Die Lehren aus der ägyptischen Revolution

Man könnte aus der Distanz den Eindruck gewinnen, das Militär hätte Ägypten fünf Jahre nach der Revolution von 2011 wieder fest im Griff. Der revolutionäre Sozialist Wassim Wagdy analysiert die Schwächen der Konterrevolution und des Regimes von al-Sisi.
9. Juni 2016 |

Neue Linkswende: Kannst du erklären, wie nur drei Jahre nach der Revolution die Konterrevolution erfolgreich über so eine kämpferische Bewegung siegen konnte?

Wassim Wagdy: Die erste Welle der Revolution wurde gebrochen. Das hängt mit der Präsidentschaft des Muslimbruders Mohammed Mursi zusammen. Er hat seine Wähler_innen sehr enttäuscht. Sie wollten, dass die Revolution weiter geht – nicht in dem Sinn, wie wir Revolution verstehen – aber sie wollten, dass die Reformen weiter gehen, die während der Revolution erreicht wurden. Nach nur einem Jahr in der Regierung verlor die Muslimbruderschaft einen ganzen Haufen ihrer Anhänger.
Dafür verantwortlich ist die widersprüchliche Veranlagung der Muslimbruderschaft: Sie sind eine Allianz mit dem Militär eingegangen und gleichzeitig mit den Salafisten, die weit rechts von ihnen stehen. Sie waren so naiv, dass sie Loblieder auf Mursis damaligen Verteidigungsminister al-Sisi sangen. Deshalb fiel es dem Regime leicht, Mohammed Mursi loszuwerden.

Eine weitere wichtige Ursache ist das Verhalten der politischen Kontrahenten der Bruderschaft: Hamdeen Sabahi, ein bekannter Linker, nannte al-Sisi „ Minister zur Verteidigung der Revolution“. Während Mursis Präsidentschaft haben die Linken und die Muslimbrüder um die Gunst des Militärs konkurriert. Das ist mit ein Grund, warum es der Muslimbruderschaft so schwer fiel, Kräfte zu finden, die sie vor dem Putsch verteidigen würden.

Das ist noch irgendwie nachzuvollziehen, aber inzwischen sind doch die Massaker an den Brüdern bekannt und auch die Bestialität der Folter in den Gefängnissen.
Interessant ist, dass die Gegner der Muslimbrüder vom ersten Augenblick an eine Koalition sowohl mit den weit rechts stehenden Salafisten als auch dem Militär eingingen, die so genannte Koalition des 30. Juni. Sie bestand aus Linken, Sozialdemokraten, den Nasseristen und der Nour-Partei (den Salafisten). Es ging also niemals um die Trennung von Staat und Religion oder um eine säkulare Regierung. Schon Mubarak hat sich als religiöser als die Muslimbrüder präsentiert. Jetzt bedient sich die Regierung ganz massiv der religiösen Institutionen und der Salafisten, um die Leute zu beruhigen. Der Mufti von Ägypten (höchste religiöse Autorität) hat eine Fatwa präsentiert, die das Töten von Muslimbrüdern erlaubt.

Können sich die Muslimbrüder in der Opposition erholen?

Sie versuchen es, aber das schiere Ausmaß der Repression macht ihnen das sehr schwer. Manche Menschrechtsexperten sagen, dass 50.000 ihrer Mitglieder in den Gefängnissen sind, sie stellen mehr als 90 Prozent aller politischen Gefangenen.

War die Zurückhaltung der organisierten Arbeiter_innenklasse die wichtigste Schwäche der ersten Phase?

Die Arbeiter_innen haben sich massiv an der Revolution beteiligt und auf vielfältige Weise: mit Demonstrationen und Protesten, mit ökonomischen Forderungen, mit politischen Forderungen, wie dem Absetzen eines korrupten Managements, sogar mit Ansätzen zur Selbstverwaltung. Ihre Schwäche bestand darin, dass die Arbeiter_innenbewegung sich nicht als Führung der Revolution anbieten konnte. Ohne einer revolutionären Partei kann sie keine Revolution anführen, ohne einer bewussten, revolutionären und politischen Organisierung der Arbeiter_innenklasse. Die Linke ist innerhalb der Arbeiter_innenklasse wirklich sehr schwach.

Lenin hat einmal gesagt, dass sich eine neue Welle der Revolution auf dem höchsten Niveau der vorangegangenen Welle fortsetzt. Was war der Höhepunkt der ersten Welle?

Ich denke, die zweite Welle wird mit dem Infragestellen der Polizeikräfte beginnen. Sie wird wegen der Polizeibrutalität ausbrechen und sie wird sich nicht damit zufrieden geben, einen Arm des Staats zu brechen. Sie wird sich einen eigenen Arm aufbauen. Schon jetzt kündigen Anführer der Arbeiter_innenbewegung an, dass sie die Revolution das nächste Mal nicht mehr anderen Leuten überlassen werden. Unter dem Einfluss der Klasse wird mehr Gewicht auf ökonomische Fragen – also auf die Neuverteilung der Reichtümer – gelegt werden.

