Ghayath Naisse: „Flüchtlinge sind die Zukunft der syrischen Revolution“

Fünf Jahre nach Ausbruch der syrischen Revolution ist die Erinnerung an den Massenaufstand im Westen beinahe erloschen. David Albrich hat in London mit dem syrischen Revolutionär Ghayath Naisse von der „Revolutionären Linksströmung“ (RLC) über unerfüllten Forderungen der Revolution, die Fluchtbewegungen und über den Charakter und Umgang des syrischen Regimes mit Kurden und Palästinensern gesprochen.
2. August 2016 |

David Albrich: Die syrische Revolution hat als Volksaufstand begonnen, aber diese Erinnerung scheint heute wie ausgelöscht. Was ist der Bewegung passiert?

Ghayath Naisse: Von außen betrachtet ist diese Frage gerechtfertigt. Aber wenn man sich die Realität der heutigen Situation genauer anschaut, sind die grundsätzlichen Forderungen der syrischen Revolution noch immer da. Die Forderungen, die Millionen von Menschen dazu gebracht haben, das Regime von Bashar al-Assad anzugreifen, sind immer noch da: Gleichheit, Demokratie und Gerechtigkeit. Sie sind da, auch wenn sie wegen der Intensität der Repression, der Militarisierung der Revolution und der imperialistischen Interventionen unter die Oberfläche geraten.

Wir haben das in den letzten paar Monaten gesehen: Wann immer in einer Gegend die Intensität der Bombardements abgenommen hat, sind die Massenbewegungen sofort wieder erstarkt. Das ist sogar an Orten passiert, die das Regime kontrolliert. Die Dynamik der Revolution ist noch da.

Von welchen Regionen oder Städten sprichst du?

In den so genannten „befreiten“ Gegenden gibt es zum Beispiel die Bewegungen in der Region Ghuta östlich der Hauptstadt Damaskus, in Idlib, in Maraat al-Numan und in Sarakeb. In den vom Regime kontrollierten Gegenden gibt es Bewegungen in Salamiyya und Suwaida, in Dschabla und Latakia an der Küste. Und sogar zentral in Damaskus gibt es außerhalb des syrischen Parlaments Proteste gegen Inflation – auch, wenn diese Proteste von der „loyalen Opposition“ des Regimes angeführt wurden.

Unsere Rolle, die Rolle der syrischen Linken, ist die: Wir müssen diese verschiedenen Kämpfe verbinden und sie in einer vereinten Form als nationale Forderungen ausdrücken.

Wie sehen die vereinten Forderungen aus?

Man kann sie zusammenfassen als Forderungen nach Gleichheit, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Aber sie sollten auch einschließen, dass wir gegen religiös motivierte Konflikte und für nationale Souveränität sind. Denn es gibt so viele imperialistische Interventionen auf beiden Seiten, auf der für und gegen das Regime.

Der Aufstand ist schnell entstanden. Im zweiten Jahr der Revolution hat die Freie Syrische Armee (FSA) bis zu 60 Prozent von Syrien kontrolliert. Welche Ursachen siehst du für den Rückzug danach?

Das Regime hat extrem unpräzise und sehr zerstörerische Scud-Raketen gegen ganze Stadtzentren eingesetzt, willkürliche Bombardements und chemische Waffen und so weiter. Das Regime hat eine Politik der verbrannten Erde verfolgt. Das hat Verzweiflung verbreitet und Fluchtbewegungen von Millionen im Inneren und nach außen ausgelöst. Acht Millionen sind in Syrien selbst in Bewegung, fünf Millionen sind ins Ausland geflüchtet.

Die Flüchtlinge zeugen von der extremen Gewalt, die 2012 gegen die befreiten Gegenden begonnen hat. Aber an diesem Punkt gibt es noch etwas zu sagen: Die meisten, die Syrien verlassen haben, sind jung. Sie haben an der Revolution teilgenommen und kommen aus der Arbeiter_innenklasse. Die Solidarität mit Flüchtlingen sollte also nicht nur humanitär sein, sondern auch politisch. Diese Menschen sollten in die Kämpfe hier (im „Westen“, Anm.) eingebunden werden. Sie könnten die Kämpfe befruchten, weil sie eine Revolution erlebt haben. Sie sind die Zukunft der syrischen Revolution, aber auch der Weltrevolution.

Der Aufstand hat mit säkularen Forderungen begonnen. Aber gleichzeitig zur extremen Gewalt des Regimes haben wir verschiedene religiöse Konflikte erstarken sehen. Wie ist es dazu gekommen?

Mehrere Faktoren waren gleichzeitig am Werk. Zuerst hat das Regime 2011 und 2012 tausende Dschihadisten aus den Gefängnissen entlassen. Von denen hat es sehr genau gewusst, dass sie bewaffnete dschihadistische Gruppen gründen würden. Zweitens haben Interventionen aus dem Ausland begonnen, zuerst aus Katar und der Türkei, später aus Saudi Arabien. Sie haben dschihadistische Gruppen bevorzugt, die vormals eigentlich sehr klein waren, und haben sie mit viel Geld und Waffen unterstützt. Drittens konnten die Islamisten militärisch gut rekrutieren – weil das Regime so brutal war und die FSA es nicht genug herausfordern konnte. Das haben sie im Namen des „Islam“ in Syrien und außerhalb getan. Und natürlich hat auch eine Rolle gespielt, dass man dort tatsächlich bezahlt wurde.

