Die Regierung Meloni: Wie wird sie handeln und wie kann die Linke sie bekämpfen
Italien wird bald seine erste Premierministerin haben. Ironischerweise wird es sich dabei um eine Frau an der Spitze einer rechtsextremen Partei handeln, deren Ursprünge eindeutig in der postfaschistischen Tradition Italiens liegen, einer Tradition, die sicherlich nicht für ihr feministisches Ethos bekannt ist.
Die Fratelli d’italia von Giorgia Meloni gingen mit 26 Prozent der Stimmen als Sieger aus den italienischen Wahlen vom 25. September hervor. Sie führt eine Rechtskoalition an, die sich aus der Lega von Matteo Salvini und der Forza Italia von Silvio Berlusconi zusammensetzt. Beide erhielten jeweils 8 Prozent Prozent der Stimmen. Zusammen erhielt die Rechtskoalition 44 Prozent.
Wie kann eine Partei, die bei den Wahlen 2018 nur 4 Prozent der Stimmen erhielt, so schnell zur größten politischen Partei in Italien werden? Ein Aufwärtstrend war eindeutig schon vorher erkennbar (bei den Europawahlen 2019 erhielt sie 6 %), es ist jedoch mehr nötig, um ihren rasanten Aufstieg zu erklären. Die Antwort liegt weitgehend in den jüngsten politischen Entwicklungen in Italien: Melonis Partei war die Einzige, die sich weigerte, der Regierung der „nationalen Einheit“ des ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi beizutreten, die kürzlich nach 17 Monaten im Amt gestürzt wurde. Darüber hinaus sind Melonis Konkurrenten, Salvini und Berlusconi, in der aktuellen Krise des Ukraine-Krieges für ihre Sympathien und Verbindungen zu Putin in Missgunst geraten. Vor allem ein Bild von Salvini, auf dem zu sehen ist, wie er auf dem Roten Platz in Moskau stolz ein Pro-Putin-T-Shirt trug, machte in den italienischen Medien die Runde. Angesichts der aktuellen internationalen Lage war das sicherlich nicht zu seinen Gunsten.
Die Ergebnisse der italienischen Wahlen werfen wichtige Fragen für die Linke auf, die es zu bedenken gilt. Am dringlichsten: Erlebt Italien das Wiederaufleben einer faschistischen Massenbewegung?
Momentan scheint es als wäre die Antwort Nein. Melonis Partei wird nicht von einer Massenbewegung unterstützt. Der Erfolg bei den Wahlen ist größtenteils auf einen Stimmentausch mit anderen rechten Parteien zurückzuführen. Genauer gesagt, hat Meloni Salvini den Wind aus den Segeln genommen (der 2018 17 % der Stimmen erhielt; Forza Italia erhielt 14 %). Zählt man die Stimmen, die italienische Rechtsparteien allgemein in den letzten Jahrzehnten erhalten haben, so wird klar, dass die absolute Zahl im Wesentlichen gleichgeblieben ist. Italiens rechte Wählerschaft ist seit den frühen 90er Jahren auf der Suche nach einem politischen Führer. In Anbetracht der gewohnheitsmäßigen Instabilität der italienischen Wahlen und des seit langem bestehenden politischen Personenkults, haben sich die Wähler_innen der italienischen Rechten nun auf die junge Führungspersönlichkeit gestürzt, die sich, trotz ihrer erschreckenden politischen Vergangenheit, mit einem einigermaßen unschuldigen Gesicht präsentierte und, was wichtig ist, noch nicht die Chance hatte, eine eigene Regierung zu bilden.
Die Politik der Fratelli d’Italia
Die Fratelli d‘italia gehen auf die Movimento Sociale Italiano (MSI) zurück, eine Partei, die von ehemaligen Mitgliedern des faschistischen Satellitenstaats Republik von Salò (1943-1945) unter Mussolini gegründet wurde. Melonis Partei trägt noch immer die Flamme in der italienischen Tricolore in ihrem Wappen, das historische Symbol der MSI. Sie stellt bei Kommunalwahlen Verwandte Mussolinis auf und ihre Parteimitglieder sind dafür bekannt, auf Mussolini anzustoßen, sobald sich die Kameras abwenden.
