Am Beispiel Jeremy Corbyn – Babler muss offensiv bleiben
September 2015: Im Londoner Hyde Park versammeln sich Hunderte von Menschen auf einer Demonstration für Flüchtling um ein Radio. Sie warten gespannt auf die Verlautbarung, ob Jeremy Corbyn zum neuen Vorsitzenden der britischen Labour-Partei gewählt worden ist. Der unglaubliche Enthusiasmus, der sich ausbreitet, als bekannt wird, dass Corbyn gewonnen hat, geht weit über den Hyde Park hinaus.
In den nächsten Monaten strömen rund 300.000 Menschen in die Labour-Partei, inspiriert von Corbyn. Corbyn war ein angesehener Antikriegs- und Anti-Atomkraft-Aktivist mit einer soliden Bilanz als Anti-Rassismus-Aktivist und langjähriger Unterstützer der Rechte der Palästinenser. Er war im Norden Londons in dem Gebiet, das er im Parlament vertritt, regelmäßig bei allen Streikposten präsent. Er war ein Freund des altgedienten Linken Tony Benn, dem Führer der Linken in der Labour Party in den 1980er Jahren.
Corbyns Höhenflug
Benn war ein Kritiker der EU, die er als „Club der Bosse“ bezeichnete. Endlich kam Hoffnung auf, dass die Labour-Partei mit Corbyn an der Spitze eine Partei sein würde, die Austerität, Neoliberalismus, Krieg und Rassismus eher ablehnt als akzeptiert. Der Höhepunkt des Corbynismus war die Parlamentswahl 2017, bei der Labour ein Programm zur Beendigung der Austerität, zur Umverteilung des Reichtums und zur Verstaatlichung privatisierter Dienstleistungen und Industrien vorstellte. Die Stimmen für Labour stiegen um 3,5 Millionen, ein Nachkriegsrekord und genug, um die Mehrheit der Tories im Parlament zu brechen. Doch leider war das „Corbyn-Experiment“ nicht von Dauer. Eine zweite Parlamentswahl im Jahr 2019 wurde für Labour zum Desaster. Corbyn trat als Vorsitzender zurück. Wie ist das zu erklären? Die vorherrschende Antwort ist, das sei der Beweis, dass linke Ideen nicht populär sind, ist inkohärent: Sie kann das Jahr 2017 nicht erklären.
Wenn die in Griechenland gewählte Syriza-Regierung, die ein ähnliches Programm wie Corbyn verfolgt hatte, bei ihrer Regierungsbildung von der Macht des Kapitals zerschlagen wurde, so wurde Corbyn von Kräften innerhalb der Labour-Partei zerstört. Die alte Garde der Labour-Partei, die Abgeordneten des rechten Flügels und der Parteiapparat, standen Corbyn von Anfang an feindselig gegenüber. Sie versuchten ihn 2016 durch einen „Putsch“ als Parteichef zu stürzen. Als sie scheiterten, versuchten sie ihn zu untergraben.
Die Linke braucht eine Anti Nato-Position
Die Labour-Rechte führte einen Zermürbungskrieg, der von den Massenmedien ständig verstärkt wurde. Die Beendigung der Sparmaßnahmen und der Renationalisierung war (und ist) populär, also erfolgte der Angriff an anderen Fronten. Corbyn wurde als weich in Bezug auf „nationale Verteidigung“ und Terrorismus dargestellt. Er wurde als weich in Bezug auf Antisemitismus angegriffen. Und er wurde angegriffen, weil er das Ergebnis des Brexit-Referendums nicht ablehnte. Fatalerweise zog sich Corbyn nach und nach an allen Fronten zurück.
Er ließ jede Forderung nach einem Austritt Großbritanniens aus der NATO fallen und akzeptierte dann, dass das britische Atomwaffenprogramm Trident (zu enormen Kosten) erneuert werden sollte. Die Behauptung, dass sich unter seiner Führung Antisemitismus in der Labour-Partei breit gemacht habe, wurde von ihm immer wieder eingeräumt, anstatt sie zu widerlegen. Die Partei nahm eine Definition von Antisemitismus an, die ihn mit der Bezeichnung Israels als „rassistisches Unterfangen“ gleichsetzt. Am verhängnisvollsten war jedoch, dass die Unterstützung für den Brexit 2017 fallen gelassen wurde. Anstelle ihrer früheren Forderung nach einem „Volks-Brexit“, der eine Abkehr von Austerität und Neoliberalismus beinhalten würde, ging Labour mit der Forderung nach einem zweiten Referendum über die EU-Mitgliedschaft in die Wahl 2019. Dies fühlte sich bei den vielen Labour-Wählern aus der Arbeiterklasse, die den EU-Austritt als Anti-Establishment-Stimme unterstützt hatten, an wie Verrat.
Diese Kehrtwende ermöglichte es Boris Johnson und den Tories, Labour zu überflügeln. Aber warum hat Corbyn diese Zugeständnisse gemacht, und gab es eine Alternative? Die Achillesferse der Labour-Linken war ihr Wunsch, die Einheit mit ihren rechten Feinden in der Partei zu wahren. Anstatt sich ihnen entgegenzustellen und sie zu vertreiben, folgten Rückzug um Rückzug. Das demoralisierte Corbyns Anhänger und untergrub seine radikale Anziehungskraft auf die Wähler.
Zugeständnisse führen in die Niederlage
Corbyn und sein Umfeld befürchteten, dass sie durch eine Spaltung der Partei die Wahl verlieren würden, also hielten sie sich zurück, wurden schwächer – und verloren die Wahl trotzdem. Die Alternative war die Massenmobilisierung von Corbyns Anhängern, nicht nur in den internen Kämpfen innerhalb der Labour Party, sondern vor allem auf der Straße und am Arbeitsplatz. Eine ernsthafte Gegenwehr hätte das Vertrauen der Arbeiterklasse gefestigt und die Linke und Corbyn gestärkt. Stattdessen geschah das Gegenteil: Aktivisten, die Bewegungen gegen Krieg, Klimawandel und Sparmaßnahmen ins Leben gerufen hatten, wurden in die Labour Party hineingezogen. Nicht Kampf, sondern die Wahlen standen im Mittelpunkt. Heute bewegt sich die Labour-Partei unter ihrem neuen Vorsitzenden Keir Starmer rasch nach rechts. Starmer hat Corbyn aus der parlamentarischen Labour-Partei geworfen und erklärt, er könne nicht mehr für Labour kandidieren. Die Linke braucht eine neue Strategie, die auf Massenkämpfen und einer Strategie ohne Zugeständnisse an rechte Ideen beruht.