Donawitz 1919: Das Epizentrum der österreichischen Revolution
Die Zentren für die Industrieproduktion des Habsburgerreiches waren nicht nur in Wien, sondern vor allem in Böhmen, im niederösterreichischen Wiener Neustadt und im steirischen Leoben angesiedelt. In diesen kleineren Städten entstand eine mächtige Arbeiter_innenklasse, die nicht so eng an die Sozialdemokratie (SDAP) angebunden war, wie die wiener Arbeiter_innen. Das Alpine-Stahlwerk in Donawitz war einer der größten Industriebetriebe des Habsburgerreiches. Schon während des Hungerwinters 1916 war es in der Ortschaft zu Hungerdemonstrationen, Plünderungen und ersten spontanen Streiks gekommen. Auch der Jännerstreik, die größte Streikbewegung der österreichischen Geschichte (an ihr beteiligten sich über 750.000 Arbeiter_innen), führte in Donawitz zu sozialen Unruhen. Nach russischem Vorbild entstanden im ganzen Land Arbeiter_innenräte, welche Forderungen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Verbesserung der Lebensmittelsituation aufstellten.
Rätebewegung
Hans Hautmann und Rudolf Kropf argumentieren in ihrem Werk Die österreichische Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945: „Die Arbeiterräte nahmen Probleme von existenzieller Wichtigkeit selbst in die Hand und sicherten sich ihre Rechte aus eigener Kraft. Ihr historischer Verdienst war es, das Proletariat in den Städten, die Arbeitslosen, Invaliden, Heimkehrer Kriegswitwen- und Waisen (…) vor dem Hungertod bewahrt zu haben. Die Arbeiterräte wirkten bei der Lebensmittelaufbringung, der Wohnungsbewirtschaftung, im Kampf gegen Nahrungsmittelwucher und gegen Schleichhandel, bei der Arbeitslosenunterstützung, der sozialen Kinderfürsorge und im Gesundheitswesen. In diesen Fragen konnte nichts über ihren Kopf hinweg geschehen.“ Die direkte Organisierung des alltäglichen Lebens war in allen revolutionären Umbrüchen eine zentrale Aufgabe von Arbeiter_innenräten. Diese Rolle wurde den Räten vom linken Flügel der Sozialdemokratie zugesprochen. Otto Bauer und Friedrich Adler wollten die Räte als Institution der Arbeiter_innenbewegung in den bürgerlichen Staatsapparat integrieren.
Sie sollten die alltäglichen Probleme der Arbeiter_innen lösen, aber die großen Entscheidungen, besonders die über die Kollektivierung (Sozialisierung) von Unternehmen, sollten auf rechtlichem Wege beschlossen werden. Revolutionäre Sozialist_innen, allen voran Lenin, forderten: „Alle Macht den Räten“. Lenin sah in den Räten die Möglichkeit, das gesamte politische und wirtschaftliche Leben zu demokratisieren.
Sozialisierungskampagne
Angefeuert durch eine Hungersnot und die inspirierenden Beispiele der russischen und darauffolgenden ungarischen und bayrischen Räterepubliken, erlebte Österreich im Frühjahr 1919 eine nie da gewesen Radikalisierung. Auf diese Massenradikalisierung reagierte die Sozialdemokratie mit der Einrichtung einer eigenen Sozialisierungskommission, die am 14. März 1919 im Parlament beschlossen wurde. Die Führung der kommunistischen Partei sah darin nicht mehr als einen plumpen Trick, die Radikalität der Massen in geordnete Bahnen zu lenken. Auch wenn diese Analyse nicht falsch war, so beging die KP doch den Fehler zu übersehen, welche Hoffnungen sozialdemokratische Arbeiter_innen, die nach wie vor die große Mehrheit stellten, in diese Kommission steckten.
Donawitz
Heimo Halbrainer stellt in seinem Aufsatz April 1919: die sozialistische Republik Donawitz brillant dar, wie die Sozialisierung in Donawitz vonstattenging. Am 6. April versammelten sich über 5.000 Industriearbeiter_innen in Leoben. Die sozialdemokratischen Redner wurden von der aufgebrachten Menge ausgepfiffen und von der Bühne verjagt. Die kommunistischen Redner forderten die uneingeschränkte Solidarität mit der ungarischen Räterepublik und die Sozialisierung des Hüttenwerkes in Donawitz sowie des Kohleabbaus in Seegraben. Am Montag, 7. April, marschierte eine Gruppe Arbeiter_innen in das Büro von Emanuel Baumgartner und erklärte den Chef kurzerhand für abgesetzt. Am Abend desselben Tages trafen sich um die 3.000 Arbeiter_innen, um einen Arbeiterrat zu wählen.
Dieser bestand aus zwei Angestellten, zwei Ingenieuren und zwei Arbeitern. Kommunisten und Sozialdemokraten waren nahezu gleich stark vertreten, zum Vergleich: bei Rätewahlen in Wien erhielt die KPÖ bestenfalls 10 Prozent der Stimmen. Der Arbeiterrat führte direkt den 8-Stunden-Tag ein, wollte die Produktion aber fortsetzen. Um das zu gewährleisten, nahm er Kontakt mit den streikenden Bergarbeitern in Seegraben auf. Inspiriert durch das Donawitzer Beispiel wurde auch in Seegraben ein Arbeiterrat aus sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeitern gewählt und der Betrieb sozialisiert. Die Lieferung von Kohle und Stahl nach Donawitz sollte ungestört weitergehen. Gleichzeitig wurden Arbeiter_innen ausgeschickt, um in den umliegenden Wäldern nach Wild zu jagen.