Fast alle militärischen Interventionen werden damit gerechtfertigt, dass man den „Islamischen Staat“ (ISIS) bekämpfen müsse. Aber zwei Jahre später scheint es so, als wäre dieser Kampf eine aussichtslose Sache. Was sind die wirklichen Interessen der zwei großen involvierten Mächte – also der US-Koalition und Russlands?

Die USA haben den Irak nach einer Niederlage verlassen. ISIS war eine gute Ausrede, um in den Nahen Osten zurückzukehren. Nicht für eine Invasion, aber auf eine andere Art, um bei zukünftigen Entwicklungen mitreden zu können. Ihr Interesse liegt darin, den Zyklus der Gewalt weiterzutreiben und die Region bluten zu lassen. Das soll die Fundamente der Gesellschaft von Syrien, der Hisbollah, des Iran usw. schwächen. Das hilft ihrem Klienten Israel genauso.

Russland ist der Pate des syrischen Regimes geworden. Es hat große Militärbasen geschaffen. Es ist klar, dass die Russen jetzt ihren Einfluss in der Region langfristig ausbauen wollen.

Aber wenn es um Russland geht, sind manche in der Linken der Meinung, Putins Intervention sei irgendwie „antiimperialistisch“.

Seit Beginn der russischen Intervention im September 2015 bekämpfen sie nicht ISIS, al-Qaida oder al-Nusra. Statistiken zeigen, dass 90 Prozent der russischen Bombardements die Reste der FSA zum Ziel haben. Das sagt alles über die angeblich „antiimperialistische“ Rolle von Russland.

Ist das Regime selbst auf irgendeine Weise antiimperialistisch?

Nein. In Wirklichkeit war das Regime in der Vergangenheit sehr pragmatisch. Seine erste und letzte Sorge ist, wie es seine Macht erhält. Zum Beispiel im „Schwarzen September“ in Jordanien 1970, als die Palästinenser_innen von der jordanischen Armee massakriert wurden, hat Syrien den Palästinenser_innen Panzer zur Unterstützung geschickt – aber es war Hafez al-Assad, damals Verteidigungsminister, der sich geweigert hat, ihnen Luftunterstützung zu schicken und sie schließlich zurückgezogen hat. Im libanesischen Bürgerkrieg 1976 hat das Regime auf Seiten einer sektiererischen, rechten christlichen Miliz eingegriffen, gegen die so genannten progressiven arabisch-nationalen und linken Kräfte und die Palästinenser_innen – mit Unterstützung der Saudis und der USA.

Im libanesischen Bürgerkrieg in den 1980er-Jahren hat die syrische Armee den palästinensischen Widerstand im Libanon bekämpft. 1991 haben die syrische Armee und Hafez al-Assad am Golfkrieg gegen den Irak teilgenommen. Nach der Invasion des Irak 2003 hat das syrische Regime vermutet, dass es das nächste sein könnte – deshalb hat es den Dschihadisten die Türen geöffnet im Irak zu kämpfen. Als 2004 der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1559 getroffen hat, wonach die syrische Armee den Libanon verlassen müsse, ist es dem gefolgt. Damals hat es auch keinen antiimperialistischen Widerstand gegeben. Um 2005 war das syrische Regime komplett auf Linie mit dem „Extraordinary rendition“-Programm des CIA (Überstellung von Terrorverdächtigen, Anm.). Es war das ausführende Organ bei der Folter von vielen islamistischen Militanten für die CIA.

Manche Teile der Linken behaupten auch, dass das Baath-Regime (bzw. die Baath-Partei von al-Assad) soziale Standards sichert. Angesichts der sozialen Forderungen der Revolution: Wie schaut die Realität aus?

Das syrische Regime ist weder säkular noch antiimperialistisch noch auf irgendeine Weise sozialistisch oder progressiv. Als Bashar al-Assad 2000 an die Macht gekommen ist, hat das Baath-Regime die extremsten und folgenschwersten neoliberalen Reformen der ganzen Region durchgeführt. Schlimmer als Marokko, Ägypten oder Saudi Arabien. Weil es 30 Jahre lang erfolgreich die eigene Opposition unterdrückt hat, dachte es, es hätte freie Hand neoliberale Maßnahmen zu implementieren. Es dachte, es würde keinen Widerstand geben.

Was gibt es bezüglich des angeblichen Säkularismus des Regimes zu sagen?

Seit dem Coup von Hafez al-Assad 1970 war das Regime in keine Weise säkular. Das heißt nicht, dass es immer ein alawitisches Regime war. Aber aus Gründen der Sicherheit und der Stabilität hat sich das Regime sehr stark auf die Familie der Assads verlassen, auf ihre Generäle, Armee-Offiziere und ihren Sicherheitsapparat. Sie waren mehrheitlich Alawiten. Gleichzeitig gab es eine Allianz mit der reichen Geschäftsleuten, die nicht ausschließlich alawitisch sind, und mit lokalen Würdenträgern, die noch aus den traditionellen Stammesstrukturen kommen. Das alles sollte Zusammenhalt bringen.

