Geburt des Neoliberalismus aus der österreichischen Konterrevolution

Das Ziel des Neoliberalismus ist nicht einfach "mehr Privat - weniger Staat". Er zielt darauf ab, den Kapitalismus vor der Bedrohung durch die Arbeiter_innenbewegung zu schützen. Sowohl ein starker Staat als auch internationale Institutionen sind für diesen Schutz zuständig. Der Geburtsort dieser Ideen ist Wien. Es waren österreichische Wirtschaftstheoretiker, die aus Angst vor der Macht der Arbeiter_innenbewegung den Wirtschaftsliberalismus als Ideologie des selbstbewussten Bürgertums formierten.
11. Juni 2020 |

Der britische Marxist Chris Harman betont, dass wenn wir versuchen den Neoliberalismus zu analysieren, dann müssen wir unterscheiden zwischen den „Ansprüchen der Ideologie und dem was diejenigen, die sie vertreten, tatsächlich tun“. Während sich die Vertreter des Neoliberalismus in Worten immer für eine Entbürokratisierung, Verschlankung des Staates oder die Depolitisierung der Wirtschaft aussprechen, waren die Gründerväter Ludwig Mises und Friedrich Hayek zeit ihres Lebens leidenschaftliche Verfechter eines autoritären Staates. Zitternd vor der sozialistischen Weltrevolution suchten sie ein Bündnis mit dem Staat – notfalls auch mit dem Faschismus.

Welthandel vor 1914

Der Erste Weltkrieg brachte die als erste Globalisierung bekannte Epoche von 1870-1914 zu einem abrupten Ende. An die Stelle des neu entstandenen Weltmarktes, auf dem im Unterschied zu vorhergegangenen Epochen nicht nur Luxusgüter, sondern auch Industrieprodukte und Finanzdienstleistungen massenhaft gehandelt wurden, trat die Phase des Kriegskollektivismus: Ausländisches Eigentum wurde beschlagnahmt, Ressourcen-Rationierung trat an die Stelle des Spiels von Angebot und Nachfrage. Die Zerstörung der beiden mächtigen Imperien der Habsburger und des Osmanischen Reichs führte zu einer weiteren Nationalisierung der Wirtschaft.

Zurück in die Zukunft

Gegen diese Entwicklungen versuchten die neoliberalen Vordenker, allen voran Ludwig Mises, internationale Institutionen zu setzen. Das Recht dieser Institutionen sollte über den nationalen Rechten stehen und dadurch den Kapitalismus vor der Demokratie schützen. Der Völkerbund und vor allem die Internationale Handelskammer ICC waren die ersten beiden Institutionen, in denen die Wirtschaftsliberalen versuchten, ihre Idee eines Weltmarktes durchzusetzen. Auch wenn die ICC niemals dieselbe globale Vormachtstellung erlangte, wie deren (indirekte) Nachfolgerin, die Welthandelsorganisation WTO, so feierten die Wirtschaftsliberalen doch einen ideologischen Erfolg. Es gelang ihnen, die Ideologie eines kapitalistischen Internationalismus salonfähig zu machen.

Quinn Slobodian fasst in seinem interessanten Buch Globalisten das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus die zentralen Ideen des ICCs zusammen: „Der Respekt vor dem Privateigentum musste Vorrang vor dem nationalen Recht haben. Die Unternehmen mussten bei grenzüberschreitenden Investitionen vor Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit und vor der Enteignung geschützt werden“.
Den ersten Erfolg auf internationaler Bühne feierten die österreichischen Ideengeber der ICC bei der Weltwirtschaftskonferenz 1927. Die USA entschied sich zu einer allgemeinen Senkung der Zölle, die meisten europäischen Staaten folgten. Doch nach der Weltwirtschaftskrise 1929 erhöhte die USA mit dem Smooth-Hawley-Gesetz erneut die Zölle und die restliche Welt folgte. In Zöllen sehen die Wirtschaftsliberalen einen Eingriff des nationalen Staates in den globalen Kapitalismus, welcher durch ein internationales Rechtssystem verhindert werden soll.

Erst nach 1945 kam die Idee des Abbaus von Zollschranken und eines globalen Handels, angeführt durch die USA – in Abgrenzung zur Sowjetunion – wieder in Mode. Der wirtschaftspolitische Siegeszug des Neoliberalismus setzte erst in den 70er Jahren, begünstigt durch die Ölpreisschocks und fallende Profitraten, ein.

Feinde fürs Leben

Der entscheidende historische Moment für die Formierung des Liberalismus der „Österreichischen Schule“ als Ideologie war aber nicht die Sorge um den Weltmarkt, sondern die Furcht vor der russischen Revolution und der Hass auf die Arbeiter_innenbewegung. Wie alle klugen Köpfe dieser Zeit erkannte Mises die Sogwirkung, welche die russische Revolution auf die Arbeiter_innen aller Welt ausübte. Er erlebte die massenhafte Meuterei der k.u.k. Soldaten als Artillerieoffizier mit und beschrieb Lohnverhandlungen in dieser Zeit als Verhandlungen mit der „Pistole unter dem Tisch“. Er wusste, dass die Pistole der Arbeiter_innen die gefährlichere war. „Die Sozialdemokratie könnte jeden Augenblick durch Streiks das ganze Wirtschaftsleben lahmlegen“, genauso verfügte sie über eine „Parteiarmee die an Mannschaftszahl mindestens dreimal so stark war wie die Truppen der Regierung“.