Abgesehen von ihren erschreckenden Ursprüngen, wofür stehen die Fratelli d‘italia heute? Zunächst einmal hat Meloni dem internationalen Establishment nachdrücklich versichert, dass ihre Regierung die Ukraine gegen die russische Invasion unterstützen und sich an die von der EU festgelegten Beschränkungen halten wird. In einem Land, in dem sehr unterschiedliche Arten von Anti-Establishment-Politik, zuletzt Salvinis Lega und die Fünf-Sterne-Bewegung, Draghis Regierung unterstützt haben, erscheint Melonis Kurs den italienischen Wählern wohl am glaubwürdigsten.
Zweitens setzt sich die gesamte Rechtskoalition für eine Verfassungsreform ein, mit der das italienische politische System in eine Präsidialrepublik umgewandelt werden soll. Italien ist ein bekanntlich schwer zu regierendes Land, in dem das Parlament nicht nur den Präsidenten wählt, sondern auch über einen erheblichen Spielraum bei der Bildung und Absetzung von Regierungen verfügt. Meloni und ihre Mitstreiter schlagen eine Direktwahl des Präsidenten vor. Für Verfassungsreformen sind in Italien jedoch zwei Drittel der Stimmen erforderlich, und Melonis Koalition hat diese Schwelle nicht erreicht.
In Wirtschaftsfragen ist die Politik der Fratelli d‘italia im Stile der Thatcher-Politik: Steuersenkungen für Unternehmen, die mehr Arbeitnehmer beschäftigen, das Versprechen, die Staatsfinanzen auszugleichen und die vor kurzem von der Fünf-Sterne-Bewegung eingeführte Arbeitslosenunterstützung abzuschaffen (eine mickrige, stark einkommensabhängige Sozialhilfe), sowie – und das ist das Wichtigste – der Plan, eine Einheitssteuer einzuführen (was Salvini und seiner Wählerbasis sehr am Herzen liegt).
Am erschreckendsten ist wohl die Haltung der Partei zu Einwanderung. Hier schließt Meloni da an, wo Salvini aufgehört hat, als er eine Seeblockade und die Einrichtung von Prüfstellen in Nordafrika forderte, in denen Einwanderer kontrolliert werden, bevor sie nach Europa einreisen dürfen.
Meloni hat außerdem einen Kulturkrieg über Fragen der bürgerlichen Freiheiten angezettelt. Obwohl sie nicht die Absicht hat, das Gesetz 194 zur freiwilligen Abtreibung zu ändern, behauptet sie, sie wolle Abtreibungen „verhindern“: Das steht im Zusammenhang mit der Panikmache ihrer Partei über die niedrige Geburtenrate in Italien, die wiederum die in rechten Kreisen Italiens weit verbreitete Angst vor der „Great Replacement“-Theorie nährt. Sie spricht sich gegen gleichgeschlechtliche Adoptionen aus und schürt Ängste vor der „LGBTQ-Lobby“. Ihre Agenda zu den oben genannten Themen entspricht einem weltweiten reaktionären Trend (insbesondere die Aufhebung des Urteils Roe v. Wade in den USA und ähnliche Urteile in Polen). Meloni wird sich wahrscheinlich auch auf einen Kulturkampf in Umweltfragen einlassen: Sie scheint entschlossen zu sein, die Debatte über Kernenergie, die von den Italienern bereits zweimal in Referenden abgelehnt wurde, neu aufzumachen. Sie wird wahrscheinlich auch eine stärkere Rolle für Italien auf der geopolitischen Bühne einfordern, wobei sie die Notwendigkeit der Energieunabhängigkeit besonders betont.
Hinter Melonis Aufstieg
Angesichts der plötzlichen Wahlerfolge der Rechtsextremen könnte man erwarten, dass ein Land wie Italien mit seiner stolzen antifaschistischen Tradition gegen Meloni und ihre Partei mobilisiert. Leider ist das nicht der Fall.
