Bruch mit dem Kemalismus erfordert bedingungslose Solidarität mit Kurden
Die Kurdenfrage ist seit der Staatsgründung 1923 eine der beiden zentralen Probleme der Linken in der Türkei, argumentiert der in Istanbul lebende marxistische Intellektuelle Roni Margulies (Die zweite, die Islamfrage, haben wir anderen Stellen ausführlich behandelt.) Ihre politischen Wurzeln liegen dabei im Kemalismus, der Staatsdoktrin, benannt nach dem ersten Staatsoberhaupt Kemal Mustafa Atatürk. Ohne dessen Überwindung kann es keinen erfolgreichen einheitlichen Kampf der Arbeiter_innenklasse in der Türkei und keine Lösung der Kurdenfrage geben.
Die Kemalisten errichteten die Republik als nationalstaatlich, modern und westlich, es durfte nur eine türkische Nation geben. Der kemalistische Staat unterdrückte alle dem Projekt im Wege stehenden Ethnien und Religionen, vor allem die Mehrheit der religiösen Landbevölkerung und die größte Minderheit der Türkei, die Kurd_innen, rund ein Fünftel der Bevölkerung. Bis vor kurzem war alleine die Verwendung des Wortes „Kurde“ verboten, die Sprache, die Veröffentlichung von Zeitungen, Fernsehen, die Lehre kurdischer Geschichte in den Schulen waren nicht erlaubt. Der Großteil einer der größten Armeen des Nahen Ostens ist in den Kurdenregionen im Südosten der Türkei stationiert. Die Kurden erlitten 80 Jahre lang brutale Unterdrückung, Gefängnis, Folter und Ermordungen durch geheime Killerkommandos.
Fehler der Linken
In den 1960er-Jahren erschütterten heftige Studierendenproteste die Türkei. Die wichtigste aus diesen Kämpfen erwachsene linke Partei, die Arbeiterpartei der Türkei (TİP), griff zum ersten Mal die Kurdenfrage explizit auf, jedoch wagte keine der neuen Strömungen einen tatsächlichen Bruch mit dem Kemalismus. Die siegreiche Fraktion wandte sich dem Stalinismus und dem „antiimperialistischen Kampf“ gegen die USA zu und schob den revolutionären Sozialismus und die Kurdenfrage wieder in den Hintergrund. Desillusioniert von der Linken zog Abdullah Öcalan mit militanten Studierenden in den Südosten der Türkei, von wo aus er einen bewaffneten Guerilla-Kampf, eingekleidet in marxistischer Rhetorik, organisierte. 1978 folgte die Gründung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).
Die Popularität der PKK war eine direkte Folge der Repressionen des kemalistischen Staates. Alleine in den 1990er-Jahren machte die türkische Armee 4.000 Dörfer dem Erdboden gleich, sie bestrafte die Zivilbevölkerung für ihre angebliche Komplizenschaft mit der PKK. Im selben Zeitraum wurden 40.000 Menschen in den Kämpfen getötet, 20.000 wurden Opfer „ungeklärter Morde“, vor allem durch den informellen Geheimdienst JİTEM. Selbst Kurd_innen, die bislang noch keine Sympathien für die PKK oder besondere Konflikte mit dem Staat hatten, sammelten sich nun hinter Öcalan und erlaubten die Gründung von politischen Armen, von der die Demokratische Partei der Völker (HDP) nun die siebte Partei in einer Reihe ist.
Schwieriges Unterfangen
Sozialist_innen stellen keine Bedingungen an nationale Befreiungsbewegungen, welche Führung sie sich wählen, sondern treten für eine bedingungslose, aber kritische Unterstützung ein. Wir fordern deshalb, dass die PKK unverzüglich von der internationalen Terrorliste gestrichen wird. Wir sind allerdings auch davon überzeugt, dass der Kemalismus, auch wenn er in der kurdischen Linken nicht offen geäußert wird, ein echtes Hindernis in diesem Befreiungskampf ist. Er identifiziert den Konflikt nicht als ein Problem des kapitalistischen Staates und der Arbeiter_innenklasse, die ihn zerschlagen kann, sondern als ein „islamistisches“, als ein Problem zwischen Fort- und Rückschritt.
Auf der anderen Seite ist sicherlich auch nicht jeder Jugendliche oder junge Mann, der der MHP anhängt und sich an den völlig inakzeptablen Angriffen auf linke Aktivist_innen und das EKH beteiligt hat, ein Faschist, und viele von ihnen sind täglich antimuslimischem und insbesondere antitürkischem Rassismus ausgesetzt – wobei der türkische Nationalismus auch großteils als Ersatz für die fehlende Solidarität bei anderen Gelegenheiten durch die Linke dient (wenn jetzt etwa der österreichische Staat mit der Etablierung einer Dokumentationsstelle für politischen Islam, also mit dem Ausbau des institutionalisiertem Rassismus antwortet). Aber, wenn sie gegen diesen Rassismus vorgehen wollen, und das ist hier der Bezugspunkt in die Türkei, dann müssen sie selbst mit dem kemalistischen Nationalismus brechen. Das erfordert die bedingungslose Solidarität mit den Kurd_innen. Keine leichte Aufgabe.