Dazu kommt ein viel höheres Bewusstsein über die unterdrückerische Natur des Staatsapparates, inklusive der Polizei, dem Militär und dem Justizapparat. Die Erfahrungen, die sie während der ersten Welle der Revolution gemacht haben, auch während der Konterrevolution, sind so wertvoll wie 100 marxistische Bücher. Sie haben gesehen, dass die Armee nicht uns allen dient, dass der Justizapparat nicht unabhängig und neutral ist und dass die Polizei niemals reformiert werden kann.

Die Gerichte wahrten unter Mubarak wenigstens noch den Anschein von Überparteilichkeit. Heute gibt es in den Gerichtssälen ganz offen Urteile nach Telefonanruf. Der Richter sitzt da und wartet auf den Anruf, und wenn er den Hörer weglegt, verkündet er die Strafen: Du bekommst fünf Jahre, du drei, etc. Das passiert alles ganz offen. Das Massaker an über 1.000 Anhänger_innen der Muslimbrüder im Juli 2013 geschah vor laufenden Kameras.

Wenn über 90 Prozent der politischen Häftlinge von der Muslimbruderschaft sind, wer sind die restlichen Gefangenen und wie viel weiß die Öffentlichkeit darüber?

Der Rest gehört großteils zur revolutionären Jugend: Darunter finden sich Anarchisten, radikale Demokraten der Jugendbewegung des 6. April, unabhängige Revolutionäre, revolutionäre Sozialisten, und so weiter. Die Repression der Muslimbrüder findet in aller Öffentlichkeit statt. Große Teile der Bevölkerung finden das in Ordnung. Dafür sind zum Teil die Linken, die Sozialdemokraten und die Liberalen verantwortlich, weil sie die Muslimbrüder unermüdlich als terroristische Organisation darstellen.

Trotzdem sprichst du von einer schwachen Konterrevolution?

Es stimmt, die Menschenrechtsverbrechen und generell die Polizeibrutalität haben ein Ausmaß erreicht, das ein Vielfaches schlimmer ist, als unter Mubarak. Um das zu verstehen muss man wissen, wie groß die Angst der herrschenden Eliten vor der Revolution war und ist. Am 28. Jänner 2011 hat die Bewegung den Polizeiapparat in nur einem halben Tag zu Brei geschlagen. Alle Polizeistationen des ganzen Landes wurden angegriffen und die meisten angezündet. Zwei Jahre lang war keine Polizei auf den Straßen zu sehen. Die herrschende Klasse brachte ihr Geld außer Landes und deckte sich mit Waffen ein.

Wenn wir Freunde wiedersehen, die im Gefängnis waren, dann erzählen sie von dieser Angst. Während sie gefoltert wurden, schrie der Beamte sie an: „Meinst du, ihr könnt den 28. Jänner wiederholen?“ Die Art von Rache, wie wir sie jetzt erleben, reflektiert, wie viel Angst die herrschende Klasse vor der Revolution hatte, wie stark die Revolution war und wie traumatisiert die Herrschenden heute noch wegen der Revolution sind.

Wie gefestigt ist die Position von Präsident al-Sisi?

Unmittelbar nach dem Putsch wurde al-Sisi wie ein Gott verehrt. Jetzt nach nur zwei Jahren zwingt ihn eine kleine lokale Kundgebung gegen das Verscherbeln zweier Inseln an Saudi-Arabien dazu, im Fernsehen zu erscheinen und ungefähr dreißig Mal zu wiederholen „Ich fürchte mich nicht! Ich fürchte mich nicht!“

Noch wichtiger: die Arbeiter_innenklasse beginnt sich zu bewegen. Seit Jänner 2016 gab es 493 Proteste. Das ist nicht viel, aber doch ein wichtiger Aufschwung. Es kam zu Protesten gegen die bekannte Polizeibrutalität, zu kollektiven Wutausbrüchen. Zum Beispiel hat ein junger Polizist jemanden in einem Arbeiter_innenviertel erschossen. Er wurde von der Nachbarschaft überwältigt und verprügelt. Zu Tausenden zogen sie zur Sicherheitsdirektion – und das ist sehr illegal. Sogar wenn man zu neunt in einem Raum zusammen sitzt, ist das illegal und man muss immer Wächter postieren, wenn man sich trifft. Trotzdem umzingelten sie die Sicherheitsdirektion und riefen Protestchöre gegen al-Sisi, gegen die Polizei und Polizeibrutalität.

Die Journalistengewerkschaft besetzt aus Protest gegen das Eindringen der Polizei in ihre Zentrale seit einer Woche ihr Hauptgebäude. Die Polizei wollte zwei Journalisten verhaften, die al-Sisi kritisiert hatten. Die Journalisten verlangten von el-Sisi eine persönliche Entschuldigung, den Rücktritt des Innenministers und gesetzlich garantierte Pressefreiheit. Wir erleben den härtesten Konflikt zwischen Regime und Journalisten seit jeher und das alles nach nur zwei Jahren der Konterrevolution. Das sagt einiges darüber aus, wie prekär die Situation des Regimes tatsächlich ist.

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Der Vortrag von Wassim Wagdy am Kongress „Marx is Muss“ kann auf dem Youtube-Kanal von Neue Linkswende angesehen werden. Das Interview führte Manfred Ecker.
Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.