Hierfür gibt es mindestens drei Gründe. Erstens ist der Faschismus in Italien seit den 90er Jahren normalisiert worden: Insbesondere in den Regierungen von Berlusconi (1994-1996; 2001-2005; 2005-6; 2008-11) waren wiederholt Postfaschisten in Ministerämtern vertreten, darunter auch Meloni. In diesem Zusammenhang hat sich ein Narrativ herausgebildet, demzufolge auch Faschisten Opfer des Zweiten Weltkriegs waren. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang sind die Foibe-Massaker, die in Jugoslawien von Widerstandskämpfer_innen gegen die italienischen Besatzer verübt wurden. In Italien gibt es jetzt einen nationalen Gedenktag für die Opfer dieses Massakers. All dies bestärkt die seit langem bestehende Vorstellung, dass die Italiener nie so schlimm waren wie die Deutschen, dass der italienische Faschismus eine Diktatur mit menschlichem Antlitz war und dass die Ursache für seine grausamen Exzesse in der falschen Entscheidung lag, sich im Vorfeld und während des Zweiten Weltkriegs auf die Seite Deutschlands zu stellen. Es ist erstaunlich, wie stark diese Sichtweise in Italien noch immer verbreitet ist.
Zweitens hat sich die italienische antifaschistische Tradition weitgehend aufgelöst. Die Kommunistische Partei Italiens (PCI), die in dieser Tradition stand und Widerstandskämpfer_innen zu ihren Mitgliedern zählte, hat sich Anfang der 90er Jahre gespalten und sich schließlich in Luft aufgelöst. Und natürlich sind die Partigiani, die die Erinnerung an den Kampf gegen den Faschismus lebendig hielten, nicht mehr unter uns. Nach den 90er Jahren haben sich die Erben der Kommunistischen Partei in die Mitte verlagert, ihre Partei ist zur Partei der Institutionen geworden, in erster Linie der EU. Die politischen Parteien der linken Mitte sind nicht mehr von den technokratischen Regierungen Italiens zu unterscheiden, die seit drei Jahrzehnten eine neoliberale Agenda verfolgen, Arbeitnehmer entmachten und den Lebensstandard des Landes gesenkt haben, im Gegenteil regieren sie oft gemeinsam mit ihnen.
Drittens hat Giorgia Meloni der faschistischen Tradition und der extremen Rechten im Allgemeinen einen gemäßigten öffentlichen Auftritt verliehen. Ob sie eine „feminisierte“ Version des Faschismus anbietet, ist eine Frage, über die man lange diskutieren kann (die Mehrheit ihrer Wähler sind Männer), aber im Vergleich zu Trump, Bolsonaro und Orbán schneidet sie PR-mäßig eindeutig besser ab. Sie ist der Öffentlichkeit seit geraumer Zeit ein Begriff und da sie schon als Teenager eine militante Politikerin war, erscheint sie vielen wahrscheinlich als Alternative zu Draghis technokratischer Regierung.
Herausforderungen für die Linke
Wenn Trotzki Recht hat und der Faschismus ein inhärent konterrevolutionäres Phänomen ist, dann bedeutet das, dass der Faschismus in Italien unmöglich auf dem Vormarsch sein kann und zwar aus dem einfachen Grund, dass es für die herrschende Klasse Italiens überhaupt keine revolutionäre Bedrohung gegeben hat. In der jüngeren Geschichte des Landes gab es nur wenige fortschrittliche linke Bewegungen (z. B. die streikenden Automobilarbeiter des GKN-Werks in der Nähe von Florenz), die nicht annähernd eine Gefahr für das kapitalistische System darstellten. Daraus folgt jedoch nicht, dass wir nichts zu befürchten haben. Das Ergebnis der italienischen Wahlen ist eine Ermutigung für die Rechtsextremen insgesamt, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes. Innerhalb des Landes dürfte Melonis Erfolg neofaschistische Straßentrupps ermutigen, allen voran die Forza Nuova, die erst vor einem Jahr in wahrhaft faschistischem Stil den Sitz der größten italienischen Gewerkschaft, des Allgemeinen Italienischen Gewerkschaftsbundes (CGIL), gestürmt hat. Außerhalb Italiens ermutigt der Erfolg von Meloni viele andere rechtsextreme Parteien, von denen einige enge Verbindungen zu den Fratelli d‘italia haben, z. B. Vox in Spanien, Orbán in Ungarn, Recht und Gerechtigkeit in Polen, Trump in den USA und Le Pen in Frankreich.
