall war – wieder aufzutauchen, sondern blieben bestehen und weiteten ihre Macht zunehmend aus. Im Juni 1918 kam es zu einer erneuten Streikwelle gegen die Verminderung der Brot- und Mehlrationen. Diese Streikwelle wurde von den Räten mitgeprägt.

Der Linzer Arbeiter_innenrat versuchte die Kontrolle über die Lebensmittelversorgung zu übernehmen und der Rat in Donawitz setzte Betriebsdirektoren ab. Die Existenz von Arbeiter_innenräten innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung über einen längeren Zeitraum, von Jänner 1918 bis zum Dezember 1924, war eine österreichische Besonderheit. In Deutschland wurden die Räte im Zuge der Januarkämpfe 1919 zuerst zusammengeschossen und später aufgelöst, in Russland gelangten sie über die Oktoberrevolution an die Macht.

Die Grundlage der österreichischen Räte war ein fortwährendes Spannungsverhältnis. Einerseits waren sie Ausdruck einer revolutionären Begeisterung der Arbeiter_innenklasse, andererseits versuchten die SDAP und die bürgerlichen Parteien, sie in die bestehende kapitalistische Gesellschaftsordnung einzubinden. (Dazu mehr in der nächsten Ausgabe.) Die ökonomischen Streiks und die „Fabriksausschüsse“ von 1917 waren die Vorboten einer in der österreichischen Geschichte einzigartigen Zuspitzung des Klassenkampfes.

Am Antikapitalistischem Kongress Marx is Muss spricht Manfred Ecker (Redaktion Linkswende jetzt) über die vergessene Österreichische Revolution von 1918. Wann: 4.-6. Mai. Wo: Amerlinghaus, Stiftgasse 8, 1070 Wien. Weitere Informationen auf marxismuss.at