Athena: Der Nihilismus im Aufstand
Die Handlung des Films ist schnell erzählt und orientiert sich an den Aufständen gegen Polizeigewalt der vergangenen Jahrzehnte. Ein junger Mann wird von der Polizei erschossen. Die Mörder werden gedeckt, daraufhin greifen Jugendliche aus seinem Viertel Athena die Polizeistation an. Erinnerungen an die brennende Polizeistation in Minneapolis nach der Ermordung von George Floyd drängen sich auf. Nach dem erfolgreichen Angriff auf die Polizeistation verbarrikadieren sich die Jugendlichen in ihrem Viertel. Mit Molotowcocktails, Feuerwerkskörper und im Notfall mit bloßen Fäusten und Tritten wird die Polizei angegriffen. Die Aufständischen wechseln zwischen Angst, Hass, Zerstörungswut, Begeisterung, Übermut alles überschattet von ihrem Nihilismus. Jeder weiß hier wird nicht für ein besseres Morgen sondern gegen die Unerträglichkeit des Jetzt gekämpft.
Aufstand statt Plenum
Politische Forderungen, basisdemokratische Plena, Treffen mit dem Bürgermeister, Medieninterviews, Utopien; all diese Kommunikationsstrategien, die für moderne linke Aktivist_innen Protest ausmachen, fehlen völlig. Taten, nicht Worte, sind die Sprache des Aufstandes, ist die unmissverständliche Botschaft des Films.
Die Weigerung des Films an das Nein gegen die jetzige Ordnung, das Ja zu einer anderen anzuschließen, ist eine große Stärke. Am Ende bleibt der Konsument verstört zurück: War der Aufstand richtig, war die Gewalt legitim, die Gefährdung der eigenen Eltern und Freunde hinzunehmen? Ist der Hass auf die Polizei jugendlicher Übermut oder Produkt rassistischer Erfahrung? Will der Film zum Aufstand animieren oder davor warnen, diese Frage können sich die Zuseher_innen nur selbst beantworten. In der Fokussierung auf die Revolte als reinen Akt der Körper, ohne sich um politische Legitimationen zu scheren, erinnert Athena an den grandiosen Film Joker. Ähnlich wie Athena wurden die Joker-Masken in den Massenaufständen vom Libanon über Irak bis Chile 2019 zum Symbol der Verweigerung.
Kunst soll entsetzen
„Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings so viel wie möglich in die Menge zu schießen. Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen – der gehört eindeutig selbst in die Menge und hat den Wanst ständig in Schußhöhe“, spöttelte der linksradikale Schriftsteller Andre Breton im zweiten Manifest des Surrealismus.
Breton brachte mit diesem Zitat zum Ausdruck, worum es guter Kunst auch gehen muss. Weder durch hübsche Gedichte oder gelungene Naturmalerei die trostlose Wirklichkeit veredeln, noch sich als bessere Politik aufzuspielen und nach Antworten für die Probleme unserer Zeit suchen. Viel eher war Kunst für Breton der manisch-wütende kleine Bruder der Politik, der tun darf, was in der Politik fehl am Platz ist: Verstören, entsetzen, verklären, verwirren, verborgene Begierden offenlegen, Angst einflössen oder die Realität in die Luft sprengen. Offensichtlich ist Athena kein surrealistisch motivierter Film, dafür ist die Handlung zu real. Trotzdem gelingt dem Film, worauf der Surrealismus abzielte: Keine bloße Realitätsbeschreibung und keine Glorifizierung des Lebens in der Unterschicht, wie es im HipHop gelegentlich vorkommt, sondern Angriff auf die Gesellschaft.
Liberale Hassen den Film
Das Ziel die gute Gesellschaft zu entsetzen hat Athena ohne Frage erreicht. Der liberale Mainstream findet den Film widerlich. Stefan Weiss echauffierte sich im Standard über die Gewaltverherrlichung und die Heroisierung der aufständischen Massen. Ähnlich entsetzt zeigte sich das Wochen-Magazin Weekend „Netflix muss sich hier auch den Vorwurf gefallen lassen, dass Action und Drama mit brandheißen sozialen Themen verknüpft wird“. Genauso negativ waren die Reaktionen im Guardian oder der New York Times. Alle sind sich einig, technisch ist der Film gelungen, die Kameraführung mitreisend, der Sound brillant und die Actionszene gelungen, aber die Art und Weise wie der Film das brisante Thema behandelt, ist unproduktiv.
Was sich diese vorbildlichen Mitglieder unserer Gesellschaft wünschen, wäre ein Film, der ihnen erklärt, woher die Wut kommt. Am besten, indem er die Lösungen für die Wut am Silbertablett serviert. Wir haben Problem mit Rassismus bei der Polizei, es braucht mehr migrantische Polizisten oder noch besser eine Community Polizei. Es gibt zu wenig Arbeitsplätze, wir brauchen staatliche Ausbildungsstellen. Die Jugendlichen wissen nichts mit ihrer Zeit anzufangen und dealen mit Drogen, wir brauchen mehr Sozialarbeiter. Ein Film, welcher Riots in solch einer Art und Weise verdaulich macht, würde ohne Zweifel die Feuilletons mit wohlmeinenden Rezensionen überschwemmen. Gleichzeitig wäre er todlangweilig und zum Aufstand würde er ganz sicher niemanden inspirieren.
