Frankreich: Der Staat verliert die Kontrolle über die Bevölkerung

Emmanuel Macron ist der verhassteste Präsident der Geschichte Frankreichs. Der sowohl breite als auch militante Massenaufstand der Gelbwesten-Bewegung könnte ihn zum Rücktritt zwinge, berichtet Jad Bouharoun aus Paris.
11. Dezember 2018 |

Es ist klar, dass das Gesetz zur Spritpreis-Erhöhung von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nur der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.

Die sogenannte Gelbwesten-Bewegung bildete sich nach über einem Jahrzehnt ökonomischer Krise, massiver Sparmaßnahmen und Kürzungen durch die europäischen Regierungen. Auch in Frankreich haben die Auswirkungen die breite Bevölkerung, die Arbeiter_innenklasse, getroffen. Aus dieser Lage heraus plant Macron weitere brutale, neoliberale Maßnahmen: Kürzungen und Privatisierungen im öffentlichen Dienst, Angriffe auf Pensionen und Arbeiterrechte sowie die neue Spritsteuer, die im Namen des Umweltschutzes durchgesetzt werden sollte.

Macron als Umweltschützer?

In den Medien wird Frankreichs Präsident als Gegner des Umweltfeindes Trump als grüner Held gefeiert. Gleichzeitig hat seine Regierung keine Probleme damit, den Klimaschutz neoliberalen Kapitalinteressen unterzuordnen. Das zeigt sich vor allem im Transportsektor, wo Macron damit begonnen hat, das Eisenbahnnetz zu privatisieren: unprofitable, kleine Stationen am Land werden aufgelassen und die Ticketpreise angehoben, was weitreichende Folgen für Umwelt und Menschen bedeutet. Diese werden gezwungen, auf Autos oder die zunehmend privatisierten Dieselbusse umzusteigen. Auch werden für höhere Profite Gütertransporte von der Schiene auf die Straße verlegt.

Wenn die Regierung jetzt versucht, die Proteste gegen die Spritpreiserhöhung als Anti-Umweltschutz-Bewegung darzustellen, ist allen klar, wie verlogen sie ist. Die grüne Aktivistin Louise Moulin hat es sehr gut zusammengefasst: „Für diese Menschen, die weit entfernt von ihren Arbeitsplätzen und öffentlichen Dienstleistungen wohnen, sind Sprit- und Brotpreis gleichbedeutend.“

Grüne Aktivist_innen und Gelbwesten haben verstanden, dass Umwelt und Sozialstaat unter Macrons Gesetzgebung den Kapitalinteressen geopfert werden. Deswegen bringen sich Umweltaktivist_innen in der Bewegung ein, um ihre Forderungen zum Ausdruck zu bringen.

Präsident der Reichen

Schon vor dem ersten Protest der Gelbwesten wurde Macron in der Bevölkerung als Präsident der Reichen wahrgenommen. Nach knapp über einem Jahr im Amt ist er, von den Liberalen als Retter der Europäischen Mitte gefeiert, der meistgehasste Präsident in der Geschichte Frankreichs. Mit nur 20% Zustimmung in den Umfragen hat Macron das vorherige Rekordtief von François Hollande unterboten, welcher selbst das von Vorgänger Sarkozy geschlagen hatte. Diese zehnjährige Reihe meistgehasster Präsidenten bietet einen guten Einblick in das derzeitige Empfinden der Bevölkerung.

In diesem Zusammenhang wird die Polarisierung Frankreichs verständlich. Auf der einen Seite gab es in den vergangenen Jahren eine steigende Zahl an Arbeitskämpfen mit Streiks großer Branchen, Besetzungen von Schulen und Universitäten, Streiks und Besetzungen von undokumentierten Migrant_innen und einige sehr radikale Bewegungen, die aus diesen Kämpfen hervorgingen. Gleichzeitig sieht man die Polarisierung nach rechts, wie die 11 Millionen Stimmen für die Faschistin Marine Le Pen und ihre Partei Front National in der Präsidentschaftswahl letztes Jahr zeigen.

Auf dieser Basis ist die Gelbwesten-Bewegung entstanden. Zunächst ist es wichtig zu erkennen, dass die überwiegende Mehrheit der Protestierenden Teil der Arbeiterklasse ist: Arbeitende, Arbeitslose, Pensionierte, alleinerziehende Mütter, die mehrere Jobs zur Bewältigung des Alltags ausüben müssen. Sie alle eint, dass sie nicht genug Geld zum Leben haben und ihr Hass auf Macron, dessen Rücktritt sie fordern.
Die Gelbwesten-Proteste bewegen sich allerdings außerhalb der organisierten Arbeiterklasse. Die Aufständischen sind nicht Mitglieder in Gewerkschaften, leben meist abseits größerer Städte und arbeiten in kleinen Betrieben.

Anatomie der Proteste

Das hat Auswirkungen auf das Erscheinungsbild der Proteste. Die größten Demonstrationen gibt es in Paris, doch eine Vielzahl an kleinen Versammlungen, an denen nur wenige hundert Personen beteiligt sind, finden in ganz Frankreich statt. Es werden „Filter-Blockaden“ auf Straßen organisiert, ähnlich den Streikposten vor Fabriken, bei denen sie um Mitstreiter werben.