Es ist erwähnenswert, dass die letzten italienischen Parlamentswahlen eine rekordverdächtig niedrige Wahlbeteiligung (63 %) hatten. Abgesehen von der absoluten Zahl ist das fast 10 Prozentpunkte weniger als bei den letzten Parlamentswahlen 2018, einem der stärksten Rückgänge in der italienischen Geschichte. Sicherlich hat die Tatsache, dass es den Mitte-Links- und den Linksparteien im Gegensatz zur Rechten nicht gelungen ist, eine gemeinsame Wahlfront zu bilden, obwohl das italienische Wahlgesetz Koalitionen eindeutig belohnt, die Menschen von der Stimmabgabe abgehalten. Wie dem auch sei, in der Wahlenthaltung in Italien schlummert ein erhebliches politisches Potenzial. Es bleibt zu hoffen, dass es einer linken Kraft in naher Zukunft endlich gelingt, diese Wähler wieder für sich zu gewinnen und eine neue Bewegung aufzubauen, die in der Lage ist, die Rechtsextremen in Schach zu halten.
Welche linke Kraft auch immer in naher Zukunft entstehen wird, sollte sich zuallererst die Aufgabe stellen, Meloni zu bekämpfen. Um dieses Ziel zu erreichen, sollte die Linke Meloni zunächst als Verteidigerin der Eliten entlarven. Meloni folgt dem Standard-Drehbuch der extremen Rechten, indem sie sich als Anti-Elite und als Verteidigerin der entrechteten Bürger positioniert. In Wirklichkeit greift sie nicht die herrschende Klasse an, sondern nur Minderheiten. Für die Herrschenden ist sie das letzte Mittel, um ihre Privilegien zu schützen und den wirtschaftlichen Status quo zu erhalten. Die Aufgabe, Meloni zu entlarven, ist einfacher geworden, da sie sich, um sich politisch zu profilieren, offen auf die Seite des Establishments stellen musste, sowohl international (NATO, EU) als auch im Inland (italienische Arbeitgeberverbände und andere Wirtschaftseliten). Die Linke sollte sich darüber im Klaren sein, dass man von einer solchen politischen Bewegung keine wesentlichen Veränderungen erwarten kann.
Außerdem steht die neue Regierung vor der großen Aufgabe, die anhaltende Lebenshaltungskosten- und Energiekrise zu bewältigen. Es ist wahrscheinlich, dass Melonis Regierung das nicht schafft, was an sich schon eine große Chance für Veränderungen ist – aber was dann? Italien kann entweder wieder zu technokratischen Formen des Regierens zurückkehren, die seit Anfang der 90er Jahre die Standardoption für Italien sind, oder zu linken Alternativen. Aber um einen wirklichen Wandel zu erreichen, muss die Linke bei der Basis ansetzen und vor allem den großen Teil der Bevölkerung ansprechen, der nicht zur Wahlurne geht. Um das zu erreichen, ist es nicht genug, eine Wahlalternative zu schaffen; dieses Mal gab es eine solche: die Volksunion unter der Führung des ehemaligen Bürgermeisters von Neapel Luigi de Magistris. Italien braucht eine politische Kraft, die in der Lage ist, die Arbeiter_innenklasse mit einem von unten nach oben gerichteten Ansatz des Kampfes auf der Straße und in den Betrieben wieder einzubinden. Es ist wichtig, sich gegen Melonis Hetze gegen die LGBTQ-Gemeinschaft, Migranten und Muslime zu wehren. Dieser Kampf muss intersektional geführt werden und von einer Arbeter_innenklasse angeführt sein, die endlich in der Lage ist jene Eliten zu bezwingen, die Meloni letztendlich verteidigt.
geschrieben von Giulio DI BASILIO, 20. Oktober 2022 übersetzt Jakob Zelger