Die islamische Religion ist immer noch Teil des offiziellen Lehrplanes. Im bürgerlichen Recht – Erbrecht, Eherecht etc. – haben alle Konfessionen, Juden, Christen, Sunniten und so weiter ihre eigenen Gesetze. Sogar die Verfassung, die Hafez al Assad 1973 geschrieben hat, um an der Macht zu bleiben, schreibt vor: Der Präsident der syrisch-arabischen Republik muss Moslem sein. Während seiner Herrschaft 1970 bis 2000 hat der baathistische Staat 1.400 so genannte „Assad-Institutionen für Koranerziehung“ und 12.000 Moscheen gebaut – mehr als die zwei muslimischen Regimes Marokko und Saudi Arabien zusammen.

Seit dem Beginn der Revolution hat der syrische Geheimdienst Videos gestreut, auf denen angebliche Alawiten – in Wahrheit sind es Sicherheitskräfte – Menschen foltern. Damit wollten sie Mobilisierungen aus religiösen Gründen erreichen, egal ob für oder gegen das Regime. Sehr bekannte Slogans des Baath-Regimes sind „Gott, Syrien und Assad“ und „Gott, komm vom Himmel herunter, so dass Bashar deinen Platz einnehmen kann.“ Das gab den Kämpfen einen fast heiligen, religiösen Charakter.

Wie ist die Haltung des Regimes zu den Kurd_innen im Norden und zu den Palästinenser_innen in den syrischen Flüchtlingslagern? Welche Beziehung haben die Revolutionär_innen zu ihnen?

Die Politik des Regimes gegenüber der kurdischen Bevölkerung hatte zwei Seiten, die es für seine Zwecke ausnutzt. Seit Jahrzehnten wurde sie unterdrückt. Am Tag, als die Revolution begann, gab es 250.000 bis 300.000 kurdische Syrer_innen, die in den vorhergehenden Jahren ihre Staatsbürgerschaft und ihren Zugang zu Sozialleistungen verloren haben. Es war ihnen verboten, ihre kurdische Kultur auszuleben. Es gab keine kurdischen Medien oder Schulen. Das kurdische Neujahrsfest (Newroz) war auch verboten. Das erklärt auch die kurdische Revolte, die 2004 in Qamischli begann.

Aber das alles hat das syrische Regime nicht daran gehindert, seine Beziehung zu verschiedenen kurdischen Parteien auszunutzen. Besonders im Bezug auf die Bedingungen der Kurd_innen in der Türkei. Zum Beispiel war Syrien offen das Exil für Abdullah Öcalans PKK – bis er 1998 unter Druck der Türkei ausgewiesen wurde. Zu Beginn der syrischen Revolution hat das Regime Zugeständnisse angeboten: Es erlaubte den Kurd_innen Newroz zu feiern, gab ihnen ihre Staatsbürgerschaft zurück und schließlich verließ die syrische Armee die kurdischen Gebiete und erlaubte der YPG, dem bewaffneten Flügel der kurdischen PYD, die Kontrolle zu übernehmen.

Die Frage der Palästinenser_innen unterscheidet sich davon sehr. Palästinenser_innen wanderten in zwei großen Wellen nach Syrien ein – 1948 und 1967. Vor dem Baath-Regime wurden diese zumindest rechtlich als syrische Bürger_innen behandelt – obwohl sie oft in Lagern untergebracht wurden und zu den ärmeren Teilen der Bevölkerung zählten. Im Vergleich dazu wurden sie im Libanon als Bürger_innen zweiter oder sogar dritter Klasse behandelt.

Als in den 1960er-Jahren der bewaffnete Widerstand der Palästinenser_innen begann, war dieser in der Region, aber ganz besonders in Syrien, sehr stark mit der radikalen Linken verbunden. Die palästinensischen Flüchtlingslager in Syrien wurden zu Zentren und Bastionen der radikalen Linken. Ich selbst musste mich ein Jahr lang in einem Lager mit einem palästinensischen Ausweis verstecken. Das erklärt, warum das syrische Regime in den ersten fünf Jahren der Revolution darauf beharrt hat, palästinensische Flüchtlingslager systematisch zu zerstören – weil sie als sichere Orte für die radikale Linke und die Opposition genutzt werden hätten können.

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Wir machen keinen Unterschied zwischen unserem Kampf in Syrien und dem der Palästinenser_innen oder der Kurd_innen. Wir sehen sie als Teil von Syrien, aber wir unterstützen gleichzeitig ihr Recht auf nationale Selbstbestimmung.

 

Ghayath Naisse ist führendes Mitglied der „Revolutionären Linksströmung“ in Syrien und Mitbegründer des „Komitees für die Verteidigung der demokratischen Freiheiten und der Menschenrechte in Syrien“, das seit 1989 besteht.
Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.