An diesen Passagen merkt man: Mises steht auf demselben wissenschaftlichen Standpunkt wie revolutionäre Sozialist_innen. Auch wenn er nicht vom Klassenkampf spricht, er weiß, dass der Interessensgegensatz von Arbeiter_innen und Bossen unüberwindbar ist. Der entscheidende Unterschied zwischen ihm und uns: Er steht auf der anderen Seite.

Pistolen muss man nützen

Mises lernte den führenden Theoretiker des Austromarximus Otto Bauer in einem Seminar von Eugen Böhm-Bawerk kennen. Böhm-Bawerk war ebenfalls ein wissenschaftlicher Vordenker des Neoliberalismus und einer der intelligentesten, obwohl falsch liegenden Marx-Kritiker der Geschichte. Genauso wie Bauer wusste Mises, dass die Arbeiter_innen- und Soldatenräte im Frühjahr 1919 „jeden Tag die Diktatur des Proletariats aufrichten könnten“.

Gegen diese Bedrohung hoffte Mises auf einen militaristischen Staat. Wir können Mises‘ Interpretation der Geschichte der österreichischen Revolution, die er in seinen Memoiren darlegt, in das Reich der Mythen verbannen – „Bauer ist dem Vorsatz einer bolschewistischen Revolution in Österreich bis zum Winter 1918/19 treu geblieben. Damals gelang es mir, das Ehepaar Bauer zu überzeugen, dass ein bolschewistisches Experiment in Österreich in kürzester Zeit, vielleicht schon in wenigen Tagen, zum Zusammenbruch führen müsste“. Otto Bauer war aber nie ein Anhänger der Revolution, seine gesamte Kunst bestand im Vortäuschen einer revolutionären Haltung, während er in der politischen Praxis alles tat um die Arbeiterbewegung zu demobilisieren.

Neoliberalismus und Staat

Die Handelskammer, einer ihrer leitenden Funktionäre war Mises, setzte sich in den 20er-Jahren nicht nur für eine Senkung von Löhnen und Steuern ein, sondern sprach sich für „Antiterrorgesetze“ aus. Diese sollten Streiks unter Strafe stellen und den Einsatz des Bundesheeres gegen rebellierende Arbeiter_innen legitimieren. Diese Ideen wurden während der Februaraufstände in die Tat umgesetzt. Die Zerschlagung der Gewerkschaften, in deren Aktivität Mises den Grund für die Weltwirtschaftskrise 1929 sah, war das zentrale Projekt der Liberalen.

Mises befand sich während des Justizpalastbrandes 1927 in Wien und frohlockte über das Scheitern des Arbeiter_innenaufstandes. Der Justizpalastbrand war eine spontane Massenbewegung der Arbeiter_innenklasse, welcher von der Sozialdemokratie nicht für einen umfassenden Aufstand genützt wurde. Mises sah, dass auch die beste Pistole wertlos ist, wenn sie nicht abgefeuert wird. Ab jetzt gingen die Unternehmer in die Offensive und zerschlugen Stück für Stück die Sozialdemokratie.

Faschismus und Neoliberalismus

Mises war kein Anhänger des Faschismus, als Jude musste er 1934 vor der wachsenden Nazi-Bedrohung flüchten, ein Antifaschist war er aber noch viel weniger. „Der Faschismus ist voll von den besten Absichten und sein Eingreifen hat für den Augenblick die europäische Gesinnung gerettet“, so kommentierte er den Sieg Mussolinis. Obwohl er die antiliberale und wirtschaftsinterventionistische Politik des Faschismus ablehnte, sah er sie doch als das „kleinere Übel“ im Vergleich zur revolutionären Arbeiter_innenbewegung.

Die bürgerliche Klasse, welche von Mises als ihrem besten Denker repräsentiert wird, war immer nur solange demokratisch, solange die Demokratie taugte, den gesellschaftlichen Frieden zu gewährleisten. In wirtschaftlichen und sozialen Krisen pfeift sie auf diesen gesellschaftlichen Frieden. Wenn dies geschieht, kann ihr der Faschismus als eine Art Notbehelf dienen, um die Arbeiter_innenbewegung zu zerschlagen.
Gerade heute können wir von Mises eine wichtige Lektion lernen, nämlich dass die Hoffnung auf eine Versöhnung der Klassengegensätze eine Täuschung ist. Selbst wenn wir, genauso wie die Sozialdemokratie in den 20er-Jahren, versuchen den gesellschaftlichen Frieden zu bewahren, die bürgerliche Klasse hat daran kein Interesse.