Vergesst die Utopien
Die Philosophin Donatella Di Cesare stellt in ihrem lesenswerten Buch Die Zeit der Revolte die Frage: „Was eint die Revolten des 21. Jahrhunderts?“. „Während die Aufständischen von 1848 die Freiheit und die Republik anvisierten, während die Revolutionäre von 1917 vom Ideal des Kommunismus geleitet waren und während diejenigen, die im Laufe der 1960er und 1970er Jahre auf die Straße gingen, noch glaubten, dass sehr bald schon eine andere Welt möglich sein werde“, ist dieser Glaube in den heutigen Aufständen beschädigt. Zu tief sitzen die Niederlagen von Utopien einer befreiten Gesellschaft. Die Revolten des 21. Jahrhunderts konzentrieren sich auf den destruktiven Angriff gegen die öffentliche Ordnung, nicht auf die Schaffung neuer Utopie-Räume. Riots sind Ausdruck dieser Desillusionierung.
Ganz ähnlich argumentierte der kommunistische Theoretiker Alain Badiou in seinem Werk The Rebirth of History, Times of Riots and Uprisings. Die Aufstände des 21. Jahrhunderts von den für Athena inspirierenden Banlieue Aufstände in Frankreich 2005 über die Unruhen in Griechenland 2008 und die ägyptischen Revolutionen waren geprägt von dem Slogan „Sie alle müssen verschwinden. Alle heißt alle“.
Unabhängig davon ob wir diesen Thesen völlig zustimmen, treffen Badiou und Di Cesare definitiv einen Punkt, wenn wir uns auf Riots konzentrieren. Im Unterschied zur Revolution zeichnen sich diese dadurch aus, dass die Massen noch nicht von einer kollektiven Idee ergriffen wurden. Ob Paris, Athena, London oder die Anfänge der „Black Lives Matters“-Revolte, linke Aktivist_innen spielten eine untergeordnete Rolle und die wenigsten der Aufständischen werden nach der Revolte zur revolutionären Linken übergewechselt sein. Darum, spontane Aufstandsprozesse leben im ersten Moment von diesem Gefühl der Verweigerung. Athena vermittelt dieses Gefühl auf gelungene Art und Weise.
Die Polizei symbolisiert die Macht
Di Cesare folgt der poststrukturalistischen Philosophie, wenn sie behauptet, die Macht sei heute schwieriger konkret zu fassen als im 19 oder 20. Jahrhundert. Multinationale Konzerne treten an die Stelle nationaler Kapitalisten, Supra-nationale Institutionen wie die EU an die Stelle nationaler Staaten, permanente Überwachung und Selbstoptimierung an die Stelle von Strafen und direkter Herrschaft. Auch wenn diese Grundthesen hinterfragenswert sind, hat Di Cesare recht, wenn sie als erstes Ziel des Aufstandes die Begegnung mit der Macht formuliert. Der Aufstand zwingt die Macht dazu, sichtbar zu werden: „hinter der Maske des Bereitschaftshelms, der den Polizisten schützt“.
Die eindeutige Identifikation der Polizei mit der Macht und damit der Ungerechtigkeit der aktuellen Gesellschaft dürfte einer der Gründe sein, warum Athena Jugendliche zum Kämpfen inspiriert. Gerade prekär lebende, junge Menschen waren in den letzten Jahren mit einer Unzahl an Ungerechtigkeiten konfrontiert. Während Corona verjagten sie die Polizisten aus den öffentlichen Räumen, geringe Jobaussichten, steigende Preise, miserable Noten in einem schulischen Leistungssystem, rassistische Polizeikontrollen, wenig Zukunftsperspektive im Angesicht des Klimawandels. Die konkreten Schuldigen für diese einzelnen Ungerechtigkeiten sind gar nicht so leicht auszumachen, doch die Polizei ist überall. Sie kontrolliert den öffentlichen Raum und symbolisiert somit die falsche gesellschaftliche Herrschaft. Ein Angriff auf die Polizei ist damit immer ein Angriff auf die Gesellschaft.
