Die europäische Grenzpolitik zerstört Menschenleben

Sonja Kriegner war am 23. September in Rigonce an der slowenisch-kroatischen Grenze, um zu helfen. Die Versorgung der Flüchtlinge übernahmen ausschließlich freiwillige Helfer_innen aus ganz Europa. In ihrem Bericht schreibt sie über ihre Eindrücke und Erfahrungen.
16. November 2015 |

„Please Miss, help me! I have two kids, they are sick. We need a blanket, please come back Miss! Promise that you will come back, please!“ Mit hoffnungsvollen Augen blickt mich der junge Mann an und streichelt dabei seinen kleinen Töchtern übers Haar. Mit beiden Armen versucht er, die Geschwister so gut es geht warm zu halten – bei ca. null Grad und nassem Boden. „I promise“, versichere ich – das erste und letzte Mal, dass ich jemandem an der slowenischen Grenze mein Wort gab.

Wieder versuche ich auf die andere Seite der Polizeiabsperrung zu gelangen, um von unserem Auto weitere Decken zu beschaffen. Für den Gedanken, dass die von uns gebrachten Spenden nicht annähernd für die ca. 3000 Leute auf dem riesigen Feld vor mir ausreichen werden, ist zum Glück nicht viel Zeit. Jetzt gilt es schnell zu handeln. Vorbei an den vielen kleinen Lagerfeuern, die es mir aufgrund des vielen verbrannten Plastiks schwer machen, richtig zu atmen, vorbei an den vielen kleinen Haufen von nassen Decken, die sich bei genauerem Hinsehen als Schlafstätten entpuppen, vorbei an weiteren hunderten Menschen, die beim Blick auf meine gelbe Warnweste sofort nach Hilfe rufen. „Please Miss, we need help, it is so cold!“

Versorgung ausschließlich von Helfer_innen

Voll bepackt mit weiteren Decken mache ich mich wieder auf den Weg in das von Polizist_innen und teilweise mit Maschinengewehren bewaffneten Soldat_innen umzingelte Feld. Ich versuche mich daran zu erinnern, wo der junge Mann mit seinen beiden Kindern saß, doch bereits als ich unter dem Polizeiabsperrband durchklettere, stürmen dutzende Menschen auf mich zu, und reißen mir alles aus den Armen, was ich mitbringen konnte. Es ist für den Moment die einzige Möglichkeit, uns einzeln und mit jeweils nur einigen Decken ins Feld zu begeben, um ein Drängen der Massen und darauffolgende Panik zu vermeiden.

So schnell ich kann, laufe ich zurück, um weitere Spenden zu holen, mit dem Gedanken daran, diesmal hoffentlich bis zu den kleinen frierenden Mädchen und deren verzweifelten Vater durchzukommen. Keine Chance – ein Polizist hält mich an, um mir mitzuteilen, dass keine weiteren Spenden ausgegeben werden dürfen. Die Menschen werden nun in das nächste Lager gebracht, um registriert zu werden und die Nacht dort zu verbringen.

Banken und Konzerne bedrohen das Sozialsystem, nicht Flüchtlinge!

Banken und Konzerne bedrohen das Sozialsystem, nicht Flüchtlinge!

Große Erleichterung macht sich unter den zu diesem Zeitpunkt etwa zwanzig freiwilligen Helfer_innen breit, die für ihren Einsatz unter anderem aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Tschechien, England, Spanien, den USA oder den Niederlanden angereist sind. Doch schon bald folgt die Ernüchterung – die gesamte Menschenmenge wird den Weg in das 13km entfernte Lager nach Brežice zu Fuß bestreiten müssen. So schnell wir können, versuchen wir, soviel Platz wie möglich in unserem Auto zu machen, um jene, die den langen Marsch durch die dunkle Nacht nicht mehr schaffen werden, zu transportieren. Wieder denke ich an den jungen Mann und seine beiden Töchter. Ich sehe sie nicht mehr wieder, in unserem Auto haben wir nicht einmal für eine gesamte Familie Platz.

Kriminalisierung

In Brežice angekommen, wird uns erst bewusst, was die bereits enorm geschwächten und verängstigten Menschen nun erwartet. Das Lager gleicht einem G1 Foto(c)Petra Pospechovaefängnis, die Leute schlafen zum Großteil im Freien, eng zusammengepfercht verharren sie bereits seit Stunden hinter Polizeigittern und hohen Zäunen ohne Essen, ohne Wasser, ohne ausreichend sanitäre Anlagen, aber voller Hoffnung, dass der nächste Bus nach Österreich bald kommen wird – ein Irrglaube. Nach derartig langer Zeit ohne jegliche Versorgung kommen Unruhen auf, viele der jungen Männer rufen gemeinsam „open, open, open“ – die Lage wird zunehmend angespannt, es entstehen Tumulte, welche von der Polizei mit Pfefferspray und Tränengas niedergerungen werden, ungeachtet dessen, dass sich in der Menge neben den beiden kleinen frierenden Mädchen vom Feld, eine Vielzahl anderer Kleinkinder, schwangerer Frauen und kranker Menschen befindet. Hat man derartige Szenen miterlebt, kann man sich in etwa vorstellen, wie die von der EU als Lösung geforderten „Hotspots“ aussehen werden.

Kein Versagen!

Bedenkt man, dass die slowenische Regierung bereits vor Wochen – nämlich spätestens als Ungarn begonnen hat, großflächig Grenzzäune zu installieren – von der verstärkten Ankunft von Flüchtlingen wusste, wird klar, dass es sich hierbei nicht ausschließlich um ein Versäumnis oder Versagen der slowenischen Regierungen handelt.

Es zeigt vielmehr, dass die rassistische Politik der europäischen Eliten völlig bewusst menschenverachtende Zustände produziert und es in Kauf nimmt, dass schutzsuchende Menschen an den Grenzen Europas sterben. Neben der dringenden Erstversorgung, die uns von den Behörden immer wieder verboten wurde, war es für uns Volunteers vor allem aus diesem Grund wichtig, die katastrophalen Umstände, welche die Flüchtlinge ertragen mussten, an europäische Medien weiterzuleiten. Unsere Bemühungen fruchteten – die beiden beschriebenen „Lager“ wurden geschlossen und die Versorgungskette funktioniert nun etwas besser. Wir sind alle gefordert gegen diese unmenschliche Politik anzukämpfen. Was passieren wird, wenn die österreichische Regierung einen Zaun errichten wird, will ich mir nach den in Slowenien erlebten Szenen nicht vorstellen.

S.K.

Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.