Terror für den Frieden: Friedrich Adler und die Revolution

Am 21. Oktober 1916 erschoss der Sozialdemokrat Friedrich Adler, aus Protest gegen den Ersten Weltkrieg, den Ministerpräsidenten Stürgkh. Die Sozialdemokratische Partei (SDAP) distanzierte sich von dem Attentat und bezeichnete Adler als geistesgestört. Zwei Jahre später rettete er, zur Ikone des linken Flügels aufgestiegen, die Partei vor der Spaltung und verhinderte die Vollendung der Revolution.
5. August 2019 |

Als Marxist_innen gehen wir, im Gegensatz zur herrschenden Geschichtsauffassung, nicht davon aus, dass Geschichte von großen Männern (seltener auch Frauen) gemacht wird. Für uns ist Geschichte nur aus einer Doppelperspektive zu verstehen, einerseits aus den Erfahrungen der „einfachen“ Menschen und ihren Kämpfen für eine gerechtere Welt, in Marx’ Worten: „Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen“, und andererseits den damit verknüpften objektiven Faktoren, wie wirtschaftliche und geopolitische Entwicklungen. Trotzdem wäre es antimarxistisch, die Rolle von einzelnen Individuen bei gesellschaftlichen Umbrüchen zu verleugnen. Erneut Marx: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen Umständen.“

Es besteht eine Wechselwirkung zwischen Individuen bzw. Parteien und der Arbeiter_innenbewegung. In diesem Sinne versuchte der russische Revolutionär Leo Trotzki in seiner Geschichte der Russischen Revolution und seiner kurzen Studie über Lenins Rolle in der russischen Revolution zu zeigen, wie Lenin und die Bolschewiki zuallererst von den Kämpfen der Arbeiter_innen lernten, diese genauso aber auch prägten und sie in eine revolutionäre Richtung kanalisierten.

Norbert Leser zeigt in seinem Buch Zwischen Reformismus und Revolution: der Austromarxismus als Theorie und Praxis wie die Politik der Sozialdemokratie „nicht darin bestand die Initiative, sondern die Initiativlosigkeit, den passiven Radikalismus auf die Massen zu übertragen und die solchermaßen nicht wie Lenin zur Tat fortriss sondern zur Untätigkeit verdammte.“ Die Wechselwirkung ging also bei der österreichischen Sozialdemokratie in die umgekehrte Richtung. Die Massen bewirkten die Radikalisierung der SDAP nach links, während die SDAP versuchte, die Arbeiter_innen vermittels Reformen zu deradikalisieren.

Friedrich Adler repräsentierte den linken Rand der SDAP und war das Bindeglied zwischen den revolutionären Arbeiter_innen und der konterrevolutionären Parteiführung. Genau in dieser Rolle übte er entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Arbeiter_innenbewegung in der österreichischen Revolution aus.

Erster Weltkrieg

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, unterließen es die jeweiligen sozialdemokratischen Parteien, gegen diesen Krieg zu mobilisieren. Viktor Adler, der Chef der SDAP und Vater von Friedrich Adler, rechtfertigte die Tatenlosigkeit mit zwei Argumenten: Der österreichische Staat sei progressiver als das russische Zarenreich und deshalb zu unterstützen, und zweitens würde eine aktive Mobilisierung gegen den Krieg die Partei in die Illegalität drängen und sie dadurch gefährden.

Sein Ziel war es, die Partei über den Krieg zu retten, um nach Kriegsende Einfluss auf die Neugestaltung Österreichs zu erhalten. Friedrich Adler glaubte nicht daran, dass die SDAP stark genug sei, den Krieg zu verhindern, genauso wenig Vertrauen hatte er in die Arbeiter_innenbewegung. Das Argument des Fortbestands der Partei musste ihn überzeugen, obwohl er gegen den Krieg war. Doch verlangte er, die Partei sollte sich agitatorisch gegen den Krieg stellen.

Auf dem Parteitag der SDAP 1915 versuchte Friedrich Adler einen Beschluss in diese Richtung durchzubringen. Doch sein Antrag erhielt nur 10 Prozent der Stimmen. Nach dieser Niederlage erklärte Adler seinen Rücktritt von allen politischen Ämtern. Doch das wurde nicht akzeptiert, ein Beispiel für die Strategie der SDAP-Parteiführung, die Einheit der Partei sicherzustellen: Linke Kritiker_innen wurden nicht ausgeschlossen sondern ihre Kritik ignoriert bzw. demokratisch niedergestimmt, bei gleichzeitiger Betonung, wie wichtig diese rebellischeren Stimmen doch für die Entwicklung der Partei seien.

Zentrismus

Nach der Niederlage am Parteitag versuchte Friedrich Adler, die Parteilinke neu zu formieren. Gemeinsam mit seinem Bruder Max Adler, Theresa Schlesinger, Gabriele Proft und einigen anderen gründete er den „Bildungsverein Karl Marx“. Politisch stand der Verein zwischen Reformismus und Revolution, was als Zentrismus bezeichnet werden kann.

Die revolutionäre Position gegenüber dem Krieg wurde von den Bolschewiki und Lenin repräsentiert. Diese forderten die Umwandlung des Krieges der Nationen in einen Bürgerkrieg der Klassen. Russische und österreichische Arbeiter_innen sollten gemeinsam gegen die Kriegstreiber kämpfen, anstatt sich gegenseitig abzuschlachten.