Ausgehend von diesen Überlegungen sehen wir, warum selbst solidarische Linke die Wirkung des Films nicht verstehen wollen. Das österreichische BigSibling Kollektiv hat die Abschaffung der Polizei als Ziel, steht damit dezidiert aufseiten der aufständischen Jugendlichen und schrieb für den Mosaik Blog eine größtenteils lesenswerte Rezension. Ihre Kritik, dass sich der Film nur auf Männer als Akteure des Aufstandes fokussiert ist berechtigt. Davon abgesehen scheitert der Text aber darin, die Botschaft des Filmes zu verstehen. Sie schreiben: „Deshalb ist der Film, trotz des hochpolitischen Themas Polizeigewalt, nicht politisch. Wir sehen wütende, gewalttätige und aggressive cis-Männer of Color. Die Darstellung festigt ein rassistisches Bild. Durch das Fehlen von Hintergrundszenen, die die Missstände und den institutionellen Rassismus der Polizei thematisieren, wird die Wut der Aufständischen gegenüber der Polizei als fehlplatziert dargestellt und entpolitisiert. (…)Es wird jedoch nicht klar, woher diese Wut stammt. (…) Wir verstehen am Ende des Films die Motive der Aufständischen nicht. Die Ermordung Idirs wirkt wie ein Einzelfall. Der Aufstand wie ein Rachefeldzug.“
In jedem Aufstand gegen Polizeimorde steckt das Element der Rache. Die Polizei hat meinen Freund oder jemanden, dem ich mir nahe fühle, getötet, dafür will ich Rache. „Heute haben wir den Spieß umgedreht, heute hatte die Polizei zum ersten Mal Angst vor uns“, solche oder ähnliche Erklärungen findet man in nahezu allen Interviews mit Aufständigen.
Davon abgesehen niemand, außer angehende Akademiker_innen und Menschen die dieser Gesellschaft positiv gegenüberstehen, fragt nach den Gründen, warum die Polizei verhasst ist. Eine reale Begegnung reicht völlig aus. Während die liberale und progressive linke Gesellschaft nach dem Konsum des Films verwirrt nach Gründen fragt, verstehen die Ausgeschlossenen der kapitalistischen Gesellschaft die Gründe von selbst. In diesem Film geht es um uns und wir brauchen niemanden, der uns unser Leben erklärt. Der Film zeigt uns eine Vision, in der wir der Staatsgewalt nicht machtlos ausgelöst sind.
Das linksradikale Ill Will Magazin fasst treffend zusammen: „Indem der Film zeigt, was schön und was hässlich an einem notwendigen Aufstand ist, will er den Zuschauer und seine kleinen, festgefahrenen Schlussfolgerungen herausfordern. Dem guten Gewissen der Linken sagt er so etwas wie: „Ihr, die ihr uns im Stich gelassen habt, mit eurer vermeintlich großen universellen Mission, euren falschen Versprechungen und eurer Vetternwirtschaft, seht euch die Radikalität der unentzifferbaren Wut an, die in uns wohnt“. Dem schlechten Gewissen der Rechten und ihren Ressentiments spuckt der Film ein großes „Fuck you“ entgegen: „Du solltest deine Fresse halten. Wenn jemand deinen kleinen Bruder umgebracht hätte, würdest du dich rächen; tatsächlich hast du jahrelang von nichts anderem als Rache gesprochen. Wir sind jetzt die Polizei, wir sind der wahre Ausnahmezustand.“
Dialektik des Spektakels
Der marxistische Theoretiker und Künstler Guy Debord versuchte in den 60er-Jahren mit seinem Buch Die Gesellschaft des Spektakels den Kapitalismus durch eine Fokussierung auf seine Kulturproduktion zu analysieren. Sehr vereinfacht sind zwei Grundthesen seiner Arbeit: 1. Das Spektakel (die Kulturproduktion und alles, was mit ihr zusammenhängt) versucht die Menschen in passive Konsument_innen zu verwandeln. Die Kulturproduktion besetzt die Freizeit als ehemaligen nicht-kapitalistischen Bereich und entschädigt die Menschen scheinbar für die Eintönigkeit der Lohnarbeit. Im Spektakel wird der Ausbruch aus der Realität zelebriert, der im echten Leben nicht stattfinden kann. Ein Beispiel für diese These wäre, dass Menschen heutzutage weniger Sex haben und weniger aufputschende Drogen nehmen als in vergangenen Jahrzehnten, obwohl sich die gegenwärtige Kulturproduktion um nichts anderes als Sex, Drogen und Gewalt dreht.
Daran anknüpfend formuliert Debord, dass der Kapitalismus das Sein ins Haben verwandelt und im Spektakel das Haben zum Erscheinen degradiert wird. Das soll bedeuten, dass es dem Kapitalismus in seiner Anfangsphase darum ging, den materiellen Besitz an die Stelle des erfüllten Lebens zu setzen. Im Spektakel wird das materielle Haben nun durch das Erscheinen ergänzt. Ein Beispiel hierfür wären Instagram und TikTok Stars, die objektiv weder reich noch Elite sind, aber in ihren Videos dafür gefeiert werden, dass sie sich als reiche Elite darstellen. Rapper, welche die dicken Autos nur für die Videodrehs leihen und in Wahrheit in alten VWs herumfahren.
Athena durchbricht dieses Prinzip. Der Aufstand bricht aus dem Spektakel aus und manifestiert sich in den Straßen Österreichs. Hier wird nicht passiv Kulturproduktion konsumiert, sondern aktiv gehandelt, nicht gespielt man wäre aufständisch, sondern real der Staat angegriffen. Dass es dem Film gelingt, an die reale Wut anzuknüpfen und ihr den Mut zur Revolte vermittelt, genügt, um zu ahnen, es ist ein Meisterwerk.