Amerlinghaus: Gallisches Dorf trotzt der Boboisierung
In den 60er- und 70er-Jahren hatte der Wiener Spittelberg einen ganz anderen Ruf als heute. Während er heute als hip, cool und als Bobo-Wohngebiet gilt, war es früher ein proletarisch-migrantisch geprägter Stadtteil. Die Stadtregierung wollte ihn Anfang der 70er-Jahre komplett niederreißen und an die Stelle der alten, allmählich verfallenden Häuser moderne Bürogebäude bauen. Das ging mit der gezielten Vertreibung der ehemaligen Bewohner_innen des Spittelberges einher. Die Baupolizei kündigte die Verträge der Mieter_innen mit der Begründung, die Häuser seien zu baufällig. Eine Renovierung des Viertels stand nicht zur Diskussion, obwohl das viele unterstützt hätten.
IG Spittelberg
Dagegen gab es Widerstand. Architekt_innen gründete die IG (Interessensgemeinschaft) Spittelberg. Diese setzen sich anfangs primär für den Erhalt der historischen Häuser ein. Doch im Laufe der Zeit kam die IG zunehmend mit den Bewohner_innen des Spittelberges in Kontakt und solidarisierte sich mit ihnen gegen die Vertreibung und gegen Mieterhöhungen. Gemeinsam mit Künstler_innen, Studierenden und lokalen Bewohner_innen mobilisierte die IG gegen den Abriss und die Aufwertung des Viertels. 1973 konnten sie einen ersten Teilerfolg feiern, als weite Teile des Spittelberges unter Denkmalschutz gestellt wurden.
Der politischen Rechten ist das Amerlinghaus nach wie vor ein Dorn im Auge
Besetzung
Das Amerlinghaus wurde zum Kristallisationspunkt des Widerstandes. Schon länger wurde über seine Besetzung und die Schaffung eines selbstverwalteten Kulturzentrum diskutiert. Bereits 1973 wurden mehrtägige Feste und Kulturveranstaltungen organisiert und Mitte 1975 schritt man dann zur Tat: Aktivist_innen organisierten ein viertägiges Fest im Amerlinghaus. Das Fest war ein voller Erfolg, mehr als 3.000 Menschen besuchten es. Am dritten Tag wurde das Amerlinghaus dann besetzt. Die Leute weigerten sich den Schlüssel zurückzugeben und das Haus zu verlassen. Eine Resolution wurde aufgesetzt, in der nochmals die Einrichtung eines selbstverwalteten Kulturzentrums gefordert wurde. Schlafplätze und ein Café wurden eingerichtet.
Der Zeitpunkt der Besetzung war geschickt gewählt. Zuerst wollte die Stadt das Amerlinghaus mit der Begründung räumen lassen, dass es baufällig und einsturzgefährdet sei. Doch nachdem die Stadt zuvor ein Fest in denselben Räumen genehmigt hatte, war das Argument mehr als unglaubwürdig. Die Besetzer_innen organisierten eine demokratische Selbstverwaltung und sorgten für ausreichend Unterhaltung.
Im Oktober 1975 räumten sie das Haus, die Baugesellschaft Gesiba musste es renovieren. Nach zähen Verhandlungen mit der Stadt trugen die Besetzer_innen einen Sieg davon. Am 1. April 1978 wurde das Amerlinghaus als selbstverwaltetes und von der Gemeinde finanziertes Kulturzentrum eröffnet.
Zweite Besetzung
Das von den Besetzer_innen eingerichtete Café war nicht auf Profit ausgerichtet. Es funktionierte nach dem Konzept: Jeder bringt was er will, und jeder nimmt sich was er will. Der Stadtverwaltung gefiel dieses Konzept gar nicht. Deshalb half sie dem Gastronomen Andreas Friesz sich einzumieten und dort ein eigenes Café aufzubauen.
Dagegen protestierten jüngere Aktivist_innen mit einer zweiten Besetzung 1980. Sie sahen, dass der Einkauf eines gewinnorientierten Cafés die ursprünglichen Ansprüche des Amerlinghauses untergraben würde; außerdem forderten sie, dass das Amerlinghaus durchgehend geöffnet sein sollte. Es kam zu langen Diskussionen zwischen ersten und zweiten Besetzer_innen, die aber im Wesentlichen ohne Ergebnis blieben. Nach wenigen Wochen wurde die zweite Besetzung beendet. Die Aktivist_innen verschwanden jedoch nicht von der Bildfläche, sondern engagierten sich im Kampf für die Rasenbenutzung im Burggarten und etwa ein Jahr später besetzten sie ein Haus in der Gassergasse.
Aktivist_innen protestierten gegen das Amerlingbeisl mit einer zweiten Besetzung
Trotz der finanziellen Aufwertung des Viertels und trotz des „Einnistens“ des Cafés „Amerlingbeisl“ in die ehemaligen besetzten Räume hat sich das Amerlinghaus seinen widerständigen Charakter bis heute bewahrt. Lisa Grösel, Mitarbeiterin des Hauses, beschrieb es passend: „Das Kulturzentrum ist in dieser Umgebung so etwas wie das gallische Dorf aus den Asterix-Bänden.“ Für Gruppen, Vereine oder Projekte, für die sonst nirgendwo in der Stadt Platz ist, ist im Amerlinghaus immer Platz.
Genau deshalb ist es der politischen Rechten nach wie vor ein Dorn im Auge. In regelmäßigen Abständen echauffieren sich FPÖ- und ÖVP-Politiker über die „linksradikalen Umtriebe“. Vielleicht ist das der Grund, warum die Stadtregierung Jahr für Jahr damit droht dem Haus die Lebensgrundlage zu entziehen.