Gelbwesten organisieren eine Straßenblockade © Obier (CC BY-SA 4.0)

 

Alle diese Punkte zeigen den uneinheitlichen Charakter der Bewegung, also die unterschiedlichen Ideen der Gelbwesten. Die Menschen, die in Aktion treten, verwenden Symbole, die gewöhnlich nicht von Linken und Gewerkschaftern verwendet werden, wie die französische Nationalflagge, sie singen die Nationalhymne und sagen Dinge wie „die Polizei sollte auf unserer Seite stehen“.

Weiters versuchten Rechtsextreme die Bewegung über soziale Medien zu kapern und stellten sich als ihre Sprecher dar. Es gibt zwar Führungspersonen, diese sind aber keine langjährigen Aktivist_innen. Es sind Frauen und Männer, die sich durch ihre Ausstrahlung und ihren Kampfgeist hervorgetan haben und Menschen in Aktivität ziehen können. Viele von ihnen haben sich klar gegen die Kaperversuche der Rechtsextremen gestellt, sowohl in den sozialen Medien als auch auf den Versammlungen.

Die Menschen hinterfragen aufgrund der Proteste die herrschenden Ideen, welche sie in der Vergangenheit noch wie selbstverständlich akzeptierten: Dinge wie „wir sind alle Franzosen, Reiche und Arme sollten gemeinsam kämpfen“ oder „die Polizei ist hier, um uns zu beschützen“ und in manche Fällen sogar homophobe oder rassistische Äußerungen. Letzteres darf bei dem Rassismus, der von Le Pen aber auch von den anderen großen Parteien und in den Medien geschürt wird, nicht verwundern.

Der Hass auf die Polizei ist gerechtferitgt. Schüler_innen welche eine Schule besetzt haben müssen sich vor der Polizei hinknien © Screenshot Twitter

 

Linke muss eingreifen

Es besteht die Versuchung für radikale Linke, sich aus den Protesten herauszuhalten, weil die Symbole nicht links genug sind. Das ist eine verheerende Haltung und nur eine winzige Minderheit in der Linken greift sie auf. Die zweite, weiter verbreitete Position ist, die Proteste wie sie sind zu bejubeln und vor dem Rassismus die Augen zu verschließen.

Der überwiegende Teil der radikalen Linken und der Gewerkschaften sehen die Notwendigkeit, in die Proteste einzugreifen, um die eigenen Ideen und Argumente in die Bewegung zu bringen – aus dem einfachen Grund, dass es einen Unterschied gibt zwischen den Ideen der Gelbwesten und dem, was sie tatsächlich tun. So werden etwa Menschen, die glauben, dass die Polizei uns schützt, anders darüber denken, wenn sie einen Tag lang von Polizisten gejagt wurden und in Kämpfe verwickelt waren.

Es wird sichtbar, dass Gewalt vor allem von der Polizei ausgeht. Allein am Samstag, 1. Dezember hat sie in Paris 10.000 Granaten verschossen. Mehrere Menschen verloren Gliedmaßen, ein junger Mann befindet sich im Koma, nachdem ihn ein Gummi-Geschoss am Kopf traf und eine 80-jährige Frau wurde von einer Polizei-Granate getötet, als sie am Fenster stand. Diese Bilder bringen Millionen Menschen dazu, ihre Einstellung zur Polizei als Helfer zu überdenken und zu erkennen, dass diese lediglich die Reichen schützt.

Teile der antirassistischen Bewegung schlossen sich den Protesten an, um ihre Forderungen einzubringen. Assa Traoré, eine schwarze Aktivistin gegen Polizeigewalt, erklärte auf einem öffentlichen Plenum vor Hunderten: „Wenn wir, Schwarze und Araber aus Arbeitervierteln, uns den Gelbwesten-Protesten nicht anschließen und die Rechtsextremen rauswerfen, kann die Bewegung gegen uns verwendet werden. Die Gelbwesten reden von Armut und Arbeitslosigkeit, vom Fehlen öffentlicher Dienstleistungen. Wer kennt diese Probleme besser als die Armen mit Migrationshintergrund? Unser rechtmäßiger Platz ist in dieser Bewegung, Seite an Seite mit den Gelbwesten.“

Das ist ein sehr wichtiger Schritt, da wir eines aus den vergangenen Jahren lernen können: Kämpfe wie Streiks, Demonstrationen und Besetzungen verringern Rassismus nicht automatisch, bieten aber die Grundlage für antirassistische Interventionen. Dieser Kampf um Antirassismus ist einerseits wichtig, um die Bewegung für Minderheiten zu öffnen und Rechtsextreme rauszuschmeißen. Gleichzeitig macht er die Bewegung immun gegen Versuche der Herrschenden, sie mit antimuslimischem Rassismus zu spalten.

Der arrogante Präsident Macron hat bereits Zugeständnisse gemacht und die anderen Parteien um Hilfe gerufen. Das zeigt, in welch tiefer Krise er sich momentan befindet. Die Gelbwesten-Bewegung hat die großen Widerstandsherde der letzten Jahre in Schulen, Universitäten und der antirassistischen Bewegung neu entflammt. Täglich wird der Protest breiter. Wie sich die Bewegung weiter entwickelt, ist noch unklar. Was sie bereits erreicht hat: Hunderttausende haben sich aus den Reihen unbeteiligter Zuseher ins Rampenlicht gestellt. Daraus kann der Niedergang Macrons und eine große Gefahr für die herrschende Klasse Frankreichs entstehen.

Aus dem Englischen von Jakob Zelger.