Hinhaltetaktik der Regierung
Die Arbeiter_innen in Donawitz und Seegraben hofften auf die Unterstützung durch die sozialdemokratische Sozialisierungskommission. Doch am 9. April trafen sich sozialdemokratische Parteimitglieder mit Funktionären aus Wien und Graz und diskutieren über die Zurückdrängung des kommunistischen Einflusses in Donawitz und Seegraben. Ein erster Schritt war die Weigerung von Regierungsvertretern, mit kommunistischen Mitgliedern des Arbeiterrates zu verhandeln. Daraufhin legte der Kommunist Johann Perosch seine Stelle „im Interesse der Allgemeinheit“ nieder. Diese Schwächung nutzten die sozialdemokratischen Vertrauensleute, um die Art der Sozialisierung zu verurteilen. Obwohl dem Direktor kein Haar gekrümmt wurde, maximal ein zwei Puffe hatte er erhalten, entstand die Lügengeschichte von nach Blut dürstenden Kommunisten.
Der von Kommunisten gesäuberte Arbeiterrat traf sich am 10. April mit Vertretern der Alpine-Montangesellschaft. Auf diesen Treffen versuchte Otto Bauer die sozialdemokratischen Arbeiter_innen davon zu überzeugen, dass ihre Art der Sozialisierung nicht im Interesse der Partei sei. Sie sollten warten, bis offizielle Gesetze beschlossen werden würden. Die Verhandlungen endeten mit einigen kleinen sozialen Verbesserungen. Der Betrieb wurde aber wieder unter die Kontrolle der Manager gestellt und sollte zu einem späteren Zeitpunkt sozialisiert werden.
Am 15. Mai 1919 wurde mit der gesetzlichen Einführung von Betriebsräten ein weiteres Zugeständnis an die Arbeiter_innenbewegung gemacht. Die Betriebsräte sollten die Arbeit der Bosse überwachen, aber nicht an ihre Stelle treten. Ende 1919 kaufte der italienische Fiat-Konzern die Alpine-Montangesellschaft. Dadurch wurde Bauers Versprechen einer geordneten Sozialisierung nichtig und viele sozialdemokratische Arbeiter_innen wandten sich den Kommunisten zu.
Antikommunistische Hetzjagd
Am 8. April folgte eines der dunkelsten Kapitel der sozialdemokratischen Geschichte. Der sozialdemokratische Staatskanzler Karl Renner erteilte eine Anweisung an die steirische Landesregierung, Kommunist_innen, die nicht in (Deutsch-) Österreich geboren waren, über die Grenze abzuschieben. Die Parteiführung im Bezirk Leoben unterstützte die Polizei dabei, Listen von Kommunist_innen anzufertigen. Der Großteil der Abgeschobenen, unter ihnen Führungsfiguren der KPÖ wie Kislinger oder die gewählten Arbeiterräte Drasche-Schachts, Anton King und Andreas Zalesnik, stammten allesamt aus der Steiermark.
Die KPÖ stand dieser schonungslosen Brutalität hilflos gegenüber, es gelang ihr nicht schnell genug, eine Solidaritätskampagne mit den Verhafteten zu organisieren. Einerseits weil die Partei zu klein und unerfahren war, um gegen solche Methoden vorzugehen, andererseits weil seit ihrer Gründung einen Streit über die Frage der kommunistischen Machteroberung die Partei lähmte. Elfriede Friseländer und später Ernst Bettelheim vertraten die Auffassung, dass sich die KPÖ gegen den Willen der Mehrheit der Arbeiter_innen an die Macht putschen könnte. Sowohl im November 1918 als auch im April 1919 kam es zu halbherzigen kommunistischen Aufstandsversuchen in Wien, welche die SDAP nutzte, um die KPÖ als Putschpartei darzustellen. Diese Wahrnehmung der KPÖ als Partei des antidemokratischen Putsches vereinfachte die sozialdemokratische Repression.
Antifaschismus
Nach der Machteroberung der Nazis in Österreich wurde die Alpine-Montangesellschaft in die Reichswerke Hermann Göring überführt. Im Werk entstand die österreichische Freiheitsfront, diese leistete im Bündnis mit slowenischen „Fremdarbeiter_innen“ bewaffneten Widerstand gegen die Nazis. Einer der Partisanen, Max Muchitsch, beschreibt in seinem Werk Die Partisanengruppe Leoben-Donawitz, wie am 8. Mai 1945 der NS-Werkschutz durch Arbeiter_innen und Partisanen entwaffnet wurde und das Unternehmen durch einen demokratischen Ausschuss aus Kommunisten und Sozialdemokraten sozialisiert wurde.
Auch wenn der Kampf der Donawitzer Arbeiter_innen in einer Niederlage endete, so kommt ihnen dennoch der einzigartige Verdienst zu, gezeigt zu haben, dass wir unsere Bosse nicht brauchen und dass Widerstand selbst unter den Bedingungen des Faschismus möglich ist.