Ein Spaziergang durch Wiens Straßen an Silvester

Wie vor jedem Silvester kam es auch dieses Jahr zur altbekannten Diskussion um Böllerverbote und die bösen Jugendlichen, die „uns“ einfach nicht in Ruhe feiern lassen. Höchste Zeit, sich als Linke mit den jugendlichen „Chaoten“ zu solidarisieren und gegen die Verspießbürgerlichung von Partys anzukämpfen.
16. Januar 2024 |

Böllern schadet der CO2 Bilanz, sind Geldverschwendung, belastet das Gesundheitssystem, ist Ausdruck „toxischer Maskulinität“ und überhaupt hat schon jemand an die armen Haustiere gedacht, so lassen sich die Argumente der „besorgten Bürger“. Das Partys keine Vernunftwettbewerbe sind, sollte eigentlich jedem klar sein. Doch hinter der „gutgemeinten“ Kritik des Böllerns steckt eine Kombination von Rassismus und Klassenhass. Die offene Verachtung von armen Menschen für ihre angebliche Dummheit ist fester Bestandteil der bürgerlichen Kultur.

Der französische Schriftsteller Édouard Louis widmete diesem Thema ein Buch. In Wer hat meinen Vater umgebracht, schreibt er darüber, wie das proletarische Dorf seines Aufwachsens monatelang für große Feiertage sparte, damit einmal gefeiert werden konnte, ohne auf die Börse zu achten. Von reichen Menschen erhielten sie für diese „Unvernunft“ Verachtung, wie es auch aktuell zu sehen ist: „Ihr könnt euch nicht über die Inflation beschweren und tausende Euro für Böller ausgeben“ so der Social Media Tenor. Doch für Louis waren es gerade diese Feiertage, die ihn stolz auf seine Herkunft machten.

Biedermeier im 7. Bezirk

Ein Silvesterspaziergang durch Wien demonstriert das Offensichtliche. Am meisten und am lautesten knallt es in den migrantisch-proletarischen Bezirken. Im 7. Bezirk herrscht Zombieatmosphäre, hinter vergitterten Fenstern wird bei Guacamole und Sekt auf die erfolgreichen aktivistischen Kunstprojekte des vergangenen Jahres angestoßen. Das Biedermeierleben der studentischen Hauspartys wird hier zelebriert. Während Feste eigentlich davon leben, andere Menschen kennenzulernen, beruhen die Silvester-Partys der Akademiker darauf, dass bloß keine anderen Menschen da sind. Sie könnten ja durch falsche Vokabular oder Mikro-Aggressionen die Behütetheit des eigenen Freundeskreises verletzen.

Während auch der Ring keine besonders interessante Party-Location ist, kann man den Menschen, die dort feiern, zugute zuhalten, dass sie Gemeinsamkeit suchen. Die durchschnittliche österreichische Bevölkerung von Hackler bis Migrantenfamilien feiert hier. Die Kinder reagieren auf jedes Feuerwerk mit freudestrahlenden Augen, und die Eltern haben sich extra hübsch gemacht. Selbst die in Pelzmäntel gekleideten Frauen und Männer der Oberschicht, die sich gegenüber der Oper versammeln, reagieren entspannt auf die lautesten Explosionen. Lasst den Menschen doch für einen Tag ihren Spaß.

Leben im 10. Bezirk

Ganz anders der 10. Bezirk, hier sprüht es vor kollektivem Leben. Anders als Medien, Politik und Polizei uns glauben machen wollen, herrscht hier weder Bürgerkrieg noch wurde der Bezirk von aggressiven Jugendlichen in Beschlag genommen. Viel eher existiert eine relativ simple räumliche Aufteilung. Die Favoritenstraße ist die Flaniermeile für alle, die Seitengassen sind das Territorium der Böller und aus den Parks schießen Väter mit ihren Kindern Raketen in die Luft. Gestört wird das spaßige Zusammensein nur von der Polizei, die es sich nicht nehmen lässt, ab 11:15 mit 12 Wagen den Reumannplatz in Beschlag zu nehmen, begleitet von einem ORF Team, das spektakuläre Aufnahmen sucht, aber sich doch nicht ohne Polizei-Begleitung in die Seitengassen traut.

Ein Tag wie Silvester lebt davon, dass die vollständige Herrschaft der Polizei über den öffentlichen Raum gebrochen wird. Zu viele Menschen und zu viel Sprengkraft, als dass jede Seitengasse kontrolliert werden könnte. Dass Jugendliche, die ansonsten von Gesellschaft und Polizei ausgeschlossen werden, an diesem Tag die Straßen übernehmen wollen, ist begrüßenswert. „Jeden Tag gewinnt die Polizei gegen uns, heute ist das Kräfteverhältnis ausgeglichen“, so lässt sich die Perspektive ausdrücken. Dass Leute diese Chance nutzen, um mal einen Zigarettenautomaten zu plündern, sollten Linken feiern, anstatt sich ins Biedermeierleben des 7. Bezirkes zurückzuziehen.