Friedrich Adler hielt diese Position für Spinnerei. Revolutionen sind für ihn langfristige Prozesse, in denen die Arbeiter_innenklasse Stück für Stück ihre Macht ausbaut und befestigt, vergleichbar mit einem Stellungskrieg. Dementsprechend war es für ihn unmöglich, dass mitten im Krieg ein Sturmangriff mit Massenstreiks und Aufständen gegen den Staatsapparat erfolgsversprechend sei.

Der russische Revolutionär Karl Radek polemisierte: „Ihre Politik besteht darin, daß sie dieselbe Revolution, die sie theoretisch auf dem Papier anerkennen, zu einer Programmphrase machen, die man bei großen Gelegenheiten, bei großen Paraden gebraucht, ohne daran zu denken, auch mit der Tat für die Vorbereitung einer Revolution zu wirken.“

Angst der Herrschenden

Diese zwei Punkte, sein Festhalten am Prinzip der Einheit der Partei und sein fehlendes Vertrauen in eine revolutionäre Entwicklung der Arbeiter_innenklasse, trieben Adler zu seinem heldenhaften Attentat. In der Hinrichtung des Massenmörders Stürgkh sah er die einzige Möglichkeit, gegen den Krieg zu protestieren. Adlers mutige Tat und seine öffentlichen und massenwirksamen Reden gegen den Krieg bei seiner Verhandlung machten ihn zum Helden der sich radikalisierenden Arbeiter_innenbewegung.

Während seiner Haft korrespondierte Friedrich mit seinem Freund Albert Einstein über dessen Relativitätstheorie, er selbst hatte seine Karriere als Physiker für den Kampf der Arbeiter_innenklasse geopfert. Im Jänner 1918 kam es in ganz Österreich zu Massenstreiks gegen den Krieg. Eine zentrale Forderung der streikende Arbeiter_innen war neben dem sofortigen Friedensschluss die Freilassung Adlers.

Massenversammlung im Jänner 1918 in Wiener Neustadt © CLIO – Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit


Im Zuge des Streiks entstanden Arbeiter_innenräte, diese wurden zum entscheidenden Faktor der Innenpolitik. Während der Novemberrevolution wurde Friedrich Adler aus dem Gefängnis entlassen. Vor seiner Entlassung hatte Victor Adler eine Konferenz mit dem Kaiser abgesagt, um seinen Sohn aus dem Gefängnis abzuholen. Kurzerhand stellte das Kaiserhaus deshalb dem Mörder des Ministerpräsidenten die kaiserliche Limousine zur Verfügung. Was alleine die Drohung einer Revolution schon ausrichten kann!

Die neugegründete Kommunistische Partei (KP) versuchte Friedrich Adler für sich zu gewinnen. Der Historiker Hans Hautmann schätzt, wäre es dazu gekommen, hätte sich der gesamte linke Flügel der SDAP und der Großteil der radikalisierten Arbeiter_innen der KP angeschlossen. Friedrich Adler lehnte das Angebot der KP ab. Er glaubte nicht an die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution und einer Räteregierung in Österreich.

Räte

Innerhalb der Rätebewegung war es Adlers zentrales Projekt, die KP in den demokratischen Debatten zu besiegen, dies gelang ihm. Entgegen den Ideen der Bolschewiki versuchte die österreichische KP, die Revolution ohne die Arbeiter_innen zu machen. Nicht über demokratische Debatte innerhalb der Arbeiter_innenräte sollte die Revolution beschlossen werden, nicht Massenstreiks und Massenaufstände sollten zur Revolution führen, sondern Hinterzimmertreffen und ausgeklügelte Putschpläne. Die KP-Putschversuche im Jahre 1919 waren halbherzig und scheiterten kläglich.

Die KP hatte in der industriellen Arbeiterklasse, die in der Volkswehr organisiert war (im Bild), wenig Rückhalt. Sie stützte sich mehr auf Arbeitslose. © ÖNB Bildarchiv


Am zweiten Rätekongress am 30. Juni 1919 zertrümmerte Friedrich Adler die politische Ausrichtung der KP. Grob zusammengefasst: Die Revolution kann nur das Werk der Arbeiter_innenklasse sein. Die Räte sind das demokratische Organ dieser Klasse. Wie kann die KP es wagen, Putschversuche zu starten ohne dies innerhalb der Räte zu diskutieren. Die Delegierten stimmten Adler zu und fassten den Beschluss, ein Revolutionsversuch darf nur nach Diskussion innerhalb der Räte unternommen werden. Auch wenn das Ziel der KP, die Revolution, richtig war, die Art und Weise wie sie es erreichen wollten, war falsch und Adler deckte diese arbeiter_innenfeindliche Politik der KP gnadenlos auf.

Der Kommunistische Jugendverband stellte 1919 in einer Broschüre die richtige Frage: „Nicht wollen oder nicht können.” Die Antwort darauf: Der subjektive Faktor des Nicht-Wollens verstärkte den objektiven Faktor des Nicht-Könnens. Die realen Bedrohungen, denen einen sozialistische Revolution gegenübergestanden hätte, erschienen durch das Nicht-Wollen als unüberwindbare Hindernisse.

Friedlich Adler war der ehrlichste und intelligenteste Politiker den die Sozialdemokratie jemals hervorgebracht hat. Aber genauso zeigt er, wie das Festhalten an der Einheit der Partei in revolutionären Zeiten dazu führt, den Kapitalismus zu retten anstatt ihn zu zerstören.

Jännerstreik 1918: Verraten und verkauft

Jännerstreik 1918: Verraten und verkauft